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Wie deutsche Großstädte gegen steigende Infektionszahlen kämpfen

Kanzleramtschef Braun warnt vor einer zweiten Welle. Politik und Wirtschaft sind uneins über das beste Rezept – die wichtigsten Fragen und Antworten.

Zahlreiche Verstöße gegen verschärfte Corona-Regeln in Deutschland. Foto: dpa
Zahlreiche Verstöße gegen verschärfte Corona-Regeln in Deutschland. Foto: dpa

Die Politik zeigt sich besorgt über den sprunghaften Anstieg der Corona-Infektionen in Deutschland – und diskutiert über weitere Gegenmaßnahmen. „Die Vorstellung, wir könnten auf einem hohen Niveau das Infektionsgeschehen kontrollieren, ist falsch“, warnte Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) im „Spiegel“. Wenn nicht sehr schnell und entschieden gehandelt werde, drohe eine zweite Welle. Kommende Woche will Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erneut mit den Ministerpräsidenten beraten.

Wie entwickelt sich das Infektionsgeschehen?

Vor allem in den Großstädten breitet sich das Coronavirus rasant aus. Nach Berlin, Frankfurt, Bremen und Köln ist mittlerweile auch in Stuttgart und Essen der kritische Wert von 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen überschritten.

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Deutschlandweit galt das bis Sonntag für mehr als 30 Kreise. Innerhalb eines Tages haben die Gesundheitsämter laut Robert Koch-Institut (RKI) vom Sonntagmorgen 3483 neue Corona-Infektionen gemeldet.

Von Mittwoch auf Donnerstag war der Wert von 2828 auf 4058 erheblich gestiegen. Am Freitagmorgen meldete das RKI 4516 Neuinfektionen, am Samstagmorgen sogar 4721. An Sonntagen sind die erfassten Fallzahlen erfahrungsgemäß niedriger, auch weil am Wochenende nicht alle Gesundheitsämter Daten an das RKI melden.

Wie gefährlich ist der Anstieg der Fallzahlen?

Der Bonner Virologe Hendrik Streeck hatte in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt davor gewarnt, angesichts steigender Fallzahlen in Panik zu verfallen. „4000 Neuinfektionen pro Tag zurzeit bedeuten nicht mehr das Gleiche, was sie im März und April bedeutet haben“, schrieb er.

Kliniken und Gesundheitsämter seien besser aufgestellt als im Frühjahr, bei vielen Erkrankten sei nur ein milder Verlauf zu beobachten. Streeck schlägt deshalb ein Ampelsystem vor, das neben den Infektionszahlen auch die Anzahl der Tests oder die Zahl der Klinik- oder Intensivpatienten und die Kapazitäten in den Krankenhäusern berücksichtigt.

Laut RKI liegt der Anteil der Verstorbenen unter den seit Ende Juli gemeldeten Covid-19-Fällen kontinuierlich unter ein Prozent damit deutlich unter den Werten im Frühjahr. Auch infizieren sich derzeit mehr Jüngere als zu Beginn der Pandemie, seit Anfang September steigt aber der Anteil der älteren Altersgruppen wieder an.

Die Reaktionen auf Streecks Vorschlag fallen jedoch gemischt aus. Für die gesundheitspolitische Sprecherin der Unionsfraktion, Karin Maag (CDU), ist der Grenzwert von 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner eine gute und richtige Orientierungsmarke. „Ich warne davor, solche Basics weiter zu verkomplizieren, unabhängig davon, ob ein Modell wissenschaftlich die Lage besser abbildet oder eben nicht“, sagte Maag dem Handelsblatt.

Jeder Blick auf freie Intensivbetten, Testkapazitäten oder Ähnliches könnte dazu führen, „dass sich jeder Einzelne weniger verantwortlich fühlt und entsprechend handelt“. SPD-Gesundheitsexpertin Sabine Dittmar nannte den Sprung auf fast 5000 Neuinfektionen „äußerst besorgniserregend“.

Die Neuinfektionen und die regionale Inzidenz seien „wichtige, aussagekräftige Parameter, um entsprechende Maßnahmen ableiten zu können“, sagte Dittmar dem Handelsblatt. Der Wert einer Corona-Ampel dürfe nicht überschätzt werden. So habe beispielsweise Berlin trotz einer Ampel-Lösung einen sprunghaften Anstieg der Infektionszahlen nicht verhindern können.

RKI-Chef Lothar H. Wieler hatte vergangene Woche betont, dass sein Institut neben der Infektionsdynamik weitere Faktoren wie die Schwere der Erkrankung bei Infizierten, neue Behandlungsmöglichkeiten, die Zahl der Intensivbetten und -patienten und die Auslastung der Kliniken und der Gesundheitsämter beobachte und publik mache.

Wie werden die Maßnahmen der Politik bewertet?

Für die Politik ist die Zahl von 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner weiter die entscheidende Richtgröße. Bundeskanzlerin Merkel und die Ministerpräsidenten hatten in der vergangenen Woche Beherbergungsverbote für Reisende beschlossen, die aus Corona-Hotspots kommen, auch wenn sich nicht alle Bundesländer dem angeschlossen haben.

Die Maßnahme ist weiter höchstumstritten: Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, bezeichnete innerdeutsche Reisen in der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ als „Pseudo-Gefahr“. Masseninfektionen gebe es durch traditionelle Großhochzeiten, in Fleisch verarbeitenden Betrieben oder durch unkontrolliertes Feiern. Sperrstunden und Alkoholverbote wie in Berlin seien „mehr als fragwürdig“.

Auch Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) warnte davor, sich „von Alarmismus leiten“ zu lassen. Statt jetzt Sanktionen etwa gegen Maskenverweigerer in den Vordergrund zu stellen, solle man lieber die eigentlichen Ursachen der Hotspots bekämpfen, sagte Haseloff den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

Wie geht es jetzt weiter?

Obwohl in einigen Corona-Hotspots wie Berlin bereits eine nächtliche Sperrstunde und Alkoholverbote in Kraft sind, musste die Polizei am Wochenende in mehreren Städten einschreiten und Feiern und Partys auflösen.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) rief zum Party-Verzicht auf. „Ich erwarte von den Bürgern, dass sie aus Verantwortungsbewusstsein nicht mehr alles machen, was sie noch dürfen“, sagte er der „Bild am Sonntag“. „Man muss gerade keine Party bei sich zu Hause oder in der Gaststätte feiern.“

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) macht sich für ein bundesweit einheitliches Bußgeld von 250 Euro für Maskenverweigerer stark. In seinem Bundesland gilt dieses Strafmaß bereits.

Auch wenn sie die Sehnsucht nach Normalität und Ausgelassenheit verstehe, so sei jetzt die Zeit für größte Konsequenz bei Regelbrüchen, betonte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD): „Die Lage ist ernst. Ernster, als diejenigen glauben, die sich nicht an die Schutzmaßnahmen halten“, sagte sie am Sonntag in Mainz.

Die nordrhein-westfälische Landesregierung beschloss am Sonntag weitere Maßnahmen, nachdem sich auch Köln zum Corona-Hotspot entwickelt hatte. So soll die Teilnehmerzahl bei privaten Feiern auf 50 Personen beschränkt werden. In Hotspot-Städten gelten zudem eingeschränkte Öffnungszeiten für Kneipen.

Die Stadt Stuttgart mobilisiert zur Verfolgung von Kontaktpersonen im Zuge der Corona-Pandemie die ganze Stadtverwaltung. Zudem erbittet sie die Hilfe der Bundeswehr, wie Stefan Ehehalt, Leiter des Stuttgarter Gesundheitsamts, am Sonntag mitteilte. „Die Zahlen steigen auf besorgniserregende Weise an, und zwar so stark, dass das Gesundheitsamt die für die Kontrolle der Pandemie so wichtige Kontaktpersonennachverfolgung nicht mehr gewährleisten kann“, bemerkte Ehehalt.

Was sagt die Wirtschaft?

Der Präsident des Verbandes Deutsches Reisemanagement (VDR), Christoph Carnier, kritisierte das uneinheitliche Vorgehen der Bundesländer zur Corona-Eindämmung. „Regional unterschiedliche Vorschriften für Hygiene, Öffnungen, Ein- und Ausreise sind für die Firmen und die Anbieter nicht oder nur schwer umsetzbar“, sagte Carnier dem Handelsblatt.

Unternehmen und Dienstleister benötigten aber Planungssicherheit. „Hier plädieren wir für einheitliche und transparente Regeln.“ Der VDR befürchtet einen Einbruch bei Geschäftsreisen. Die Zahl der Unternehmen, die Geschäftsreisen innerhalb Deutschlands uneingeschränkt erlaubten, sei auf den tiefsten Stand seit Juli gefallen.

Auch der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) kritisierten die Reiseeinschränkungen und Beherbergungsverbote scharf. Die Unternehmen seien darauf angewiesen, dass Corona-Beschränkungen auch Rücksicht auf die wirtschaftlichen Folgen nähmen, sagte DIHK-Präsident Eric Schweitzer der „Bild“. „Gerade auch im Gastgewerbe können weitere Ausfälle die Existenz von Unternehmen gefährden.“

Dagegen hat der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, die schärferen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie verteidigt. „Nicht neue Restriktionen, sondern Vertrauen und Angst der Menschen werden entscheidend für den wirtschaftlichen Schaden der zweiten Infektionswelle sein“, sagte Fratzscher dem Handelsblatt.

Der Wirtschaft – und spezifisch auch der Reisebranche, der Gastronomie und dem Einzelhandel – werde nicht durch ein Aussetzen von Restriktionen und Einschränkungen geholfen sein, wenn Menschen Angst hätten und ihr Vertrauen in Wirtschaft und Politik verlören.

Deshalb könne das oberste Ziel nicht die Vermeidung von neuen Restriktionen sein, sondern der „Bewusstseinswandel in den Köpfen derer, die das Virus noch immer nicht ausreichend ernst nehmen“, betonte der DIW-Präsident.