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Die deutsche Rechte auf dem Vormarsch - und die Ampel ohne Plan

(Bloomberg) -- Read the story in English.

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Am diesjährigen Tag der Deutschen Einheit zeigte sich Dresden eher gespalten. Polizei in Nahkampfausrüstung musste eine Kundgebung der rechtsextremen AfD auf dem historischen Schlossplatz abschirmen vor Gegendemonstranten, die von schwarz gekleideten Antifas bis zur FDP-Jugendorganisation Junge Liberale reichten.

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Hunderte meist ältere AfD-Anhänger, die bei Bier und Bratwurst flammende Reden hörten auf der einen — Regenbogenfahnen und antirassistische Transparente auf der anderen Seite. “Game over, Krauts”, hieß es auf einem Banner der Antifa. “Euch schieben wir auch ab”, rief einer aus dem AfD-Bereich zurück. Zwar sorgte die Polizei dafür, dass es friedlich blieb, aber die Emotionen waren offenkundig.

Deutschland kämpft mit einer hartnäckigen Konjunkturflaute und einem Anstieg der Zuwanderung und die Deutschen sind so verunsichert und uneins über den Kurs der Nation wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Das Gespenst des Nationalismus ist nun auch nach Deutschland zurückgekehrt, nachdem es sich schon im Rest der Europäischen Union ausgebreitet hat — auch vor dem Hintergrund der russischen Aggression in der Ukraine und den durch den Krieg Israels gegen die Hamas ausgelösten Spannungen.

Dabei ist Dresden eigentlich eine Erfolgsgeschichte der Wiedervereinigung. Das Stadtzentrum im Stil der Neorenaissance wurde sorgfältig restauriert, Sachsen beherbergt einen boomenden Hightech-Cluster, in dem Taiwan Semiconductor Manufacturing eine 10-Milliarden-Euro-Fabrik baut — eine der größten ausländischen Investitionen im Land. Schon davor haben Infineon, GlobalFoundries und Bosch High-Tech-Fabriken im Freistaat errichtet.

Und dennoch floriert gerade hier im Südosten der Republik die AfD. Der Niedergang alter Industrien, die Migrationswellen der letzten Jahren, die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie und zuletzt die Teuerung verstimmen viele Wählern tiefgehend — vor allem der früheren DDR, wo die Narben der Wiedervereinigung bei vielen immer noch spürbar sind.

“It’s not the economy, stupid”, sagte Maximilian Krah, der AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl 2024, am Rande der Kundgebung in Dresden zu Bloomberg. “Es geht fundamental um Identität — wer bist du? Ist dies unser Land?”

Den etablierten Parteien war es in der Nachkriegszeit immer gelungen, das Aufkommen rechtsextremer Parteien im Keim zu ersticken. Allenfalls vorübergehend konnten Gruppen wie die Republikaner, DVU oder NPD regional Erfolge verzeichnen. Mit der AfD gelingt das nicht. Der Versuch scheint zu scheitern, sie als bloßen Angstmacher abzutun und darauf zu warten, dass eine wirtschaftliche Erholung das Vertrauen wiederherstellt. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Frustration tiefer geht.

Die AfD könnte Meinungsumfragen zufolge bei den Landtagswahlen in Sachsen die größte Partei werden. Auch im benachbarten Thüringen und in Brandenburg stehen im nächsten Jahr Wahlen an, bei denen die Partei ihren Einfluss verstärken könnte.

Auch wenn es weiter Mehrheiten jenseits der AfD gibt, wird es zunehmend schwieriger, die Partei bei der Regierungsbildung außen vor zu lassen — auch weil das als Missachtung des Wählerwillens wahrgenommen werden könnte und die gesellschaftliche Spaltung vertieft.

Angetreten während der Staatsschuldenkrise vor einem Jahrzehnt als hauptsächlich Euro-kritische Partei hat sich die AfD programmatisch und personell umfassender nach rechts entwickelt. Die Aufkündigung der Währungsunion steht zwar nach wie vor im Programm, aber stärker im Vordergrund für das politische Profil steht inzwischen wohl eher die Ablehnung der Einwanderung und von Maßnahmen gegen den Klimawandel, sowie die Suche nach größerer Nähe zum Kreml und die Forderung nach einem Ende der wegen des Angriffs Moskaus auf die Ukraine eingeführten Sanktionen.

Der Erfolg der AfD ist dabei nicht mehr nur auf Ostdeutschland beschränkt. Bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen schnitt sie besser ab als alle drei Parteien der in Berlin regierenden Ampelkoalition. “Es ist etwas in Gefahr, was in Deutschland bis vor kurzem noch als selbstverständlich galt”, sagt Oliver Holtemöller, Wirtschaftsprofessor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Es sei nicht mehr klar, “dass die Grundregeln unserer Gesellschaft allgemein akzeptiert sind und auch in Zukunft Bestand haben werden.”

In Sachsen stößt der Zustrom von Migranten und Flüchtlingen nach den Worten von Ministerpräsident Michael Kretschmer an die Grenzen der kommunalen Belastbarkeit. Tausende Kinder könnten mangels Lehrern und Klassenräumen nicht beschult werden, die Menschen würden in Zelten und wohl bald in Turnhallen untergebracht, sagte der CDU-Politiker auf einer Pressekonferenz in Berlin.

“Die Frage, ob wir das gemeinsam lösen wollen, wird sich in den nächsten Wochen entscheiden”, sagte er. “Es ist dringend notwendig.”

In den letzten Wochen versucht Bundeskanzler Olaf Scholz, sich das Thema Zuwanderung wieder mehr zueigen zu machen und spricht nun vermehrt vom Kampf gegen illegale Einwanderung und gegen Schlepper, die Menschen heimlich über die deutschen Grenzen bringen.

Die Ampelkoalition hat einen Gesetzesentwurf auf den Weg gebracht, der die Abschiebung von Menschen ohne Bleiberecht erleichtern soll, und er sucht auch die Einigkeit mit der Union über einen parteiübergreifenden Pakt zur Migrationspolitik. Das Thema wird auf der Tagesordnung stehen, wenn er am Montagnachmittag die Ministerpräsidenten der Bundesländer in Berlin empfängt.

Trotz einzelnen Erfolgen wie der Anhebung des Mindestlohns und der Bewältigung der Energiekrise im vergangenen Jahr erweist sich die selbsternannte “Fortschrittskoalition” aus SPD, Grünen und FDP als ein weiteres Beispiel für die tiefe Spaltung des gesamten Landes. Vor allem zwischen Grünen und FDP kracht es immer wieder in der Migrationsfrage und bei Klimamaßnahmen und die Budgetpolitik.

Ein weiteres Zeichen für die Fragmentierung der politischen Landschaft hat nun Sahra Wagenknecht gesetzt, die nach langem Zaudern nun endgültig ankündigte, sich von der Linken zu trennen und ihre eigene Partei zu gründen. Die vorläufig als Bündnis Sahra Wagenknecht firmierende Gruppe erhielt in einer ersten Umfrage die Unterstützung von 12% der Wähler und könnte etwas schaffen, was die etablierten Parteien nicht vermochten, nämlich unter den Anhängern der AfD zu punkten.

“Die Fragmentierung ist eine große Gefahr”, sagt der Dresdner Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP) und zog Parallelen zur aufgeheizten Atmosphäre der 1920er Jahre, die dem Machtantritt der Nazis vorausging. “Das ist eine reale Gefahr für die Demokratie.”

Während die Investitionen in Dresden und Umgebung bislang nicht dabei helfen, die an die AfD verlorenen Wähler zurückzugewinnen, sorgen sich die angeworbenen Unternehmen darum, dass die wachsende nationalistische Stimmung ihre Bemühungen unterminiert, ausländische Fachkräfte zu gewinnen.

“Flüchtlinge, die um ihr Leben fliehen, werden vielleicht nicht durch ihre Rhetorik abgeschreckt, aber hochqualifizierte Mitarbeiter, die leicht woanders hingehen könnten, schon”, sagt Nils Aldag, Geschäftsführer der Sunfire GmbH, einem Hersteller von Anlagen, die erneuerbare Energien zur Erzeugung von Wasserstoff aus Wasser nutzen.

Als die DDR 1990 der Bundesrepublik beitrat, versprach Bundeskanzler Helmut Kohl bekanntlich, “blühende Landschaften” in den Osten zu bringen. Stattdessen zeigen Wahlen wie die in Bayern und Hessen eher, dass sich die lange schwelende Frustration im Osten weiter gen Westen ausbreitet, da die Ungleichheit zunimmt und die einst stabile Arbeiterklasse unter Druck gerät.

Nach Jahren der Stabilität steht Deutschland vor strukturellen Problemen wie einer unzureichenden Verkehrs- und Dateninfrastruktur, einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, und dem dauerhaften Ausfall der einst wichtigsten Gasquelle Russland, so die stellvertretende Wirtschaftsministerin Franziska Brantner. “Die Lage ist ernst”, sagte sie auf einer Konferenz der deutschen Arbeitgeber.

Im prunkvollen Dresdner Schauspielhaus sind die damit einhergehenden politischen Turbulenzen das Thema einer neuen Inszenierung von Bertolt Brechts berühmter Dreigroschenoper. Regisseur Volker Lösch deutet die Handlung zu einem Machtkampf zwischen rechten Widersachern um, bei dem die traditionelle Politik keine Rolle mehr spielt. Ziel der Inszenierung, die noch bis Ende März läuft, sei es, die Risiken der nationalistischen Tendenz in Deutschland aufzuzeigen, sagte er in einem Interview.

“Wenn Menschen jahrelang unter dem sozialen Abstieg und dem Gefühl, zurückgelassen zu werden, leiden, entsteht eine gefährliche Situation”, sagte er. “Sie sind bereit, den Faschismus achselzuckend zu akzeptieren, weil das derzeitige System für sie nicht funktioniert.”

Überschrift des Artikels im Original:The Far Right Is on the Rise in Germany and Scholz Is at a Loss

--Mit Hilfe von Petra Sorge, Iain Rogers und Zoe Schneeweiss.

©2023 Bloomberg L.P.