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Deutsche Industrie schlägt den Brexit-Alarm

Die deutsche Wirtschaft rechnet wegen fehlender Fortschritte bei den Brexit-Verhandlungen mit dem Schlimmsten: Ende März 2019 droht ein Chaos mit schweren ökonomischen Folgen, fürchtet der Industrieverband BDI.

Fast anderthalb Jahre nach dem Brexit-Votum kann die deutsche Wirtschaft keinen Fortschritt in den Austrittsverhandlungen erkennen. „Deutsche Unternehmen mit einem Standbein in Großbritannien und Nordirland müssen nun Vorsorge für den Ernstfall eines sehr harten Ausscheidens treffen“, sagte Joachim Lang, Hauptgeschäftsführer des Industrieverbandes BDI. „Alles andere wäre naiv“, sagte er am Donnerstag in Berlin.

Geführt vom BDI haben die Spitzenverbände der Wirtschaft eine Taskforce gebildet, die in zehn Arbeitsgruppen verschiedene Brexit-Szenarien durchspielt. Wobei die Expertenrunden, die sich zum Beispiel mit Steuerfragen, Marktzugang, Zöllen, Energie und Klima, Verkehr und Logistik befassen, sehr schnell beim Worst-Case-Szenario landen: Dem unkontrollierten Ausscheiden der Briten aus dem EU-Binnenmarkt.

„Die britische Regierung „redet viel, hat aber kein klares Konzept erkennen lassen“, sagte Lang. Bereits jetzt falle es vielen deutschen Unternehmen schwer, Fachkräfte aus Deutschland oder anderen EU-Staaten zu bewegen, für ein paar Jahre an den britischen Standort zu wechseln. Denn diese Leute fragten sich, wie ihr Status als EU-Bürger ab März 2019 sein werde – und entschieden sich dann lieber für einen Posten in einem anderen der 27 EU-Länder. Auf dem britischen Arbeitsmarkt wiederum können diese Unternehmen allerdings nicht die benötigten Spezialisten finden.

Es geht um ein großes Problem: Das Handelsvolumen zwischen Deutschland und Großbritannien beträgt jährlich 170 Milliarden Euro, 400.000 Arbeitsplätze stellen deutsche Firmen auf der Insel. Die Investitionen dort seien bereits jetzt rückläufig. Sieben Prozent der deutschen Exporte gehen auf die Insel – allerdings 51 Prozent in die übrigen EU-Länder. Für die deutsche Autoindustrie ist das Königreich der wichtigste europäische Exportmarkt. Bei 51 zu 7 sei aber klar: „Die deutsche Wirtschaft steht ohne Wenn und Aber hinter der Verhandlungsstrategie der EU“, sagte Lang.

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„Die Offerten der britischen Regierung zu den Bürgerrechten halten wir für unzureichend. Die Vorschläge zur irisch-nordirischen Grenze sind nicht praktikabel. Und insbesondere die Finanzfrage bleibt von London bisher nahezu unbeachtet“, kritisierte Lang die Positionen der Briten bei den Verhandlungen. Erst wenn diese Themen geklärt sind, will die EU über eine Übergangsphase und ein Handelsabkommen reden. Die bisherigen Vorschläge der Briten, etwa zur künftigen Zollabwicklung, hält der BDI für nicht praktikabel. Sie seien mit „unverhältnismäßig hohem bürokratischen Aufwand verbunden“, sagtet er.

Wenn bis Dezember Phase 1 nicht erfolgreich abgeschlossen wird, hält die Wirtschaft es kaum noch für vermeidbar, dass die Unternehmen ihrerseits für sich Konsequenzen ziehen, um nicht in das Brexit-Chaos 2019 zu geraten. Dass die EU-Regierungschefs bereits auf ihrem Gipfel am 19. Oktober grünes Licht für Phase 2 geben, erwartet der BDI nicht mehr – und hofft auf den Dezember-Gipfel.

Wenn auch diese Frist verstreicht, dann wird 2018 wohl das Jahr werden, in dem deutsche Firmen, die in Großbritannien für den Weltmarkt produzieren, ihre Betriebsstätten in eines der anderen EU-Länder verlagern. Jene Firmen aus Deutschland, die im Vereinigten Königreich für den britischen Markt produzieren, werden wiederum versuchen, britische Zulieferer zu finden, um sich autark zu machen. Dabei erwarten diese Firmen aber offenbar Schwierigkeiten, weil auch die britische Wirtschaft vielfältig international verflochten ist – und sich ähnlich verhalten dürfte.

„Über vielen Aktivitäten schwebt nicht nur das Damoklesschwert der Unsicherheit, sie sind vielmehr der Gefahr massiver Entwertungen ausgesetzt“, fürchtet Lang. Auf allen Ebenen versuche der BDI deshalb, gemeinsam mit dem britischen und dem EU-Industrieverband der Regierung von Theresa May klar zu machen, wieso ein schneller, harter Brexit nur Verlierer kennen werde, und deshalb zu vermeiden sei


Sieben Jahre Übergangsphase?

Denn die Briten dürfen, solange sie EU-Mitglied sind, keinerlei Handelsabkommen schließen – auch nicht mit Staaten außerhalb der EU. Sie würden beim Austritt zunächst kein einziges internationalen Handelsabkommen haben. Gegenüber den EU-Partnern würden bei Zöllen und Marktzugang vermutlich die WTO-Regeln gelten. Die engen Partner wären von jetzt auf gleich regulierungstechnisch so weit weg wie Australien oder die Golf-Staaten. Es wäre unklar, welche Lastwagen überhaupt noch zwischen dem Kontinent und der Insel verkehren und wer diese fahren dürfte.

Sogar im Datenverkehr sei unklar, ob personenbezogene Daten auf Servern in London lagern dürften: Für Banken und andere Finanzdienstleister wäre eine Unsicherheit darüber verheerend. Und zum Aspekt „naiv“ gehört die Idee vieler Brexiteers, ganz schnell neue und bessere Handelsabkommen aushandeln zu können. Das schnellste je verhandelte Abkommen der EU sei jenes mit Südkorea gewesen, über das nach den Blaupausen anderer EU-Handelsabkommen dreieinhalb Jahre verhandelt worden sei. Einen solch kurzen Zeitraum hält Lang nur für realistisch, wenn Großbritannien bereit wäre, das Ceta-Ankommen zwischen Kanada und der EU als Blaupause zu akzeptieren. Nur: Bisher wollen die Briten auch das nicht.

Das einzig vernünftige Vorgehen aus Sicht der Wirtschaft wäre es, wenn die britische Regierung bis Ende des Jahres mit der EU eine Einigung über eine auch weiter geltende Freizügigkeit für EU-Bürger trifft, die Grenzfrage zu Nordirland klärt und selbstverständlich bis zum Ende einer Übergangsfrist auch weiter in den EU-Haushalt einzahlt, wie es etwa das Nicht-EU-Land Norwegen auch tut. Das Binnenmarktrecht müsse weitergelten, bis der Anschluss-Handelsvertrag EU-Großbritannien nicht nur ausverhandelt, sondern in Kraft getreten sein werde. Realistisch dafür ist aus Sicht der Wirtschaft eher eine Übergangsphase von sieben als von zwei Jahren, wie May sie in ihrer Rede in Florenz als britischen Wunsch angekündigt hatte

In London hat man inzwischen auch gemerkt, dass der Schlingerkurs der britischen Regierung bei den Brexit-Verhandlungen zu Verwirrung und Unverständnis führt. „Wir spüren, dass es in der EU ein Vertrauensdefizit gibt“, heißt es in Regierungskreisen. Die Briten beharren aber darauf, dass die Europa-Rede von Premierministerin Theresa May in Florenz nach wie vor die Verhandlungslinie bestimmt. „Wir wollen einen Deal mit der EU. Das ist unser Ziel“, heißt es in der britischen Hauptstadt. Niemand steuere auf ein Scheitern der Verhandlungen zu.

Auch die umstrittenen „roten Linien“, die der britische Außenministers Boris Johnson kurz vor dem Parteitag der britischen Konservativen gezogen hatte, werden in London nicht als Affront gegenüber May gesehen. „Viele hatten doch erwartet , dass die Premierministerin auf dem Parteitag für einen harten Brexit werben würde, um ihre Kritiker zu besänftigen. Dazu ist es aber nicht gekommen“, betonen Diplomaten. Johnson hatte unter anderem betont, dass die Übergangsperiode zum endgültigen Brexit „keine Sekunde“ länger als zwei Jahre dauern dürfe. Außerdem hatte er weitere Zahlungen der Briten in den EU-Haushalt nach der Übergangsphase abgelehnt. May ist in beiden Punkten kompromissbereiter.

In London hofft man nach wie vor darauf, dass die EU auf ihrem Gipfel Ende Oktober am 19. Oktober „ausreichende Fortschritte“ in den Brexit-Verhandlungen feststellen wird, damit man dann über die künftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU reden kann. Es sei aber zum Beispiel enorm schwierig, eine umfassende Lösung in der Nordirland-Frage zu finden, ohne über die künftigen Handelsbeziehungen zu sprechen.

Britische Diplomaten widersprechen jedoch dem Eindruck, dass es bei den Verhandlungen kaum Fortschritte gebe. So sei man sich zum Beispiel bei den Rechten der EU-Bürger in Großbritannien und der in Europa lebenden Briten deutlich näher gekommen. Problematisch sei es nach wie vor, wenn Brüssel auf eine feste Summe für eine Brexit-Rechnung bestehe, bevor man über die zukünftigen Beziehungen rede. Angesichts dieser Hürden machen die Briten machen keinen Hehl daraus, dass auch sie sich auf den „Worst Case“, also das Scheitern der Austrittsverhandlungen vorbereiten.

KONTEXT

Das Programm der britischen Regierung zum Brexit

27 geplante Entwürfe

Die britische Regierung stellte im Juni ihr Programm für die kommenden zwei Jahre vor. Acht der 27 geplanten Gesetze betreffen den EU-Austritt. Die Entwürfe im Einzelnen: Quelle: dpa

Aufhebung des EU-Rechts

Das Gesetz soll EU-Vorschriften in britisches Recht übertragen. Der Trick: Etwa 20 000 EU-Vorschriften werden in einem Schwung in nationales Recht überführt. Nach und nach können die Gesetze dann geprüft und gegebenenfalls vom Parlament verworfen werden. Die Vorschriften betreffen quasi alle Lebensbereiche von Arbeitszeiten bis hin zu Energiesparmaßnahmen.

Zölle und Steuern

Großbritannien soll nach dem Brexit ein unabhängiges Zoll- und Steuerwesen bekommen, das für zukünftige Handelsverträge angepasst werden kann. Das Gesetz soll es dem Land ermöglichen, die Einfuhr und Ausfuhr von Waren zu kontrollieren, eigene Zölle festzusetzen sowie Mehrwertsteuern und Luxussteuern zu ändern. Um Kontinuität für Unternehmen zu gewährleisten, soll das neue Gesetz aber in weiten Teilen auf bestehendem EU-Recht basieren.

Handel

Das Gesetz soll es Großbritannien ermöglichen, nach dem Brexit unabhängig Handel treiben zu können. Es soll den Status das Landes als "führende Handelsmacht" zementieren. Britische Unternehmen sollen vor unfairen Handelspraktiken geschützt werden.

Einwanderung

Großbritannien soll die Einwanderung aus EU-Staaten selbst kontrollieren. Damit kann es die Zahl der EU-Einwanderer reduzieren, gleichzeitig aber weiterhin "die Klügsten und Besten" aufnehmen. Dafür wird das EU-Recht zur Freizügigkeit aufgehoben. Ziel ist eine "faire und nachhaltige" Einwanderungspolitik.

Fischerei

Großbritannien regelt den Zugang zu seinen Hoheitsgewässern selbst und kontrolliert damit seine eigene Fischereipolitik, einschließlich Fangquoten. Damit sollen Fischbestände geschützt und erhöht und die Zukunft britischer Fischer gesichert werden.

Landwirtschaft

Großbritannien schafft ein neues System zur Unterstützung der britischen Landwirtschaft und des Naturschutzes. Es soll Stabilität für britische Landwirte sichern und zu einer höheren Produktion und mehr Exporten beitragen. Die Landwirtschaft soll damit wettbewerbsfähiger werden.

Atomare Sicherheit

Mit der EU verlässt Großbritannien auch die europäische Atomgemeinschaft Euratom. Ihre Aufgaben sollen von der nationalen Atomregulierungsbehörde (Office for Nuclear Regulation) übernommen werden. Das Gesetz soll die Rolle Großbritanniens als verantwortungsvolle Atommacht bestätigen und die Atomenergie zur nationalen Stromversorgung sichern.

Internationale Sanktionen

Entscheidungen über Nicht-UN-Sanktionen werden wieder von Großbritannien selbst getroffen. Das Gesetz soll die Rolle Großbritanniens als permanentes Mitglied des UN-Sicherheitsrats und "Weltmacht" stärken. Das Land soll internationale Sanktionen auf unilateraler oder multilateraler Ebene verhängen und aufheben können, um Bedrohungen durch Terrorismus, Konflikte oder die Weitergabe von Atomwaffen zu bekämpfen.