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Frankreich glaubt nicht mehr an die Atomlüge

Mit gezielter Desinformation machte die französische Regierung vor 30 Jahren ihrer Bevölkerung weis, das Atomunglück von Tschernobyl sei ungefährlich. Heute hat Reaktorsicherheit höchste Priorität. Eine Weltgeschichte.

Vorurteile verschwinden nur ganz langsam, gerade auch zwischen Deutschen und Franzosen. Für viele in Deutschland ist der Nachbar im Westen noch immer ein Land, das sich ohne jede Kritik der Atomenergie verschrieben hat. Das Gedenken an die Katastrophe von Tschernobyl vor 30 Jahren zeigt aber, wie sehr sich das Verhältnis zur Kernenergie in verändert hat.

Sicher hat man vergangene Woche die Fertigstellung der neuen Schutzhülle für den havarierten Reaktor durch ein französisches Konsortium gefeiert. Die großartige Ingenieursleistung hat das auch verdient: Eine Hülle – größer als das Stade de France in Paris und höher als die Freiheitsstatue in New York – einfach über den brüchigen Sarkophag des Pannenreaktors zu schieben, das galt lange als Ding der Unmöglichkeit.

Doch mindestens genauso intensiv hat die Franzosen beschäftigt, wie sie selber vor 30 Jahren über die Katastrophe informiert oder besser: desinformiert wurden. Mittlerweile spricht man offen von einer „Staatslüge“, wenn es um die manipulierten Nachrichten von 1986 geht. Der Kontrast zum heutigen Umgang mit der Kernkraft zeigt, wie stark sich Frankeich weiterentwickelt hat.

Zum Zeitpunkt der Atomkatstrophe in der war der Sozialist François Mitterrand Staatspräsident, die französische Regierung stellten aber die Konservativen unter Jacques Chirac (erste „Kohabitation“). Links wie rechts vereinte das Ziel, den Glauben der Franzosen an die Sicherheit der Nuklearindustrie zu erhalten und jede gesundheitliche Bedrohung als Erfindung böswilliger Grüner zu diffamieren. Der Schutz der eigenen Bevölkerung trat zurück hinter den Schutz der eigenen Reaktoren.

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Als erstes wurde ein gewisser Professor Pelletier ins Fernsehen geschickt, der sinnigerweise die Strahlenschutzbehörde leitete. Er behauptete, die von Tschernobyl ausgehende radioaktive Wolke sei ungefährlich. „Schlimmstenfalls wird es im Kraftwerk selber einige Opfer geben“, fabulierte der Professor.

Da in anderen europäischen Ländern, vor allem in Skandinavien und Deutschland, aber offen über die Gefahr durch radioaktiven Niederschlag berichtet wurde, vertraute die Regierung nicht allein auf den beschönigenden Professor. Sie optierte für eine Rundum-Desinformation der eigenen Bevölkerung, bis hin zur Meteorologie. Als die Tschernobyl-Wolke bereits über Frankreich zog und die Strahlenmessgeräte in den eigenen Kernkraftwerken anschlugen, zwang die Regierung dem staatlichen Fernsehen noch eine Lügengeschichte auf: An der französischen Grenze werde die Wolke gestoppt.

Die Administration erfand ein Hochdruckgebiet aus dem Westen, das „eine wirksame Barriere gegen die Luftmassen aus dem Osten darstellt“, wie die damalige Sprecherin pflichtgemäß vortrug. Alles, was aus Richtung der Ukraine komme, werde an der französischen Grenze abprallen. Damit es auch der Letzte verstand, pflanzte sie ein dickes rotes „Stop!“-Schild auf die Wetterkarte.

Damals glaubten die Franzosen die Staatslüge. Vielleicht trägt auch die Erinnerung an die damalige Entmündigung dazu bei, dass die heutigen Verantwortlichen ihre Aufgabe ganz anders wahrnehmen. Die Atomsicherheitsbehörde ASN hat wegen Zweifeln an der Belastbarkeit von Dampferzeugern den staatlichen Versorger EDF gezwungen, 13 Reaktoren zeitweilig stillzulegen.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass dieser harte Eingriff genau mit dem 30. Jahrestag der Katastrophe in Tschernobyl und der folgenden Staatslüge im Interesse der Atomindustrie zusammenfällt. Er belegt, wie sehr sich mittlerweile das Verhältnis der Franzosen zu den Risiken der Atomkraft verändert hat: Der Nuklearsektor kann nicht mehr schalten und walten, wie er will.

KONTEXT

Umstrittene Atomanlagen an Deutschlands Grenzen

Tihange in Belgien

Der Standort bei Lüttich ist rund 70 Kilometer von Aachen in Nordrhein-Westfalen entfernt. Block 2 war dort im März 2014 wegen Sicherheitsbedenken abgeschaltet worden und trotz Haarrissen im Dezember 2015 wieder ans Netz gegangen. Das Land Nordrhein-Westfalen und die Städteregion Aachen reichten im Februar 2016 gegen die Wiederaufnahme des Betriebs Klage am höchsten belgischen Verwaltungsgericht ein.

Cattenom in Frankreich

Das 1986 ans Netz gegangene Kernkraftwerk an der Mosel liegt am Dreiländereck Frankreich-Deutschland-Luxemburg. Luxemburg, das Saarland und Rheinland-Pfalz fordern seit langem die Stilllegung des Kraftwerks, in dem es schon Hunderte Störfälle gab. Frankreich lehnt das ab.

Fessenheim in Frankreich

Das älteste Atomkraftwerk des Landes liegt direkt am Rhein an der Grenze zu Baden-Württemberg. Beim Stresstest für Atomanlagen 2012 sahen Fachleute unter anderem Mängel bei der Prüfung von Erdbeben- und Flutgefahren. Ein Gutachten stufte Fessenheim als "sicherheitstechnisch unzureichende Anlage" ein. Das Atomkraftwerk soll bis Ende 2016 stillgelegt werden.

Beznau in der Schweiz

Ein Gutachten für das Stuttgarter Umweltministerium machte massive Sicherheitsmängel an dem Akw aus. Der Meiler steht direkt an der deutsch-schweizerischen Grenze bei Waldshut. Beznau ist seit 1964 am Netz und damit das älteste im Betrieb befindliche Atomkraftwerk der Welt.

Temelin in Tschechien

Der Meiler sowjetischen Bautyps ist 60 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Kritiker vor allem in Österreich und Deutschland sehen schwere Sicherheitsmängel bei der Anlage. Im Februar 2016 kritisierte auch die Leiterin der Atomaufsichtsbehörde in Prag die Sicherheitsvorkehrungen der Betreiberfirma für Temelin.