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Wer ein AKW zu verschrotten hat, ruft immer noch die Russen an

(Bloomberg) -- Einem Kernkraftwerk das Herz herauszuschneiden ist ein chirurgischer Eingriff, den nur wenige Spezialisten beherrschen.

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Der Prozess beginnt damit, dass Roboter mit Plasmabrennern in ein leeres, von dicken Betonwänden umgebenes Becken geschickt werden. Dort gehen sie auf einen 600 Tonnen schweren Stahlbehälter los, der sich über die Jahrzehnte mit der Radioaktivität gespaltener Atome vollgesogen hat. Die ferngesteuerten Maschinen schneiden den Reaktordruckbehälter erst in Scheiben wie Ananasringe und diese dann in ungefähr meterlange Stücke. Die transportfähigen Häppchen werden dann in sichere Endlager geschafft, wo sie bis ans Ende der Zeiten abstrahlen können.

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Die Operation kann einschließlich Planung Jahre dauern, und ihre Rechnung sich auf über eine Milliarde Euro aufsummieren. Hinter den Kulissen wachen zahllose Nuklearingenieure, Strahlenschutzexperten und staatliche Kontrolleure über den Vorgang. Das erforderliche Fachwissen ist so komplex, die Fehlertoleranz so gering, dass “nur eine Handvoll Profis” im Geschäft mit dem Abwracken von Atomkraftwerken unterwegs sind, sagt Michael Bächler von Uniper, der gerade den Rückbau des schwedischen AKWs Barsebäck nördlich von Malmö überwacht.

Zu den ältesten und erfahrensten Anbietern gehört die deutsche Nukem Technologies Engineering Services GmbH, die seit Jahrzehnten ihre speziellen Dienste in Asien, Afrika und Europa anbietet. Nukem-Ingenieure halfen in Tschernobyl und Fukushima, die Strahlung der zerstörten Reaktoren einzudämmen. Sie halfen bei der Säuberung einer Kernbrennstofffabrik in Belgien. In Frankreich entwickelte das Unternehmen Verfahren zur Behandlung von Abfällen aus dem Internationalen Thermonuklearen Versuchsreaktor.

Da sich die Aufräumarbeiten hinter ausgedienten Kernkraftwerken nach Schätzung von Marktexperten in den nächsten Jahren zu einem rund 115 Milliarden Euro schweren Markt entwickeln werden, sollte Nukem eigentlich florieren.

Es gibt nur ein Problem: Das Unternehmen gehört Rosatom, dem vom Kreml kontrollierten russischen Atomenergiekonzern.

Und das ist ein Dilemma, speziell für Deutschland. Denn offiziell drängt Berlin in der Europäischen Union darauf, Rosatom keinen Kernbrennstoff mehr abzunehmen — für den das frisch AKW-freie Deutschland freilich auch weniger Verwendung hätte als andere. Bei den Diensten der Nukem sieht das freilich anders aus.

Nukem ist nur ein kleiner Nischenanbieter im globalen Imperium von Rosatom. Doch das Unternehmen aus dem östlich von Hanau im bayrischen Spessart gelegenen Alzenau illustriert die Bruchlinien der heillos fragmentierten Kernenergie-Politik der EU. Während Russland in allen Bereichen der industriellen Kernenergie auf Weltniveau mitmischt, sind die EU-Mitgliedsländer wegen der völlig unterschiedlichen nationalen Ansätze auf externe Anbieter angewiesen, um Lücken in der Produktion und bei Dienstleistungen zu schließen. Experten schätzen, dass es mindestens vier oder fünf Jahre dauern würde, bis die EU mit der Brennstoffproduktion von Rosatom mithalten könnte. Noch länger würde es dauern, die Reichweite und das Dienstleistungsangebot von Rosatom zu erreichen.

Der Druck, Rosatom zu sanktionieren, hat zugenommen, seit die russischen Streitkräfte Europas größtes Kernkraftwerk in der Nähe der ukrainischen Stadt Saporischschja besetzt und Rosatom-Ingenieure zu dessen Betrieb eingesetzt haben. Doch mehr als ein Jahr später ist es immer noch die Sache jedes einzelnen Unternehmens, ob sie mit den Russen im Geschäft bleiben. Und viele machen einfach weiter: Rosatoms Exporte stiegen seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine um mehr als 20%.

Während Deutschland russische Lager- und Raffinerieanlagen nach dem Kriegsbeginn einfach in Besitz nehmen konnte, hat Nukem keine fixe Infrastruktur in diesem Ausmaß. Sollten Sanktionen verhängt werden, könnte Rosatom den Betrieb einfach schließen oder in ein weniger feindseliges Land verlegen.

Dadurch befindet sich Nukem in einer seltsamen Schwebe, da Kunden, die an seinem Fachwissens interessiert sind, nun selbst entscheiden müssen, ob sie mit einem vom Kreml kontrollierten Unternehmen zusammenarbeiten wollen. Nukems Kompetenz ist besonders schwer zu ersetzen, da seine 120 zumeist deutschen Ingenieure in der gesamten nuklearen Lieferkette arbeiten können. Das ist ein großer Vorteil angesichts der Tatsache, dass die nachwachsenden jungen Nuklearingenieure eher für den Bau neuer Anlagen als für den Abriss bestehender ausgebildet sind. Die Internationale Atomenergie-Organisation in Wien hat bereits vor einem akuten Mangel an Stilllegungs-Spezialisten gewarnt.

“In Europa”, so Mark Hibbs, Analyst bei der Carnegie Endowment for International Peace, der das Unternehmen seit mehr als drei Jahrzehnten verfolgt, “verfügt Nukem über einen großen Pool an Know-how”.

Auch ohne Sanktionen haben traditionelle Abnehmer wie Litauen und Finnland die Zusammenarbeit mit Nukem bzw. Rosatom eingestellt. Andere, darunter die Tschechische Republik, die Slowakei und Bulgarien, wenden sich von russischen Lieferanten ab. Seit dem Einmarsch der Russen sei der Geschäftsalltag schwieriger geworden, so Nukem-Chef Thomas Seipolt. Geldtransfers dauern länger, Genehmigungen für den grenzüberschreitenden Transport von Technologien ebenso. Einige Kunden zögern mit der Auftragsvergabe.

“Der Eigentümer Rosatom versucht, Nukem bis etwa Mitte des Jahres an einen strategischen Investor zu verkaufen”, um die Schwierigkeiten für den Betrieb zu lösen, so Seipolt. “Wir sind bereits mit interessierten Parteien im Gespräch.” Auch ein Verkauf dürfte sich allerdings angesichts der Finanzsanktionen gegen Russland nicht einfach gestalten.

Andernfalls könnte die Zukunft von Nukem außerhalb Europas liegen. Während Sanktionen gegen Rosatom und Nukem die unmittelbare Versorgung mit Brennstoffen und Dienstleistungen innerhalb des EU-Blocks unterbinden könnten, wären sie auf den größten Wachstumsmärkten des Unternehmens schwieriger durchzusetzen. Rosatom baut bereits neue Kernkraftwerke in Bangladesch, China, Ägypten und der Türkei, und ein weiteres Dutzend Lieferverträge wird derzeit ausgehandelt. Diese Verträge können Geldflüsse und politischen Einfluss für die kommenden Jahrzehnte sichern.

Zumindest im Moment findet Nukem neue Projekte in der Ferne. Im Kernkraftwerk Xudabao nordöstlich von Peking entwerfen die Nukem-Spezialisten derzeit ein Abfallbehandlungszentrum für die beiden neuen Rosatom-Reaktoren, die bis 2028 in Betrieb gehen sollen.

“Wir haben bereits Verträge unterzeichnet”, teilte Nukem im April mit. Nächstes Jahr wird die deutsche Rosatom-Tochter mit der Lieferung von Komponenten nach China beginnen.

Überschrift des Artikels im Original:The Russian Nuclear Company The West Can’t Live Without

©2023 Bloomberg L.P.