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„Corona hätten wir überlebt, aber der Brexit gibt uns den Rest“ – Großbritannien nach dem EU-Austritt

Lange Wartezeiten, üppiger Papierkram, explodierende Kosten – kleine Unternehmen in Großbritannien kämpfen mit den Brexit-Folgen. Einige bauen sich ein zweites Standbein auf – in der EU.

Nach einem ruhigen Jahresbeginn kehrt der Frachtverkehr auf dem Kanal zu einem normalen Niveau zurück. Foto: dpa
Nach einem ruhigen Jahresbeginn kehrt der Frachtverkehr auf dem Kanal zu einem normalen Niveau zurück. Foto: dpa

Der Brexit hat Ruth Campbell die Geschäftsgrundlage entzogen. Seit 15 Jahren vermittelt sie Au-pairs aus der EU nach Schottland. Doch mit dem Ende der Freizügigkeit am Neujahrstag verschwand auch der rechtliche Rahmen für ihre Agentur. „Es gibt keine Visa für Au-pairs“, sagt die 63-jährige Schottin aus Stirling. „Corona hätten wir überlebt, aber der Brexit gibt uns den Rest.“

Sie hat Briefe an Abgeordnete und die Regierung geschrieben, doch die Antworten waren ernüchternd. Statt junge Frauen aus Europa einzufliegen, sollten Familien ihre Kinderbetreuung mit inländischen Kräften regeln, wurde ihr mitgeteilt. Es gebe ja genug arbeitslose Schulabgänger in Großbritannien.

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Nun sind Au-pair-Vermittlungen nur eine winzige Nische, ihr Verschwinden wird sich in den nationalen Wirtschaftsdaten kaum niederschlagen. Doch wie Solounternehmerin Campbell kämpfen unzählige kleine Unternehmen im Königreich um ihre Zukunft. Geschäftsmodelle, die jahrelang funktioniert haben, sind plötzlich untragbar geworden.

Das ist die Brexit-Wirklichkeit einen Monat nach der Trennung. Noch zu Beginn des Jahres, als das vorhergesagte Chaos an den Grenzen weitgehend ausblieb, befand die britische Regierung: alles halb so schlimm. Doch Tag für Tag kommt nun das ganze Ausmaß der Brexit-Krise ans Licht.

Der Ausstieg des Landes aus der EU bedeutet für britische Firmen einen radikalen Bruch. Sie müssen sich neu aufstellen – oder das Geschäft über den Ärmelkanal ganz aufgeben. Die vielen kleinen Einbußen summieren sich zu einem volkswirtschaftlichen Schaden, der das Land laut der Bank of England langfristig vier Prozentpunkte Wachstum kosten wird.

52 Seiten Formulare, auf Englisch und Französisch

Auch Charlie Samways bangt um das Unternehmen seiner Familie. Vater, Mutter und Freundin arbeiten bei Samways Fish in der Grafschaft Dorset. Sie kaufen bei den Fischern in West Bay und exportieren die Ware nach Frankreich. „Die neuen Zollkontrollen zerstören das Geschäftsmodell“, sagt der 25-Jährige. Für jede Lkw-Ladung müsse man 52 Seiten Formulare ausfüllen, und zwar teils doppelt auf Englisch und Französisch. Die würden dann penibel von unerfahrenen Zöllnern kontrolliert.

Die Hürden für den Transport von Lebensmitteln, Pflanzen und lebenden Tieren sind besonders hoch, weil neben Zollerklärungen auch Gesundheitszertifikate nötig sind. Weil es zu wenig Zollagenten gibt, haben sich die Gebühren für ihre Dienste auf bis zu 500 Euro pro Fuhre verfünffacht.

Die Verwaltungskosten seien gestiegen, und die Ware komme mitunter einen ganzen Tag später beim Kunden an, sagt Samways. Diese Woche habe eine Fuhre 14 Stunden im Hafen Dünkirchen gestanden, bevor sie nach Frankreich eingeführt werden durfte. „Wir können nicht einen schlechteren Service bieten und dann auch noch mehr Geld vom Kunden verlangen.“

Nach dem ersten Quartal will die Familie eine erste Brexit-Bilanz ziehen und entscheiden, ob es sinnvoll ist weiterzumachen. Samways hofft, dass die britische Regierung und die EU sich darauf einigen, die Kontrollen zu beschleunigen. Leider sei das Vertrauen zwischen beiden nicht sehr groß.

Leben für Verbraucher wird teurer

Ein Viertel der sechs Millionen kleinen Unternehmen im Königreich exportieren in die EU. Viele haben ihren Onlineverkauf vorerst eingestellt, weil sie die zusätzlichen Kosten weder selbst übernehmen noch auf ihre Kunden abwälzen wollen. Darunter ist die Cheshire Cheese Company aus Macclesfield. Allein die Gesundheitszertifikate sind regelmäßig teurer als der Wert des verkauften Käses. Die Firma überlegt nun, ein Vertriebszentrum in der EU zu errichten, um die Binnenmarkthürden zu umgehen.

Auch Phil Ward von der Designfirma Eskimo prüft, eine neue Produktionsstätte in Polen zu öffnen. „Wenn man sich genauer damit beschäftigt, merkt man erst, wie viel billiger das ist“, sagt er. Die Betriebskosten betrügen ein Zwanzigstel dessen, was er in Birmingham zahlt.

Die 20 Jahre alte Firma mit zwölf Mitarbeitern stellt Designer-Heizkörper her. Der größte Markt ist die EU, und die Konkurrenz sitzt in Italien. Deshalb ist ein Rückzug aus dem EU-Geschäft keine Option.

Um einen zweiten Standort komme er deshalb wohl nicht herum, sagt Ward. Wenn die Expansion künftig in Polen stattfinde, werde man erst mal keine neuen britischen Arbeitsplätze schaffen. „Das sind die wahren Kosten des Brexits.“

In diesem Jahr hat Ward noch keinen einzigen Heizkörper exportiert, weil sein alter Spediteur keine Sammelladungen mehr annimmt. Nun hat er einen neuen ab Februar verpflichtet – zu einem 85 Prozent höheren Preis. Dazu kommen die zusätzlichen Verwaltungskosten, die er für die Kunden übernimmt. Die Gewinnmarge habe sich halbiert, sagt er.

Auch für britische Verbraucher wird das Leben teurer. Bei den Lebensmittelpreisen ist laut Experten bereits eine Inflation zu beobachten. Auch Onlineshopper sind überrascht, wenn der Paketbote an der Haustür bei Bestellungen aus der EU neuerdings satte Nachzahlungen verlangt. So wird nun die Einfuhrumsatzsteuer von 20 Prozent fällig. Hinzu kommen Zölle, falls die Artikel zum überwiegenden Teil in Drittländern wie China, Bangladesch oder Vietnam gefertigt wurden.

Die Pandemie verdeckt noch das Ausmaß der Brexit-Folgen

Vermeintliche Schnäppchen aus der EU werden somit schnell zum teuren Fehlkauf. Viele lassen die Päckchen dann zurückgehen. „Einzelpaket-Versendungen an private Adressaten in Großbritannien bereiten weiterhin Probleme“, bestätigt ein Sprecher des Paketlieferdienstes DPD.

Noch verdeckt die Corona-Pandemie das ganze Ausmaß der Brexit-Folgen. Da Gastronomie, Einzelhandel und Tourismus wegen des Lockdowns geschlossen sind und auch viele Fabriken unter Kapazität arbeiten, ist die wirtschaftliche Aktivität in Großbritannien deutlich geringer als gewöhnlich. Das Frachtvolumen über den Ärmelkanal liegt laut der Logistikplattform Transporeon immer noch rund 40 Prozent unter dem Normalniveau. Die geringere Nachfrage nimmt etwas Druck aus den Lieferketten.

„Corona dämpft die Brexit-Auswirkungen“, sagt Shane Brennan von der Cold Chain Federation, dem britischen Verband der Kühllogistik. „Wenn es keinen Lockdown gäbe, hätten wir echte Lieferengpässe.“ So aber seien die Lastwagenstaus ausgeblieben und die Supermarktregale normal gefüllt. Importe seien ohnehin einfacher, weil die britische Regierung an der Grenze in den ersten sechs Monaten noch nicht kontrolliert.

Dennoch knirscht es bereits gewaltig in den Lieferketten. „Die Leute hinter den Kulissen sind unglaublich im Stress“, sagt Brennan. Das Nadelöhr in Dover, wo die meisten Lastwagen über den Kanal setzen, sei immer schon anfällig für Störungen gewesen. Nun verlängerten sich die Lieferzeiten je nach Standort in Europa auf bis zu fünf Tage. Einzelhändler könnten daher weniger flexibel auf Nachfrageänderungen reagieren. „Wir werden mehr ‚Sold out‘-Schilder sehen“, prognostiziert Brennan.

Die britische Regierung spielt die Verzögerungen als „Kinderkrankheiten“ herunter. Brennan hingegen sieht einen strukturellen Umbau. „Wir erleben eine fundamentale Neuordnung der Lieferketten“, sagt er. Die Brexit-Folgen seien enorm und würden sich über viele Jahre entfalten.

Noch immer lehnen Spediteure laut Transporeon überdurchschnittlich viele Ladungen ab – aus Angst, an der Grenze festzustecken. Selbst erfahrene Transportkonzerne wie DPD oder die Bahn-Spedition DB Schenker hatten kurz nach Neujahr ihre Lieferungen über den Ärmelkanal vorübergehend eingestellt. Zwar bieten sie ihre Transporte aktuell wieder an, die Wiederaufnahme des Betriebs aber verläuft schleppend.

Hunderte Seiten Dokumentation zum Herkunftsland

Bei Schenker waren zu Jahresbeginn nur zehn Prozent der Lieferaufträge nach Großbritannien vollständig. Nach dem zwischenzeitlichen Lieferstopp greift die Firma nun entschieden durch. „Wir nehmen Ware von unseren Kunden erst an, wenn alle Papiere vollständig und geprüft sind“, sagt ein Sprecher.

Eine keineswegs leichte Aufgabe. Kommt beispielsweise bei einem Schuh das Leder aus Italien, das Design aus Deutschland, die Sohle aber aus Vietnam, muss der Importeur feststellen lassen, woher der „überwiegende Teil“ des Produkts stammt. Fällt die Entscheidung auf das Drittland Vietnam, werden trotz Freihandelsabkommen Zölle fällig. „Eine Dokumentation, in der das Herkunftsland bestimmt wird, kann bis zu 800 Seiten umfassen“, sagt der Schenker-Sprecher.

Angesichts der Verzögerungen an der Grenze sieht sich die britische Autobranche bereits zu Notmaßnahmen gezwungen. Noch habe kein Hersteller die Produktion stoppen müssen, sagt Mike Hawes vom britischen Autoherstellerverband SMMT. Aber mehrere Firmen würden Teile per Luftfracht einfliegen, um die pünktliche Lieferung für die Just-in-time-Produktion zu sichern.

Das treibt die Kosten. Auch die Frachtraten auf der Straße seien deutlich gestiegen. „Es belastet unsere Wettbewerbsfähigkeit“, sagt Hawes. Die reinen Transportkosten würden sich irgendwann wieder normalisieren. Aber die zusätzliche Bürokratie komme einem dauerhaften Zoll von zwei bis drei Prozent gleich.

Lieferketten werden umgebaut

Experten erwarten daher auch hier einen Umbau der Lieferketten. Die Restrukturierung sei unter dem Strich negativ für den kleineren britischen Markt, sagt David Bailey von der Universität Birmingham. „Mehr Produktion wird in die EU wandern als umgekehrt.“

Neue Störungen werden erwartet, wenn nach der EU auch die britische Regierung im Juli beginnt, die Grenzen zu kontrollieren. Dann würden europäische Lebensmittelexporteure zu spüren bekommen, was die britischen Firmen derzeit erleben, sagt Brennan. „Wissen kleine Exporteure in Deutschland, was im Juli auf sie zukommt?“

Sobald der Lockdown aufhört und sich das Wirtschaftsleben normalisiert, wird sich obendrein der Verlust der Freizügigkeit bemerkbar machen. Das trifft nicht zuletzt technische Dienstleister, die bisher zu Tausenden jedes Jahr hin und her gereist sind – oft kurzfristig. „Sie können sich nicht mehr schnell ins Flugzeug setzen und Wartungsarbeiten in Großbritannien ausführen“, sagt Ulrich Hoppe von der Deutsch-Britischen Handelskammer. Nun bräuchten sie ein Zertifikat, das drei Wochen vorher beantragt werden muss. In Notfällen müssen die Briten sich nun selbst helfen.

Mitarbeit: Christoph Schlautmann

Wegen der Probleme beim Export von Fisch nach Europa haben im Januar mehrere Fischer ihre Lastwagen in der Nähe der Londoner Downing Street geparkt. Foto: dpa
Wegen der Probleme beim Export von Fisch nach Europa haben im Januar mehrere Fischer ihre Lastwagen in der Nähe der Londoner Downing Street geparkt. Foto: dpa
In Dover setzen die meisten Lastwagen über den Ärmelkanal über. Foto: dpa
In Dover setzen die meisten Lastwagen über den Ärmelkanal über. Foto: dpa