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Experte über Proteste in Russland: "Die Kriegsgegner wurden festgenommen und bekamen in Haft ihren Front-Bescheid"

Am Mittwoch kam es in Moskau zu Protesten gegen Putins Krieg: Russische Sicherheitskräfte tragen einen Demonstranten weg. - Copyright: picture alliance/dpa/TASS/Anton Novoderezhkin
Am Mittwoch kam es in Moskau zu Protesten gegen Putins Krieg: Russische Sicherheitskräfte tragen einen Demonstranten weg. - Copyright: picture alliance/dpa/TASS/Anton Novoderezhkin

Am Mittwoch hat Kremlchef Wladimir Putin eine Teilmobilmachung der Streitkräfte angeordnet. Seit Freitag lässt er Scheinreferenden in den von Russland besetzten Gebieten in der Ukraine durchführen. Unterdessen erkennen immer mehr Russen, was der Krieg in der Ukraine bedeutet und gehen zum Teil sogar schon deshalb auf die Straßen. Welche Folgen das hat, wie sehr Putin unter Druck steht und ob es nun in Russland zu einem Umdenken in der Bevölkerung kommen könnte, erklärt Alexey Yusupov, Russland-Experte bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, im Interview.

Business Insider: Wie ist Putins Rede zur Generalmobilmachung bei den Russen angekommen?
Yusupov: "Russland steht unter Schock. Der 21. September war für die Bevölkerung vergleichbar erschütternd wie der 24. Februar, als die Ukraine überfallen wurde. Es herrscht Panik, viele versuchen, das Land zu verlassen. Die Flüge ins Ausland waren rasend schnell ausgebucht, an den Grenzübergängen herrscht Stau. Die Menschen wollen nach Finnland fliehen, sodass die finnische Regierung aus Sorge vor einem Massenansturm offenbar bereits an einer vollständigen Einreisesperre arbeitet. Die Grenzübergänge in Richtung Mongolei sind überfüllt, auch Georgien, Armenien und Kasachstan erwarten einen massenhaften Anstieg an fliehenden Russen."

BI: Was steckt dahinter?
Alexey Yusupov:"Diese beiden Schritte – aber auch die sehr unverblümte Androhung der Nutzung von Atomwaffen in seiner Ansprache – sind allesamt Bestandteile einer politischen Abschreckungsstrategie. Was klar geworden ist, dass die bisherige Linie des Kremls gescheitert ist. Jetzt versucht Putin die politischen Kosten dafür, dass die Ukraine ihren sehr erfolgreichen, überraschend erfolgreichen Vorstoß weiter fortführt, zu erhöhen. Er spekuliert darauf, dass auch der Westen Druck auf Kiew ausübt und mehr oder minder sagt: Jetzt ist genug, die Kosten wären zu hoch."

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BI: Wie soll das passieren?
Yusupov:"Mit einem Taschenspieler-Trick: Putin will die besetzten Gebiete schnell an Russland anschließen, weil er dann, wenn die Ukraine versucht, sie zurückzuerobern, behaupten kann, es handele sich um Angriffe gegen die Russischen Föderation, worauf schärfer reagiert werden muss als wir es bislang in seinem Eroberungskrieg gesehen haben."

BI: Und dafür braucht er mehr Soldaten?
Yusupov:"Ja, die Mobilisierung ist ein wichtiger Bestandteil davon, aber auch ein sehr gefährlicher. Es ist die erste Mobilisierung in der Geschichte der Russischen Föderation. Die Ukraine hat natürlich nach der Annexion mobil gemacht, aber in Russland gab es das noch nie. Putin öffnet damit die Büchse der Pandora."

BI: Mit welchen Folgen?
Yusupov:"Mit der Teil-Mobilmachung macht Putin Schluss mit dem Narrativ, Russland sei so mächtig und könne sich den Krieg in der Ukraine ohne hohe Kosten für die russische Bevölkerung leisten. Ziel war, dass das Leben für die meisten Russen einfach ganz normal weitergeht wie bisher. Deshalb lief die Rekrutierung ja auch versteckt ab, in Gefängnissen und bei ehemaligen Profis, die massiv für den Fronteinsatz angesprochen worden sind. In russischen sozialen Netzwerken hat man gesehen, wie Soldaten, die sich freiwillig für die Ukraine melden, ein gutes Paket angeboten wurde: Richtig hohe Boni, Entschuldung und Geld für die Familien, sollte ihnen was zustoßen. Diese Rekrutierungsmaschinerie läuft schon länger, aber offensichtlich reicht es nicht."

BI: Zu wenige wollen kämpfen?
Yusupov: "Die Freiwilligen, die mit all diesen Anreizen gelockt werden, sind nicht genug, um die Lage an der Front zu stabilisieren. Daher kommt jetzt dieses Zwangsinstrument. Es zeigt, wie verzweifelt die Lage ist aus der Sicht der russischen Führung."

BI: Wie sehr steht Putin unter Druck?
Yusupov: "Die gesamte Staatsführung hat plötzlich ein Glaubwürdigkeitsproblem, hat sie doch bisher behauptet, es sei kein Krieg, es gäbe keine hohen Kosten für die Bevölkerung, die westlichen Sanktionen wären böswillig, nicht wirklich begründet und berechtigt. Das ist jetzt alles weg. Jetzt ist es ein ein Kampf gegen den gesamten Westen, in Putins Propaganda also ein Verteidigungskrieg, wobei der Kreml noch davor zurückschreckt, Kriegsrecht zu verhängen. Zugleich versucht er, einen Ausweg aus dem Fiasko zu finden: Seine sehr, sehr teure Berufsarmee, die seit Jahren und Jahrzehnten Hunderte von Milliarden von Dollar verschlungen hat und jetzt völlig offensichtlich nicht in der Lage war, diesen Krieg, den er in Gang gesetzt hat, zum erfolgreichen Ende zu führen. Natürlich steht Putin unter Druck, sowohl in der Führungselite als auch in der Bevölkerung. Insgesamt muss er erklären, was passiert ist."

Einige Teile der russischen Bevölkerung scheinen auf die Teilmobilmachung extrem empfindlich zu reagieren – plötzlich spüren sie, was der Ukraine-Krieg wirklich bedeutet und welche Kosten er hat.
Yusupov: "Und genau das wird für Putin zum Problem, nicht nur aus militär-strategischer Sicht. Die große Angst, dass vor allem junge Männer eingezogen werden, ist in Russland wahrscheinlich eins der wenigen Themen, das schon immer sehr politisch war. Insgesamt hat das russische Regime die Gesellschaft in den letzten drei Jahrzehnten de-politisiert, systematisch geschwächt und zum Schweigen gebracht. Es gibt eine Art impliziten negativen Gesellschaftsvertrag: Ihr haltet euch aus der Politik raus, wir lassen euch leben und kümmern uns um die großen Fragen. Kreml und Bürger waren sich einig: Man hält sich gegenseitig auf Abstand."

BI: Und das funktioniert?
Yusupov:"Immer so lange, bis der Staat versucht, nicht doch in die Privatsphäre der Menschen einzugreifen, was in der Regel sehr schwer durchzusetzen ist. Da haben wir während der Pandemie gesehen: Die Russen haben die staatlichen Impf-Kampagnen nicht interessiert; sie haben Ansagen einfach nicht beachtet. Es gab eine extrem geringe Umsetzung der Maßnahmen.
Jetzt versucht der Staat, ihnen was vorzuschreiben, das viel weitergeht: Mit der Mobilmachung greift der Kreml so stark wie nie zuvor in das Leben der Bürger ein. Er übernimmt die Gewalt über den Körper und das Leben von einer Person. Und die allermeisten Eltern und auch die jungen Männer selbst haben überhaupt keine Bereitschaft aktiv am Krieg teilzunehmen – warum denn auch? Sich als Kanonen-Futter verfeuern zu lassen?"

BI: In der Bevölkerung herrscht Panik?
Yusupov: "Ja, im Moment sehen wir das schon. Natürlich weiß niemand, in was für einem Zeitraum die Reservisten eingezogen werden sollen. Außerdem liest sich der Erlass des Verteidigungsministeriums so, dass die Mobilisierung eigentlich auf die Reserve und nicht auf die Grundgesamtheit aller Wehrpflichtigen abzielt. Dass trotzdem Panik herrscht, zeigt, wie gering das Vertrauen in die Regierung ist. Das, was wir da jetzt sehen, ist der Dammbruch. Die Leute denken sich: Jetzt sind es 300.000, aber wenn die nicht reichen, wird das Regime immer mehr Söhne, Brüder, Ehemänner einziehen."

BI: Fangen die Russen an, Putins Märchen vom Verteidigungskrieg zu hinterfragen?
Yusupov: "Grundsätzlich ist es so, dass zehn bis fünfzehn Prozent der russischen Bevölkerung Anhänger eines ultra-patriotischen, nationalistischen Lagers sind. Sie haben von Anfang an, von einem Krieg und keiner militärischen Operation gesprochen und den Kreml dafür kritisiert, dass er den Einsatz in der Ukraine zu sehr auf die leichte Schulter nimmt. Das sind diese schrillen Stimmen, die schon seit der Annexion der Krim 2014 eine noch stärkere Eskalation fordern. Sie wollen die Ukraine auflösen. Andere, kritische Stimmen gegen den Krieg sind verstummt. Sie haben Russland schon längst verlassen oder werden sehr stark unter Repression gesetzt."

BI: Sehen Sie die Gefahr einer Generalmobilmachung?
Yusupov: "Wenn die 300.000 Reservisten nicht ausreichen und Russland entscheidet, stärker in den Krieg einzugreifen, ja. Ich sehe die Gefahr einer Eskalation, wenn Moskau sich als angegriffen darstellt. Aktuell gibt es kleinere Scharmützel an der Grenze, bei denen die Ukraine Ziele in Russland trifft. Aber wenn Russland wirklich voll in den Krieg einsteigen will, brauchen sie einen größeren Anlass, möglicherweise auch einen selbst inszenierten, um die Bevölkerung hinter sich 'zur Verteidigung' des Landes zu vereinen. Zum jetzigen Zeitpunkt sehe ich das aber noch nicht."

BI: Wir sehen aktuell Proteste in Russland – wie sind die zu bewerten?
Yusupov:"Die Proteste am Mittwoch waren nicht sehr groß, auch weil die Repression so stark ist. Besonders perfide ist, dass es gestern unter den Demonstranten etwa 1000 Männer gab, die verhaftet wurden und in Haft ihren Front-Bescheid ausgestellt bekommen haben.
Nicht zu unterschätzen sind in Russland die 'Soldatenmütter', die nach dem Afghanistan- und Tschetschenien-Krieg massiv Aufklärung gefordert haben. Das war ein extrem politisches Thema in der Gesellschaft und hat zu sozialen Unruhen auch wegen der Misshandlung und Korruption in den Streitkräften geführt, weshalb Putin eine Berufsarmee gründete, um sein Militär stärker von der Gesellschaft zu trennen. Durch die Teil-Mobilmachung wird das jetzt wieder rück-abgewickelt: Nun entsteht wieder ein viel direkterer Kontakt zwischen den Streitkräften und Familien. Dass Putin so weit geht, ist ein Zeichen der Schwäche, der Verzweiflung. Gerade geschieht eine Repolitisierung aller Beziehungen zwischen Bürger und Staat. Wir werden sehen, wohin das führt."

BI: Der Anfang vom Ende?
Yusupov: "Für eine Wende ist es zu früh, aber das ist auf jeden Fall der erste Schritt in die richtige Richtung. Hinzu kommt: So eine Mobilisierung hat es, wie gesagt, noch nie gegeben. Das ist ein ziemlicher Verwaltungsaufwand. Da werden Dinge schieflaufen. Wir sehen jetzt schon, wie in Dagestan und Burjatien die lokalen Kriegskommissariate über die Strenge schlagen – das wird zu viel Unzufriedenheit in der Bevölkerung führen. Es wird Korruption geben, Leute, die sich freikaufen, und gleichzeitig Gemeinden oder Stadtverwaltungen geben, die Quoten erfüllen müssen. Sie werden an ihre Grenzen kommen, Leute einziehen, die vielleicht aufgrund von Erkrankungen, Pflege der Eltern oder anderer Verpflichtungen eigentlich nicht eingezogen werden dürfen. Es wird Willkür geben und sie wird die Schwächeren direkter treffen als die Eliten. Und das ist natürlich der absolute Zündstoff für Unzufriedenheit und Protest."