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Dieser Zulieferer steht im Brennpunkt des Umbruchs in der Autoindustrie

Diesel- und Benzinmotoren, Kerngeschäft der Conti-Tochter Vitesco, werden zum Auslaufmodell. Der Sprung ins Elektrozeitalter ist komplex – und einige Mitarbeiter bleiben auf der Strecke.

Claus Helmers ist es zu eng geworden. Der Werksleiter des Nürnberger Vitesco-Werks lässt deswegen die Wände einreißen. Die bisherigen Räume, in denen er für das Antriebsunternehmen Bauteile für Elektromotoren bauen ließ, sind zu klein geworden.

„Vor nicht einmal zwei Jahren hatten wir nur eine Produktionslinie für Leistungselektronik, bald schon werden es acht sein“, sagt Helmers und deutet auf die Wände, die hier bald verschwinden werden. Der 55-jährige Maschinenbauingenieur steht in einem Reinluftraum, eingepackt in einen Schutzanzug mit weißen Überschuhen und Gesichtsmaske.

Helmers sieht aus wie ein Forensiker, der einen Tatort betritt, und nicht wie ein Werksleiter eines Autozulieferers. Schon kleinste Staubkörnchen könnten die Produktion der Leistungselektronik, die den Stromfluss zwischen Batterie und Elektroantrieb regelt, stören. Deswegen putzen sie hier alle zwei Stunden alles ab.

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Vitesco Technologies war früher mal die Antriebssparte von Continental, die sich vom großen Zulieferer aus Hannover abspaltet. Conti will das Antriebsgeschäft abschütteln und sich auf Fahrerassistenzsysteme und Software konzentrieren. Vitesco muss aus eigener Kraft den großen Bruch in der Automobilindustrie bewältigen: den Wandel vom Verbrennungs- zum Elektromotor – und der beansprucht in Nürnberg immer mehr Platz.

Vitesco ist der Brennpunkt des Umbruchs in der Autoindustrie, die jetzt rasant auf Elektroantriebe umschaltet. Nach langem Zögern rüsten Daimler, BMW und Volkswagen ihre Werke auf Stromautos um, die Klimavorgaben der EU zwingen zu radikalen Schnitten.

Um das Jahr 2026 will VW den letzten Verbrennungsmotor entwickeln, erklärte der Konzern bereits Ende 2018. Es droht eine Joberosion. Die IG Metall geht im schlimmsten Fall von 410.000 Arbeitsplätzen aus, die bis 2030 durch die Elektromobilität in Deutschland verloren gehen könnten.

Wer allerdings den Sprung zum Stromantrieb schafft, dem winken Chancen. 2030 sollen mit 42 Millionen Stück bereits knapp die Hälfte aller weltweit produzierten Autos eine elektrifizierte Antriebsvariante besitzen, rechnet das Beratungsunternehmen LMC Automotive vor.

„Kurzfristig wird das größte Wachstum vom Plug-in-Sektor, also von Elektroautos und per Stecker aufladbaren Hybriden, ausgehen“, sagt Al Bedwell von LMC Automotive. Davon dürfte auch die Produktion von Invertern (Stromwandlern) in Nürnberg profitieren, die sowohl in Hybrid- als auch in Elektroautos zum Einsatz kommen.

Einer McKinsey-Studie zufolge wird sich der Markt dafür von einem Volumen von 3,4 Milliarden Dollar im Jahr 2018 auf zwölf Milliarden Dollar im Jahr 2025 vergrößern. Jährliche Wachstumsrate: 20 Prozent.

Das Dilemma von Roding

Helmers sieht darin eine Chance. Er will noch schneller in Richtung Elektrifizierung gehen, viel höhere Mengen der Leistungselektronik herstellen. Zurück in seinem Büro, in dem er von Elektrobauteilen umgeben ist, deutet er mit seinen Fingern auf Unterlagen, auf denen Balkendiagramme zu sehen sind: „Jetzt gilt es, in die Mengen zu kommen“, sagt er. In Nürnberg können sie das Zeitalter der Elektromobilität kaum erwarten.

Das gleiche Unternehmen 130 Kilometer entfernt: Hier ist von der Elektroeuphorie nicht viel zu spüren. Im Vitesco-Werk am bewaldeten Stadtrand von Roding werden in vier Jahren die Lichter ausgehen. 540 Arbeitsplätze verschwinden aus einer Stadt mit knapp 12.000 Einwohnern.

Die Stellen, die hier abgebaut werden, sind Teil des auf zehn Jahre angelegten Sparprogramms, das sich Continental noch vor Abspaltung der Antriebssparte auferlegt hat. Claudia Hecht, Betriebsrätin des Rodinger Vitesco-Werks, kennt die Einzelschicksale.

„Zu mir kommen oft junge Väter und Mütter, die mir erzählen, dass sie gerade ein Haus bauen“, sagt die 50-Jährige, die in vier Jahren auch ihren Arbeitsplatz verliert und mit zwei betroffenen Mitarbeitern zum Gespräch gekommen ist. „Die wissen nicht mehr, wie es weitergehen soll. Von solchen Situationen ist das Management weit weg. Die sitzen in Regensburg und bekommen die Ängste der Mitarbeiter nicht mit.“

Zu „denen in Regensburg“ zählt Andreas Wolf, seit Oktober 2019 Chef von Vitesco. Er spricht lieber über die elektrisierende Zukunft des Antriebsunternehmens. „Je schneller die Elektrifizierung kommt, desto schneller werden wir wachsen“, sagt er. „Es wird eine Sonderkonjunktur im Bereich Elektrifizierung geben, die es so in kaum einer anderen Industrie gibt.“

Und Wolf ist sich sicher, dass sein Unternehmen Gewinner dieser Entwicklung sein wird. Vitesco beherrsche jede Spielart des Stromautos: Mild-, Plug-in-Hybride oder batterieelektrische Antriebe. „Unsere Ingenieure sind Software- und Systemspezialisten“, sagt Wolf.

In Roding findet diese Elektrifizierung nicht statt. Hier werden keine Inverter hergestellt, keine E-Achsen, keine Elektro- oder Hybridantriebe. Die Ingenieure hier sind Spezialisten für den Verbrennungsmotor. Sie stellen Hochdruckpumpen für Benzin- und Dieselmotoren her – Produkte, die Vitescos Noch-Mutterkonzern Continental in spätestens zehn Jahren auslaufen lässt. Die Mitarbeiter in Roding sind die Verlierer der Elektrowende – und sie werden nicht die einzigen sein.

Denn was die Mitarbeiter von Vitesco in Nürnberg, Regensburg und Roding gerade miterleben, betrifft alle Menschen, die derzeit in Deutschland für Antriebsunternehmen arbeiten, egal ob bei großen Zulieferern wie Bosch und ZF, mittelgroßen wie Hella oder Mahle oder den unzähligen Kleinstbetrieben in der Provinz, die fast unbemerkt untergehen. Ein ganzer Industriezweig im Land bröckelt auseinander, weil das Geschäftsmodell Verbrennungsmotor zerfällt.

Vitesco braucht Investoren

Franz Reichold, Bürgermeister von Roding, befürchtet, dass ihm durch die Schließung Steuereinnahmen wegfallen. „Für eine Kommune wie unsere ist es immer schlimm, wenn so ein großer Arbeitgeber sein Werk schließt“, sagt er. Vitesco-Mitarbeiter, die ihren Job verlieren, zahlen keine Einkommensteuer.

Das Unternehmen selbst wiederum zahlt keine Gewerbesteuer mehr. „Eine Kommune unserer Größe ist auf diese Einnahmen angewiesen“, sagt der Bürgermeister. Es droht zudem eine Kettenreaktion. Denn viele kleinere Zulieferer, die Lieferbeziehungen mit Vitesco haben, verlieren einen wichtigen Kunden.

Für Reichold ist die Schließung des Werks auch eine persönliche Niederlage. Vor über zehn Jahren hatte er sich noch für den Ausbau des Standorts starkgemacht – und damals Andreas Wolf kennen gelernt. Der Manager war am Ausbau mitbeteiligt. Jetzt baut Wolf den Standort ab, und Reichold muss dabei zusehen.


Abhängig vom Verbrenner

Viele Mitarbeiter wundern sich über die Härte des Managements aus Regensburg, auch weil sie in Roding gerade Sonderschichten schieben müssen. „Bei uns brummt es gerade“, sagt Betriebsrätin Hecht. „Das Werk arbeitet an Feier- und Sonntagen. Gerade bei der Benzinpumpe ist die Nachfrage hoch.“ Die Zuliefererkrise? An solchen Tagen spüren die Rodinger sie nicht.

Continental und Vitesco behaupten zwar gerne, dass sie ein mitarbeiterfreundliches „Transformationsprogramm“ hätten, weil sie die Mitarbeiter mit vielen Jahren Vorlaufzeit auf die Schließung der Werke vorbereiten. Das stimmt – doch zur Wahrheit zählt auch, dass sie noch auf Standorte wie Roding angewiesen sind. Denn das Auslaufmodell Verbrennungsmotor wirft Gewinne ab. Deswegen sind alle Zulieferer von ihm abhängig.

Vitesco macht 90 Prozent seines Umsatzes mit Diesel- und Benzinkomponenten. Die Elektromobilität hingegen ist noch ein Verlustgeschäft, in das aber schon jetzt große Summen gesteckt werden müssen. Unter dem Dach von Conti wurden in den vergangenen Jahren bereits über zwei Milliarden Euro in die Elektromobilität investiert. Das belastet die Profitabilität. In den ersten drei Quartalen des vergangenen Jahres lag die Ebit-Marge von Vitesco bei kaum wahrnehmbaren 0,4 Prozent.

Für die Mitarbeiter aus den Verbrennerwerken bleibt in Zeiten der Transformation daher nur die bittere Erkenntnis: Sie bauen ihren eigenen Job ab, damit Standorte wie Nürnberg überleben können. Dort wurden allein in die Inverter-Produktionslinien hohe zweistellige Millionensummen investiert. Doch was in Nürnberg produziert wird, wirft noch keinen Gewinn ab.

Gleichzeitig muss Vitesco hoffen, dass die Elektromodelle der Autohersteller zu Erfolgsmodellen werden und die Volumina im E- und Hybridbereich sich bald massiv erhöhen. Aus Branchenkreisen ist zu hören, dass Vitesco in Kürze einen wichtigen Auftrag von VW bekommen wird.

Finanzielle Versorgungslinie wird gekappt

Für die weiteren batterieelektrischen Modelle der ID-Reihe, die kommendes Jahr auf den Markt kommen, wird Vitesco offenbar unter anderem die Leistungselektronik liefern. Nur mit solchen Aufträgen werden Antriebsunternehmen nach der von Wolf prognostizierten zweijährigen Konsolidierungsphase noch im Spiel bleiben. Wer dann noch Mittel zum Investieren hat, wird überleben.

Genau diese Mittel aber sind das Problem von Vitesco. Bislang konnte Continental Kapital zusteuern. Mit der Abspaltung wird diese finanzielle Versorgungslinie gekappt. Vitesco ist auf Investoren angewiesen. Wolf will Vitesco im Herbst an die Börse bringen, dann wird aus der ehemaligen Conti-Antriebssparte ein eigenständiger MDax-Konzern mit neun Milliarden Euro Umsatz und Hauptverwaltungssitz in Regensburg.

„Die Wachstumserwartungen von Vitesco sind deutlich überzogen“, sagt ein führender Berater, der die Autoindustrie seit Jahren begleitet. Die Conti-Abspaltung sei zwar „keine Bad Bank“, wie manche behaupten, und bei elektrischen Zulieferkomponenten prinzipiell gut positioniert. Zugleich müsse sich das Unternehmen aber das avisierte Wachstum erst einmal „mit hohen Investitionen erkaufen“, konstatiert der Branchenfachmann.

Besonders bitter: Vitesco erhält neue Wettbewerber von unbekannter Seite. Denn Vitescos Kunden werden plötzlich zu Konkurrenten. Schließlich müssen die Fahrzeughersteller ihre eigenen Motorenwerke mitsamt Zehntausenden Beschäftigten auslasten und versuchen daher, durch das Insourcing von E-Komponenten eine Ersatzwertschöpfung zum rückläufigen Verbrennergeschäft aufzubauen.

So stellt BMW seine Elektromotoren, Batteriepakete und die Leistungselektronik selbst her, und auch Daimler entwickelt und produziert die künftige Generation seiner elektrischen Antriebsstränge selbst. „Es wird darauf ankommen, wie schnell Vitesco der Umbau hin zu Elektromobilität gelingt“, erklärt Jürgen Pieper, Analyst beim Bankhaus Metzler. „Aktuell ist Vitesco in diesem Bereich noch keine große Nummer und eher ein Spätstarter.“

Anfang der Woche hat der US-Zulieferer Borg Warner bereits dem Konkurrenten Delphi Technologies ein Übernahmeangebot in Höhe vom 3,3 Milliarden Dollar gemacht. „Es könnte der Beginn einer Powertrain-Konsolidierung sein“, sagt Chris McNally von Evercore ISI.

Mitarbeiter hoffen noch

Auch Vitesco-Chef Wolf schaut sich Konkurrenten an, mit denen eine Zusammenarbeit sinnvoll sein könnte. Für den Metzler-Analysten Piper wäre eine stärkere Zusammenarbeit mit dem Conti-Großaktionär Schaeffler naheliegend.

Die Schaeffler-Holding wird nach der Abspaltung mit 46 Prozent auch der größte Anteilseigner von Vitesco sein. Es sei „ein großes Mysterium“, warum hier nicht mehr passiere. „So macht die hohe Beteiligung von Schaeffler an Conti jedenfalls keinen Sinn“, sagt Pieper.

In Roding haben die Mitarbeiter von Vitesco andere Sorgen – und die Hoffnung noch nicht aufgegeben. „Ich glaube die Schließung erst, wenn sie das Werkstor wirklich nicht mehr öffnen“, sagt Claudia Hecht. Auch Bürgermeister Reichold will es noch nicht wahrhaben. „Vielleicht können wir den Konzern doch noch dazu bewegen zu überlegen, wie eine Zukunft für den Standort Roding aussehen könnte“, sagt er.

Für Vitesco-Chef Wolf hingegen ist die Sache klar: „Die Nachfrage nach Dieselinjektoren und Benzinpumpen wird zurückgehen, der Preisdruck ist hoch. Die Produktion an den betroffenen Standorten kann nicht mehr gehalten werden.“

Im März findet ein runder Tisch statt, bei dem über die gefährdeten Standorte gesprochen wird. Dann kommen alle zusammen, Claudia Hecht und Franz Reichold auf der einen Seite, Andreas Wolf auf der anderen. Sie rechnen mit harten Verhandlungen. Denn die Zeiten in der Zuliefererbranche erfordern Härte – von beiden Seiten.