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Die Zeit von Siemens als Mischkonzern ist vorbei

Siemens verabschiedet sich von alter Größe. Vorstandschef Joe Kaeser will durch den Umbau im Wettbewerb mit Konkurrenten wie Microsoft bestehen.

Wie stark er in die DNA von Siemens eingreift, weiß Joe Kaeser genau. Nach dem wenig ruhmreichen Ausstieg aus der Telekommunikation vor vielen Jahren verabschiedet sich der Konzern nun auch von der Mehrheit am zweiten großen Traditionsgeschäft, der Energietechnik.

„Mir fällt es schwer, das zu tun“, sagte Kaeser, „ich bin fast 40 Jahre bei dem Unternehmen.“ Ein „verdammt emotionaler Prozess“ habe zu dem Beschluss geführt, das traditionsreiche Energiegeschäft abzuspalten und an die Börse zu bringen.

Es ist der endgültige Abschied vom Mischkonzern alter Prägung, den Siemens da unter Kaeser vollzieht. Andere Unternehmen folgen auf diesem Kurs. Über viele Jahre galt es als großer Vorteil, dass in schwierigen Zeiten gut laufende Geschäfte andere Sparten eine Zeit lang mit durchschleppen konnten. Doch in disruptiven Zeiten, davon ist Kaeser überzeugt, sind Fokus, Flexibilität und Geschwindigkeit gefragt. „Größe ist kein Wert an sich“, hält er nüchtern fest.

Und so verabschiedet sich Siemens, um nicht als Industrie-Dinosaurier zu enden, erst einmal von alter Größe: Das neue „Powerhouse“, wie der Arbeitstitel für das Energietechnikunternehmen lautet, kommt auf mehr als 80.000 Mitarbeiter und 30 Milliarden Euro Umsatz – die nach der Abspaltung bei Siemens nicht mehr konsolidiert werden.

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Der Druck der Kapitalmärkte war groß. Bislang hatte Kaeser mit seinem Umbau die Börse nur wenig beeindruckt. Die Investoren warteten darauf, ob der Siemens-Chef eine Lösung für die kriselnde Kraftwerkssparte findet. Die großen Gaskraftwerke des Konzerns standen über Jahrzehnte weltweit für deutsche Ingenieurskunst und bescherten dem Unternehmen stolze Gewinne. Doch hat sich der Markt fundamental gewandelt. In der Energiewende sind kleine, dezentrale Lösungen gefragt.

Als der Aufsichtsrat einstimmig die Abspaltung der Energietechnik beschlossen hatte, gab es denn auch Applaus von den Anlegern. In Vorfreude einer Entscheidung war der Kurs in den vergangenen Wochen bereits gestiegen. Am Mittwoch war Siemens dann mit einem Plus von zeitweise mehr als fünf Prozent auf 108 Euro bester Wert im Dax.

„Die verbleibenden Kerndivisionen des Siemens-Geschäfts – bestehend aus Digital Industries und Smart Infrastructure – sind die Kronjuwelen des Konzerns und sollten mittelfristig vom Kapitalmarkt mit einer höheren Bewertung belohnt werden“, sagte Tobias Hallenberg von der Fondsgesellschaft DWS dem Handelsblatt.

Intern wie extern hatte Kaeser immer wieder betont, dass es wichtig sei, selbst zu gestalten, „bevor man gestaltet wird“. Oft folgte ein indirekter Hinweis auf General Electric (GE). Der US-Rivale galt über Jahrzehnte als das große Vorbild. Doch im vergangenen Jahr stürzte GE ab, machte hohe Verluste, strich die Dividende zusammen und flog aus dem Dow Jones. Mit Notoperationen versucht GE, wieder auf Kurs zu kommen. Unternehmen und Management wurden zu Getriebenen.

Finanzmärkte schätzen Konglomerate kaum noch

Die Abspaltung des Energiegeschäfts sei „eine sinnvolle Entscheidung, die Siemens im Vergleich zu dem früheren Primus der Branche GE weiter differenziert“, sagt Harald Smolak von der Managementberatung Atreus, der früher selbst im Siemens-Management tätig war. „GE hat es versäumt, die Dezentralisierung früh genug anzugehen.“ Es werde mühsam für die Amerikaner, den Anschluss an Siemens wiederherzustellen.

Auch der Schweizer Konkurrent ABB war unter den Druck aktivistischer Aktionäre geraten. Vorstandschef Ulrich Spiesshofer wollte eigentlich den integrierten Technologiekonzern zusammenhalten, verkaufte aber schließlich doch wie von Investoren gefordert die Stromnetze. Am Ende half ihm das nicht: Vor wenigen Wochen musste er gehen.

Die Finanzmärkte schätzen traditionelle Konglomerate kaum noch, weil fokussierte Spezialisten oft erfolgreicher sind. Sogenannte „Pure Plays“ sind häufig innovativer, profitabler und wachsen schneller. Und so wollte Kaeser mit seiner „Vision 2020+“ den Geschäften mehr Eigenständigkeit geben.

Die Kontrolle – nämlich die Mehrheit – an Geschäften wie der Medizintechnik und an Siemens Gamesa behielt er bislang. Doch die Energiesparte wird nun abgespalten. Siemens gibt die Mehrheit ab, will aber zunächst Ankeraktionär bleiben. Industrieller Kern von Siemens sind fortan die Digitalen Industrien und die Intelligenten Infrastrukturen.

Es gibt auch Skeptiker. Unternehmensaufstellungen unterlägen immer Moden, meint ein Siemensianer. Mit der Neuaufstellung mache sich Siemens „abhängig von einem Geschäftsfeld, das in hohem Maße volatil ist“. Vor allem die Digitale Fabrik gilt als schwankungsanfällig. In Boomzeiten florieren die Geschäfte, doch spürt das Management auch Konjunkturabschwünge schneller.

Ein wenig zeigte sich das womöglich schon im vergangenen Quartal. Da verdiente die Digitale Fabrik zwar weiterhin eine stolze Umsatzrendite von knapp 20 Prozent, doch wuchsen die Umsätze mit einem Plus von vergleichbar zwei Prozent auf 3,4 Milliarden Euro etwas langsamer als der Gesamtkonzern. Die Auftragseingänge gingen sogar leicht zurück.

Doch Kaeser ist überzeugt, dass der Trend weg von den Holdings nicht nur eine Mode ist. Die Digitalisierung habe die Spielregeln verändert, ist er überzeugt. Siemens muss sich nicht mehr primär mit den GEs und ABBs dieser Welt messen, sondern mit Plattformbetreibern wie Amazon und ‧Microsoft und neuen asiatischen Konkurrenten.

Als Weltmarktführer in der Industrieautomatisierung und bei Industriesoftware ist Siemens gut positioniert. Aber Vorsprünge sind im digitalen Zeitalter, in dem sich die Wertschöpfungsketten oft verschieben, schnell verspielt. Agilität ist gefragt.

Und so verfolgte Kaeser seine Strategie, seit er 2013 die Führung des Konzerns vom glücklosen Peter Löscher übernommen hatte. „Er hatte früh seinen Plan“, sagt ein Vertrauter. Zunächst sanierte Kaeser die Geschäfte mit straffer Führung aus der Zentrale. Im nächsten Schritt setzt er nun auf eine Dezentralisierung. Viele Aufgaben wandern in die operativen Geschäfte, in den sogenannten Zentralfunktionen werden 2500 der insgesamt 12.500 Arbeitsplätze gestrichen. Weltweit baut Siemens mehr als 10.000 Stellen ab. Die Kosten sollen so bis 2023 um 2,2 Milliarden Euro reduziert werden.

Ein Problem Kaesers bei seinem radikalen Umbau: Der Handlungsdruck ist auf den ersten Blick nicht so offensichtlich. Das zeigten auch die Zahlen für das zweite Quartal des Geschäftsjahres 2018/19 (zum 30. September), die Kaeser zum Kapitalmarkttag vorlegte. Mit einem Umsatzplus von vergleichbar zwei Prozent auf 20,9 Milliarden Euro blieb Siemens auf solidem Wachstumskurs. Mit einem operativen Gewinn von 2,4 Milliarden Euro (plus sieben Prozent) verdiente Siemens sogar mehr, als einige Analysten erwartet hatten.

Die Renditeziele sind hoch

Doch sei es Kaeser wichtig, rechtzeitig zu agieren, wird in Konzernkreisen betont. Die verbliebenen Kerngeschäfte will er nun ausbauen. So sollen die Digitalen Industrien, geführt von Klaus Helmrich, 25 Prozent schneller wachsen als der Markt und eine operative Umsatzrendite von 17 bis 23 Prozent erzielen. Für die Intelligenten Infrastrukturen kündigte deren Chef Cedrik Neike an, das Servicegeschäft auszubauen und das Produktgeschäft zu stärken.

Wachstumsfelder seien die Infrastruktur für die Elektromobilität, dezentrale Energiesysteme und Energiespeicher. „Dies soll zu einem jährlichen Umsatzwachstum von vier bis fünf Prozent über das gesamte Portfolio hinweg führen.“ Neike verspricht Margen von 13 bis 15 Prozent. Beide Kerngeschäfte wollen in den nächsten Jahren insgesamt etwa 20.500 neue Arbeitsplätze schaffen.

Nebenher muss Siemens den sogenannten ‧Carve-out des Energiegeschäfts stemmen. Dirigiert werden soll der Börsengang, bei dem die Anteile an die Siemens-Aktionäre abgegeben werden, von Klaus Patzak. Der Finanzvorstand des neuen Energie-Unternehmens hat schon bei Osram entsprechende Abspaltungserfahrungen gesammelt.

Kaeser und die Chefin der Sparte, Lisa Davis, hoben hervor, dass kein anderes Unternehmen weltweit so eine breite Produktpalette habe, von der Energieerzeugung bis zur Übertragung, von konventionellen Kraftwerken bis zu den erneuerbaren Energien. Denn Siemens will auch die Mehrheitsbeteiligung am Windkraftriesen Siemens Gamesa einbringen.

Noch sind viele Fragen offen – ob Lisa Davis das „Powerhouse“ auch nach dem Börsengang führen wird oder ob sie Siemens mit Auslaufen ihres aktuellen Vertrags verlässt, zum Beispiel. Auch muss noch entschieden werden, wo das Hauptquartier angesiedelt wird. Zwar verkündete die IG Metall: „Das neue Unternehmen hat seinen Firmensitz in Deutschland.“ Doch geht es da laut Industriekreisen eher um den formalen Sitz. Kaeser sagte, der Sitz der operativen Zentrale hänge von vielen Faktoren ab, zum Beispiel davon, wo die Expertise und wo die Kunden sitzen. Ersteres spricht für Deutschland, Letzteres eher nicht.

Aufsichtsrat Jürgen Kerner, Hauptkassierer bei der IG Metall, sagte, den Arbeitnehmern sei die Entscheidung für die Ausgliederung nicht leichtgefallen. „Der Bereich gehört zu den Kernbereichen von Siemens, aber eine Wachstumsstrategie unter Siemens ist trotzdem nicht umsetzbar – wir brauchen eine langfristige Zukunftsstrategie.“ Es entstehe „ein Unternehmen, das trotz mancher Unwägbarkeiten insgesamt die besseren Perspektiven für die Beschäftigten“ biete.

Spin-off ist ein Dax-Kandidat

Mit der erneuten Aufspaltung werden die Diskussionen wieder lauter, ob das, was Kaeser da gerade mit Siemens macht, eine Zerschlagung ist. Er selbst sagte: „Wir zerschlagen nicht, wir schaffen neue Unternehmen.“ In der Tat ist es vorstellbar, dass eines Tages drei Siemens-Ableger im Dax notiert sein werden.

Das neue Energietechnik-Unternehmen hätte das Potenzial dafür, die Medizintechniktochter Healthineers, wäre sie in größerem Streubesitz, ohnehin. Und auch den früheren Abspaltungen wie Infineon und Osram habe die Unabhängigkeit insgesamt gutgetan, meint ein Konzerninsider.

Klar ist aber auch: Kaeser schafft mit der neuen Struktur nachhaltig Fakten. „Das ist nicht mehr umkehrbar“, meint ein Siemensianer. Der Konzern bekommt ein neues Gesicht. Ein Beispiel: Bislang ist Siemens ein großer Infrastrukturanbieter, der Kraftwerke und Züge an öffentliche Auftraggeber verkauft.

Im künftigen Kerngeschäft hat Siemens vor allem mit Industriekunden zu tun. „Die Frage ist: Wer reist künftig mit der Bundeskanzlerin um die Welt?“, sagt ein Insider. Schließlich ist die Bahnsparte inzwischen ein „strategisches Unternehmen“ mit viel Eigenständigkeit, die Energietechnik ist nach dem Börsengang selbstständig.

So wird auch das Anforderungsprofil für Kaesers Nachfolger ein anderes sein. Wann genau der Stabwechsel stattfinden wird, ist noch offen. Nun, da die strategische Zukunft der Kraftwerkssparte geklärt ist, könnte Kaeser mit Auslaufen seines Vertrags Anfang 2021 aufhören. In den vergangenen Monaten war spekuliert worden, er könne noch einmal zwei Jahre anhängen, um den Konzern so zu übergeben, wie er ihn sich vorstellt. Der Siemens-Chef selbst hat sich noch nicht konkret zu seinen Plänen geäußert.

Mit der Ausgliederung der Energiesparte kommt Kaeser bei seinen Plänen einen großen Schritt voran. Doch tauchten bereits erste Fragen auf, wie es denn nun mit der Bahntechnik weitergehe. Die Fusion mit Alstom war am Widerstand der Wettbewerbsbehörden gescheitert, und da spekulierten einige bereits, Siemens könne die Mobility-Sparte bald selbst an die Börse bringen. Die neue Struktur einer operativen Holding weckt permanente Begehrlichkeiten an den Kapitalmärkten.

Kaeser hört das nicht gerne. Die Bahntechnik steht so gut da wie lange nicht. Die Division steigerte den Auftragseingang um 45 Prozent auf 3,5 Milliarden Euro. Die Umsatzrendite war zweistellig. Nur damit jemand an den Finanzmärkten einen guten Schnitt macht, will Kaeser Abspaltungen nicht vornehmen. Da seien andere Werte wichtiger. Wem das nicht passe, der könne die Siemens-Aktie ja verkaufen: „Siemens ist kein Gefängnis.“