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„Zeit ist alles“ – Ein Gespräch über das Verhältnis von Arbeit und Zeit

Der Sozialphilosoph Axel Honneth erklärt, warum unser Zeitempfinden sensibler geworden ist – und warum wir bei aller Freizeitliebe arbeiten sollten.

Der Sozialphilosoph Axel Honneth erklärt im Interview mit dem Handelsblatt, warum wir weniger arbeiten wollen und können. Seines Erachtens ist unser Zeitempfinden sensibler geworden, weil wir unter anderem nicht mehr an das Paradies glauben und es uns finanziell leisten können. Vom Bedingungslosen Grundeinkommen hält er nichts – „wie käme dann noch ein gesellschaftlicher Zusammenhalt zustande?“, fragt Honneth.

Er ist einer der renommiertesten Sozialphilosophen unserer Zeit. Von 2011 bis 2018 leitete Axel Honneth das Institut für Sozialforschung an der Universität in Frankfurt am Main, besser bekannt als die einst von Theodor W. Adorno gegründete Frankfurter Schule. Auch Jürgen Habermas lehrte hier viele Jahre. Seit einigen Jahren forscht und lehrt Honneth zudem an der Columbia University in New York, einer der US-amerikanischen Eliteuniversitäten. Sein Hauptwerk ist das Buch „Kampf um Anerkennung“, das in 16 Sprachen übersetzt ist.

Die Themen Arbeit und Zeit beschäftigen Honneth seit vielen Jahren. Im Januar wird er dazu einen Vortrag in Frankfurt halten, und im Sommersemester 2021 eine Vorlesungsreihe in Berlin. Insgesamt mahnt er ein neues Lebensarbeitszeitmodell an. „Es muss darum gehen, dass wir Schritt für Schritt mithilfe technologischer Fortschritte stupide Arbeit durch sinnstiftende ersetzen“, sagt Honneth. Arbeit müsse anregender und mental attraktiver gestaltet werden, um zermürbende, physisch und psychisch verschleißende Tätigkeiten aufzuheben.

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Lesen Sie hier das komplette Interview:

Herr Professor Honneth, haben wir heute ein anderes Zeitempfinden als die Menschen vor – sagen wir – 100 Jahren?
Absolut. Die Bedeutung des Faktors Zeit ist gestiegen. Wir haben – gefühlt – viel weniger freie Zeit als unsere Vorfahren. Unsere Tagesabläufe sind heute viel enger getaktet. Wir hetzen von einem Termin zum nächsten, von einer Verpflichtung zur anderen. Und das gilt nicht nur für Topmanager. Die Zeit vergeht deshalb – gefühlt – viel schneller.

Dabei hatte der Mensch wohl noch nie so viel Freizeit wie heute.
Es ist aber eine freie Zeit, die viel stärker als früher gleichzeitig von Forderungen des Arbeitslebens durchzogen ist – was durch die Digitalisierung inzwischen noch gesteigert wurde. Nur die wenigsten von uns sind doch konsequent offline am Abend und am Wochenende. Und mal ganz abgesehen davon: Aus dem Kopf kriegen wir unsere Arbeit auch ohne Smartphone selten.

Wie bewerten Sie den weitverbreiteten Wunsch, weniger arbeiten zu wollen, und dafür auch Gehaltseinbußen hinzunehmen?
Das ist die Vision des normalen Bürgers. Der will schon arbeiten, aber nicht mehr auf Kosten von Familie und Freizeit. Die direkte Nachkriegsgeneration war da noch anders motiviert. Sie wollte den Wiederaufbau um jeden Preis mitbestreiten. Die Söhne, Töchter und Enkel dieser Nachkriegsgeneration wollen mehr freie Zeit und sind dafür auch bereit, auf Anerkennung in Form von Geld zu verzichten. Und lassen Sie mich bitte einige Sätze zum bedingungslosen Grundeinkommen sagen …

Bitte!
Ich halte recht wenig vom bedingungslosen Grundeinkommen. Nehmen wir einmal an, dadurch könnte tatsächlich jedem Bürger und jeder Bürgerin ein minimales Auskommen garantiert werden – wie aber käme dann noch ein gesellschaftlicher Zusammenhalt zustande? Die Gefahr scheint mir, dass sich solche Bindungen nur noch privat ergeben würden, es fehlte, was uns über unsere individuellen Präferenzen hinaus noch verbinden könnte.

Zudem entstünde das Risiko, einen zentralen, ethisch grundierten Haltepunkte im Leben zu verlieren, der der eigenen Existenz über die persönlichen Beziehungen hinaus Sinn und Orientierung verleiht. Einer geregelten, einigermaßen sinnvollen Arbeit nachzugehen bedeutet auch, einen gesellschaftlichen Beitrag leisten zu können und dafür etwas Lebensnotwendiges zu erhalten, nämlich soziale Anerkennung.

Anerkennung ist Ihr großes Thema. Sie haben viel dazu geschrieben … Deshalb die Frage: Kann ein Mensch seine Anerkennung nicht auch aus anderen Tätigkeiten ziehen? Würde das bedingungslose Grundeinkommen nicht auch frei machen für die wichtigen Dinge in der Welt und im Leben?
Nein, das könnte leicht auf eine elitäre Annahme hinauslaufen. Denn auch mit einem garantierten Grundeinkommen bräuchten wir doch mehr als bloß die vielleicht gewonnene Zeit, um uns, wie Sie sagen, den „wirklich wichtigen“ Dingen im Leben zuzuwenden. Wir bräuchten kulturelle Anregungen, Informationen über ethische Alternativen, Erfahrungen mit fremden Lebensweisen, kurz, all das, was Bildung im weiten Sinn genannt wird.

All das können wir aber nur erwerben, wenn wir uns im Austausch mit anderen befinden und dank einer guten Ausbildung diese kulturellen Wissensvorräte aneignen können. Und dazu regt im allgemeinen gerade die Einbeziehung in die gesellschaftliche Arbeitsteilung an. Vorausgesetzt, sie ist fair organisiert, bietet genügend Raum für sinnvolle Tätigkeiten und ist gut genug vergütet.

Das sind aber leider nicht alle Jobs ...
Dennoch. Wenn wir durch ein minimales Grundeinkommen freigesetzt werden, so entsteht doch die Gefahr, dass die, die schon über ein solches kulturelles Wissen verfügen, weiter gedeihen, und die anderen, die schon bislang von all dem ausgeschlossen waren, weiter in das kümmerliche Leben einer reinen Privatperson ohne gesellschaftliche Bindung getrieben werden.

Nein, ich denke, dass es derzeit zum Programm einer besseren, gerechteren, jeden mit mehr sinnvollen Tätigkeiten versehenden Arbeitsteilung keine Alternative gibt. Wer dank eines minimalen Grundeinkommens aus dieser Arbeitsteilung herausfällt, dem fehlen wahrscheinlich genau das aktive Miteinander, der arbeitsteilige Austausch und die kulturelle Anregung, die für die Beschäftigung mit „wirklich wichtigen“ Dingen des Lebens die Voraussetzung bilden.

Zurück zum Thema Zeit. Warum ist die Bedeutung von Zeit gestiegen?
Viele Institutionen des öffentlichen Lebens haben in den vergangenen Jahrzehnten an lebendiger, wertvoller Bedeutung für den Einzelnen verloren: die Politik, die Kirchen, die Vereine, die Gewerkschaften, um nur einige zu nennen. Demgegenüber hat die Institution der Familie, folgen wir neueren Studien, an Bedeutung gewonnen.

Sie ist trotz ihrer kulturellen Hinterfragung für den Einzelnen wichtiger geworden. Und um dieses gestiegene Bedürfnis nach Familie verwirklichen zu können, braucht man Zeit. Wir sehen das gerade sehr deutlich daran, dass auch Väter mehr und mehr bereit sind, für die Kinder zu Hause zu bleiben, Elternzeit zu nehmen oder in Teilzeit zu gehen.

Elternzeit wird aber auch staatlich anerkannt und sogar bezahlt.
Eben. Die Politik hat diesen Trend glücklicherweise erkannt und ermöglicht inzwischen stärker als früher für beide Geschlechter solche Möglichkeiten des temporären Ausstiegs aus dem Berufslebens.

Was noch? Was lässt uns unsere Zeit noch mehr wertschätzen?
Darin spiegelt sich auch eine Hinwendung zu postmateriellen Werten. Es geht eben nicht mehr um ein noch größeres Haus, ein schnelleres Auto, eine exklusivere Uhr.

Allerdings muss man sich eine solche Haltung auch leisten können.
Genau. Und das kann man nicht genügend betonen. Wer freiwillig in Teilzeit geht oder mehr Urlaub statt mehr Geld wählt, hat im Allgemeinen ein überdurchschnittliches Gehalt, einen besser verdienenden Partner oder ein Vermögen geerbt.

Das etwas despektierlich so genannte Dienstleistungsproletariat, das gerade hier in den USA weitverbreitet ist, kann sich so eine Hinwendung zur Familie natürlich nicht leisten. Es funktioniert nur übers Stunden schinden. Jede Stunde zählt bei solchen Jobs. Es geht ums Überleben.

Ist Zeit immer noch Geld?
Nein, das scheint mir veraltet. Zeit ist alles. Zeit, also Zeit, über die wir frei walten und die wir ungezwungen gestalten können, solche Zeit ist viel mehr, sie bedeutet, über etwas zu verfügen, woran es den meisten mangelt, etwas, das die Quelle eines besinnlichen und erfüllten Lebens ist und das man nicht einfach kaufen kann.

Und: „In the long run we are all dead!“ Am Ende sind wir alle tot.
Darauf läuft es unzweifelhaft hinaus. Die Sensibilität für unsere einmalige und beschränkte Lebenszeit ist gesellschaftlich stark gestiegen. Die Erfahrung unserer eigenen Vergänglichkeit ist viel weiter verbreitet. Früher fühlten sich die Menschen dem Leben mehr ausgesetzt, führten es gottgefällig, und am Ende wartete bei anständigem Verhalten das Paradies.

Heute, seit der Aufklärung, ahnen wir, dass wir nur genau dieses eine Leben haben und versuchen es aktiv zu gestalten und zu leben – ein Bewusstsein, das einem kollektiv geteilten Existenzialismus gleicht. Deshalb sind uns auch unsere Familie, insbesondere unsere Kinder, die unser Leben im gewissen Sinne weiterleben, aber auch unsere Freundschaften, so wichtig. Das sind alles Stützen, die einem das Gefühl geben können, über den eigenen Tod hinaus präsent zu bleiben.

Mit technologischen Entwicklungen gehen auch immer Versprechen einher. So sollten uns auch die Automatisierung und die Digitalisierung freier machen, uns Arbeit abnehmen. Zuzeiten hat man den Eindruck, das Gegenteil ist der Fall, oder?
Die Arbeit hat sich mit technischen oder technologischen Entwicklungen seit jeher nur verändert, sie ist nicht weniger geworden. Es muss darum gehen, dass wir Schritt für Schritt mithilfe technologischer Fortschritte stupide Arbeit durch sinnstiftende ersetzen, die Arbeit also zu bereichern, anregender und mental attraktiver zu machen, um zermürbende, physisch und psychisch verschleißende Tätigkeiten aufzuheben.

Und wenn die Menschen das Gefühl haben, einer sinnstiftenden Tätigkeit nachzugehen, dann sind sie auch wieder bereit, mehr ihrer kostbaren Lebenszeit als Arbeitszeit einzusetzen?
Vielleicht. Das ist jedenfalls eine weitverbreitete Annahme in Unternehmen. Sie glauben ja gar nicht, wie viele Anfragen ich zu den Themen Sinnstiftung und Arbeitsattraktivität habe, die ich aber rundherum ablehne.

Warum?
Ich bin kein Unternehmensberater oder Betriebspsychologe, sondern ein Professor für Philosophie, der seine eigentlichen und ihm wichtigen Aufgaben im Bereich der Unterrichtung von Studierenden und der Forschung sieht.

Sie selbst scheinen Ihre Arbeit sehr zu lieben. Sie sind gerade 70 geworden und gestalten gerade hier an der Columbia University in New York Ihre zweite Karriere. Auch viele andere Professoren, Spitzenpolitiker und Topmanager können nicht aufhören zu arbeiten. Warum nicht?
Das ist die Drohung leerer Zeit im Alter. Sie wollen noch nicht nichts mehr tun, weil sie wissen, dass danach nichts mehr kommt außer dem Tod. Dieses Potenzial an Lust und Zeit für nützliche Tätigkeiten wird im Übrigen gerade besonders in Deutschland total verschwendet. Die Einbeziehung der älteren Generation wenn, nicht in den Arbeitsmarkt, so doch in gesellschaftlich erforderliche, unterversorgte Arbeit, sollte dringend angegangen werden.

Es muss sich dabei nicht nur um finanziell vergütete Arbeit handeln, häufig reicht, will man noch die Erfahrung des Gebrauchtseins machen, die öffentliche Anerkennung durch staatliche Instanzen oder private Träger. Wie gesagt: Der Mensch braucht Arbeit zur Strukturierung seines Lebens und zur Erfahrung gesellschaftlicher Einbeziehung – und das gilt auch noch fürs Alter!

Welche Art Arbeit könnte das denn sein?
Oh, da sind die Möglichkeiten ziemlich unbegrenzt, das reicht von der Kindererziehung über Städteführungen, Gartenbau bei genügender Rüstigkeit, Museumsdienste bis hin, so paradox das klingen mag, zur Betreuung von Alten.

Irgendwann ist aber auch die Zeit für diese Ehrenrunde zu Ende …
Absolut. Den Zeitpunkt für den beruflichen Ausstieg zu finden ist eine große Kunst, in der man nie unterrichtet wurde.

Herr Professor Honneth, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.