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„Ich wollte die Leute eines Besseren belehren, die mir nicht einmal das Gymnasium zugetraut hatten“

Ohne jemals Abitur erworben zu haben, machte Natalya Nepomnyashcha ihren Masterabschluss in Großbritannien und gründete ein Social-Start-up. Ein Gespräch über Ehrgeiz, Mut und Chancen.

1989 in Kiew geboren, wuchs Natalya Nepomnyashcha in einem sozialen Brennpunkt in Bayern auf. Ihre Eltern hatten Mitte der 90er-Jahre in Kiew ihre Jobs verloren, ihr Vater als Buchbinder und ihre Mutter als Beschafferin in einer Fabrik. Die Sowjetunion war einige Jahre zuvor zusammengebrochen. Perspektiven? Keine.

Als sie 2001 mit ihren Eltern nach Augsburg kam, lernte Natalya Deutsch und kämpfte sich durch die Realschule. Bis sie überall Einsen hatte – außer in Sport. Als sie aufs Gymnasium wechseln wollte, wurde sie ausgebremst und bekam zu hören: „Wenn Sie aufs Gymnasium gehören würden, wären Sie schon auf einem.“

Trotzdem: Ohne jemals Abitur gemacht zu haben, absolvierte die junge Frau 2012 ihren Masterabschluss in Großbritannien. Nach dem Studium der Internationalen Beziehungen war sie unter anderem für die deutsch-russische Young-Leaders-Konferenz sowie eHealth Africa tätig. 2016 gründete sie das soziale Start-up „Netzwerk Chancen“ – ehrenamtlich und neben ihrer Vollzeitbeschäftigung.

Damit hat sich Natalya zum Ziel gesetzt, mehr Kinder aus sozial schwachen Familien zu Aufsteigern zu machen. Dazu bringt sie zivilgesellschaftliche Organisationen, Politiker, Beamte, Eltern, Wissenschaftler und Schüler zusammen, um gemeinsam nachhaltige Lösungen für gleiche Bildungs- und Aufstiegschancen zu entwickeln. Partner wie die Deutschlandstiftung Integration, die Stiftung Bildung und Gesellschaft sowie die BMW Foundation glauben an Nepomnyashchas ehrenamtliches Engagement und unterstützen ihre Arbeit. Ich spreche mit der ehrgeizigen und engagierten Frau, die ich im vergangenen Jahr persönlich auf der Karrieremesse „herCareer“ getroffen habe und duze, über ihren beeindruckenden Lebensweg:

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Natalya, du kommst aus einem Hartz-IV-Haushalt und hast einen Migrationshintergrund. Dein Weg zum Studium und ins Berufsleben gestaltete sich schwierig – magst du ihn kurz beschreiben?
Gerne. Mit meinen Eltern sind wir 2001 nach Deutschland eingewandert, da war ich elf Jahre alt und sprach kein Wort Deutsch. Wir ließen uns in Augsburg nieder und ich besuchte eine Übergangsklasse, auf der ich intensiv Deutsch lernen konnte. Etwa neun Monate später wurde ich nach einer kurzen Prüfung auf eine Realschule geschickt. Die Prüfer waren der Meinung, dass ich das Gymnasium nicht schaffen würde. 2006 hatte einen Notenschnitt von 1,3 und habe auf eigene Faust versucht, aufs Gymnasium zu wechseln. Dort hat mir ein Mitarbeiter der Schulleitung aber gesagt, dass ich da nicht hingehören würde. Also machte ich 2007 meinen Realschulabschluss als Schulbeste, mit einer Eins in Deutsch. Gleich daraufhin zog ich nach München und machte eine schulische Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin. Ich war 17, meine Eltern lebten von Hartz IV, es war also sehr hart, mir das Leben in München zu finanzieren. Ich bekam 200 Euro Bafög und musste nebenbei arbeiten. Nach dieser Ausbildung besuchte ich eine Fachakademie und schloss diese 2011 als staatliche geprüfte Übersetzerin ab. Der Abschluss wurde in England als ein Undergraduate Degree – also ein Bachelor – anerkannt. So konnte ich dort einen Master in Internationalen Beziehungen machen.

Du bist in Kiew geboren, in einem sozialen Brennpunkt in Bayern aufgewachsen und hast dich für Abitur und Studium alleine auf den Weg nach England gemacht – hattest du eine Vision, die dir dafür Kraft und Motivation gegeben hat?
Ein Hochschulabschluss war auf jeden Fall der große Traum. Ich wollte all die Leute eines Besseren belehren, die mir nicht einmal das Gymnasium zugetraut hatten. Es war also eine gesunde Wut. Gleichzeitig wollte ich im Bereich der internationalen Politik arbeiten und wusste, dass das nur mit Hochschulabschluss möglich ist. Und da ich kein Abitur hatte, musste ich den Umweg über England machen. So sind wir, soziale Aufsteiger – durchsetzungsstark und immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, wo auf den ersten Blick keine ist.

Wann und warum hast du dich entschlossen, ein Start-up zu gründen?
Alles fing mit einem Buch an. „Du bleibst, was du bist“ von Marco Maurer. In dem Buch geht es um systemische Hürden für den sozialen Aufstieg in Deutschland. Einige Aufsteiger sprechen in dem Buch darüber, dass es einem hierzulande viel zu schwer gemacht wird aufzusteigen. Ich fand mich darin wieder, und mich überkam der starke Wunsch, etwas an der Situation verändern zu wollen. Das war Ende 2015. 2016 habe ich Netzwerk Chancen gegründet.

Was muss denn konkret passieren, damit alle Kinder die gleichen Chancen auf Bildungsaufstieg bekommen?
Ich könnte einen Maßnahmenkatalog nennen, aber die wichtigsten Maßnahmen in meinen Augen sind zum einen der Ausbau der individuellen Förderung von der Geburt bis zum Berufseinstieg und zum anderen die Abschaffung des mehrgliedrigen Schulsystems. Ob in der Krippe, dem Kindergarten, der Schule oder beim Berufseinstieg: Es ist wichtig, Kinder und junge Menschen als Individuen zu betrachten und sie individuell da zu fördern, wo sie jeweils Nachholbedarf haben und wo ihre besonderen Stärken liegen. Dafür müssen Konzepte, die es bereits gibt, umgesetzt werden. Der Kernpunkt ist natürlich, dass wesentlich mehr pädagogisches und beratendes Personal eingestellt werden muss. Zum anderen gehen uns immer da Talente verloren, wo wir ihnen Barrieren in den Weg stellen. Das mehrgliedrige Schulsystem ist eine solche Barriere. Wir brauchen Schulen, an denen jeder bis zum Abitur bleiben kann, sofern er oder sie das wünscht und die Leistungen dafür erbringt. Um ein Totschlagargument hier vorwegzunehmen: Es geht uns hier keinesfalls darum, dass jeder studiert. Es darf nur nicht von der Herkunft abhängen, ob man es schafft oder nicht. Und das ist heutzutage leider zu oft der Fall.

Wie unterscheidet sich eure Arbeit von dem, was Katja Urbatsch mit der Initiative Arbeiterkind.de macht?
Vorweg: Katja ein tolles Rolemodel, und ich bin froh, ihr jederzeit schreiben zu können, wenn ich einen Ratschlag brauche! Mit „Netzwerk Chancen. Aufsteiger“ bieten wir ideelle Förderung für junge Erwachsene aus bildungsfernen oder finanzschwachen Familien, unabhängig davon, ob sie ein Studium anstreben, längst abgeschlossen haben oder gar nicht studieren möchten. Es geht darum, dass sie sich selbst verwirklichen. Das Durchschnittsalter unserer derzeit 300 Mitglieder liegt bei 29. Uns geht es vor allem darum, sie durch Workshops in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken, ihnen Arbeitgeberkontakte zu vermitteln und Tipps für den Karriereerfolg mitzugeben. Denn Menschen aus prekären Verhältnissen fehlen vor allem drei Sachen: Selbstbewusstsein, Informationen und Kontakte. Arbeiterkind.de hingegen wendet sich in erster Linie an Schüler aus Nichtakademiker-Haushalten und zeigt ihnen auf eine beeindruckende Art und Weise die Wege zum Studium auf.

Du führst die Initiative „Netzwerk Chancen“ ehrenamtlich und nebenberuflich – was ist dein Vollzeitjob, und wie bekommst du alles unter einen Hut?
Tatsächlich arbeite ich in Vollzeit als Beraterin bei der Berliner PR-Agentur Schoesslers. Für Netzwerk Chancen bin ich nach der Arbeit und am Wochenende tätig. Ich bin der Meinung, dass man ehrenamtlich und nebenberuflich sehr wohl etwas Großes und Professionelles auf die Beine stellen kann. Dafür muss man knallhart priorisieren und nur Aufgaben „anfassen“, die auch einen Ertrag versprechen. Und man muss das Ziel vor Augen haben und geradeaus darauf hinarbeiten. Alles, was dafür nicht unbedingt notwendig ist, sollte man links liegen lassen.

Weißt du noch, was du werden wolltest, als du klein warst?
Eine Zeit lang Schauspielerin. Ich bin ein großer Fan von Arthouse-Filmen und hatte früher eine sehr romantische Vorstellung von Drehsets. Dann habe ich bei ein paar Filmen als Statistin mitgemacht, und der Wunsch war verflogen. Die meiste Zeit verbringt man am Set mit Warten, das wäre mir zu langweilig.

Gibt es etwas, das du aus Angst gemieden hast, und es nun bereust?
Ich habe keinen Führerschein. Mit 19 bin ich einmal durch die praktische Prüfung gerasselt. Seitdem habe ich es nicht noch einmal probiert, da ich Angst hatte, es wieder nicht zu schaffen. Nun fehlt mir durch den Job und meine Arbeit für Netzwerk Chancen eigentlich die Zeit für die Fahrschule. Aber ich möchte es unbedingt irgendwann noch einmal angehen.

Wie fängt dein Tag an?
Mit E-Mails und Social Media noch im Bett, leider. Diese schlechte Angewohnheit konnte ich mir noch nicht abgewöhnen. Danach trinke ich warmes Wasser mit einem Spritzer Zitronensaft. Dann weiß mein Körper, dass ich wach und für das Frühstück bereit bin.

Was machst du morgens als erstes im Büro?
Wenn Buffy, die Schäferhündin unserer Geschäftsführerin, da ist, dann bekommt sie erstmal Streicheleinheiten. Dann mache ich Tee, hole ein Glas Wasser und beantworte die ersten Mails.

Was sind deine Stärken?
Absolute Zuverlässigkeit, hohe Geschwindigkeit und die Fähigkeit, realistische Prozesse aufzusetzen, die tatsächlich zum Ziel führen und nicht solche, die nur in der Theorie gut klingen.

Wer ist dein persönliches Rolemodel und warum?
Steve Jobs. Er kam aus einfachen Verhältnissen, hat hart gekämpft, musste Rückschläge erleiden und hat trotzdem den Alltag von Milliarden von Menschen verändert.

Bitte ergänze den Satz: Ich unterstütze meine Mitarbeiter (Nachwuchskräfte, KollegenInnen) in schwierigen Situationen, indem…
... ich stets aufzeige, wie wir trotzdem zusammen zum Ziel kommen.

Angenommen eine Kollegin oder Mitarbeiterin denkt oft: „Ich verdiene den Erfolg gar nicht“, „Ich bin gar nicht gut genug“, „Das schaffe ich nie“, „Andere sind um Welten besser als ich…“ – Was rätst du?
Sich vor den Spiegel zu stellen und ganz oft die Affirmation: „Ich bin genug“ zu wiederholen. Insbesondere wir Frauen glauben zu oft, nicht genug zu sein. Dabei ist jeder Mensch ein Geschenk!

Ein No-Go im Umgang mit Mitarbeitern ist für mich…
... Mitarbeiter nicht ihren Stärken und Wünschen gemäß einzusetzen. Insbesondere für kleine Unternehmen ist dies vielleicht nicht ganz einfach umzusetzen. Doch meistens lassen sich durch Gespräche für jeden Mitarbeiter Aufgaben finden, die seinen Stärken und Wünschen entsprechen. Reden und sich auch als Führungskraft Feedback einholen ist Gold wert.

Feedback ist für mich…
... essenziell, doch es sollte auch Hand und Fuß haben. Sowohl positives als auch negatives Feedback muss mit Beispielen unterfüttert werden. Wie jedes gute Argument auch.

Welches Tool ist bei der Arbeit für dich unverzichtbar?
Smartphone. Ich erledigt sehr viel mobil.

Dein persönlicher Produktivitätskiller?
Laute Musik.

Über ihre Erfolge sollten Frauen…
... öfter sprechen, ohne Angst zu haben, angeberisch zu wirken. Stolz auf das, was man selbst geleistet hat, ist gesund.

Her mit dem Geld: Dein Ratschlag an andere Frauen für Gehaltsverhandlungen?
Man muss dem Arbeitgeber aufzeigen, wie wertvoll man ist. Dafür ist eine Liste mit den eigenen Ergebnissen unverzichtbar. Man sollte aber auch angstfrei in das Gespräch gehen und im Hinterkopf behalten, dass der Markt gerade ein Arbeitnehmermarkt ist. Fachkräfte werden in fast allen Bereichen händeringend gesucht. Wenn man sich des eigenen Wertes bewusst ist, strahlt man das auch aus, was sich positiv auf das Gegenüber auswirkt.

Verbündete und Mentoren finde ich, indem...
... ich auf Veranstaltungen zu interessanten Themen gehe und mich nicht scheue, Fremde anzusprechen.

Der größte Benefit, den du bisher aus einem deiner Netzwerke gezogen hast?
Das Wissen darum, dass es für jedes Problem einen Menschen in meinem Netzwerk gibt, der mir helfen kann.

In Konfliktsituationen bin ich…
... ruhig und argumentiere sachlich. Gleichzeitig versuche ich, auch die andere Seite zu verstehen.

Pannen sind…
... Lehren.

Auf welche Fehlentscheidung hättest du rückblickend trotzdem gerne verzichtet?
Es gab Situationen, in denen ich bis zuletzt mein Recht durchsetzen wollte. Das liegt sicher auch daran, dass ich durch meine Herkunft ein extrem ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden habe und unbedingt bekommen möchte, was mir meiner Meinung nach zusteht. Später habe ich verstanden, dass ich meine Energie nicht dafür aufbringen und lieber nachgeben sollte. Meistens haben die Sachen, um die es geht, doch keinen so großen Einfluss auf die eigene Zukunft, wie man ursprünglich denkt.

Wenn ich mich bei deinen Freunden erkundigen würde: Für welche alternativen Karriereoptionen wärst du geeignet?
Erzieherin – ich liebe Kleinkinder – oder Filmproduzentin, da ich sehr gerne organisiere und den Überblick über Aufgaben, Zeit und Budget behalte.

Wie gehst du mit Stress um?
Ich versuche, ihn zu vermeiden, indem ich im Voraus plane. Wenn es doch mal stressig werden sollte, frage ich mich immer, was schlimmstenfalls passiert, wenn ich die Aufgabe doch nicht – pünktlich – schaffe. Meistens komme ich zu dem Schluss, dass die Welt auch dann nicht untergeht und werde gleich ruhiger.

Nein sagen sollten Frauen zu…
... Menschen, die uns nicht so viel zutrauen oder gar sagen: „Die Frauen wollen doch gar nicht Karriere machen.“ Solche Menschen sollte man am besten meiden.

Du merkst, dass du unglücklich bist in deinem Job. Was tust du?
Ich spreche mit dem Vorgesetzten und/oder der Personalabteilung und versuche, eine Lösung zu finden.

Ein Satz, den eine gute Führungskraft niemals sagen würde?
Ich weiß es besser.

Anderen Chefs würde ich gerne sagen, …
... steht euren MitarbeiterInnen nicht im Weg. Wenn sich jemand schnell weiterentwickeln möchte, unterstützt sie dabei. Man weiß nie, wann man sich wieder begegnet. MitarbeiterInnen, die sie mal unterstützt haben, werden ihnen gegenüber loyal bleiben, und das ist heutzutage sehr viel wert.

Wie schaltest du abends ab, und wann gehst du ins Bett?
Ich liebe Eiskunstlauf und sehe mir oft Videos dazu auf Youtube an. Ansonsten gucke ich auch gerne deutsche Krimi-Serien. Meistens bin ich gegen 23 Uhr im Bett.
Natalya, vielen Dank für das Interview.