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Erneuerbare Energien produzieren erstmals mehr Strom als Kohle- und Atomkraftwerke

Die Politik debattiert über den Kohleausstieg, der Markt schafft Fakten: Die Produktion von Kohlestrom ist im ersten Halbjahr eingebrochen. Gaskraftwerke feiern ein überraschendes Comeback.

Das Kohlekraftwerk Mehrum und Windräder produzieren Strom in Hohenhameln im Landkreis Peine. Der Anteil der Windenergie wächst. Foto: dpa
Das Kohlekraftwerk Mehrum und Windräder produzieren Strom in Hohenhameln im Landkreis Peine. Der Anteil der Windenergie wächst. Foto: dpa

Die Tausenden Schüler, die Woche für Woche in Deutschland für mehr Klimaschutz demonstrieren, könnten es als Erfolg verbuchen: Am 15. Juni nahm der Energiekonzern EnBW im sächsischen Lippendorf ein großes Braunkohlekraftwerk vorerst vom Netz.

Tatsächlich hatte die Entscheidung aber nichts mit der „Fridays for Future“-Bewegung zu tun und auch nichts mit dem von der Politik angestoßenen Kohleausstieg. Im Gegenteil: EnBW würde gerne mit der großen Anlage weiter Strom produzieren, aber es rechnet sich für den Energiekonzern schlichtweg nicht. Die Marktbedingungen seien aktuell nicht ausreichend, hält der Konzern fest.

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In der Energiebranche sorgte die Nachricht für großes Aufsehen. Natürlich sind in den vergangenen Jahren schon viele Kraftwerke von Wind- und Solarenergie aus dem Markt gedrängt worden. Das waren aber in erster Linie Gaskraftwerke und später auch Steinkohleanlagen. Braunkohlekraftwerke, die so günstig wie sonst nur Kernkraftwerke Strom produzierten, galten aber bisher als unangreifbar. Noch dazu gehört Lippendorf mit 20 Jahren eher zu den jüngeren Anlagen und ist vergleichsweise effizient.

Tatsächlich ist der Anteil von Kohlekraftwerken an der deutschen Stromerzeugung im ersten Halbjahr aber überraschend stark gesunken. Wind-, Solar- und sogar Gasanlagen verdrängten Steinkohlekraftwerke im großen Stil aus dem Markt, aber zunehmend eben auch Braunkohleanlagen. Wie nachhaltig der Trend ist, bleibt zwar abzuwarten. Aber für Klimaschützer ist die Schlussfolgerung klar: Es geht auch ohne Kohle.

„Das ist natürlich eine Momentaufnahme. Sie zeigt aber, wie Deutschland auch mit immer weniger Kohle Strom erzeugen kann“, urteilt Christoph Podewils vom Think-Tank Agora Energiewende. Nach einer Auswertung von Agora Energiewende, die dem Handelsblatt vorliegt, stammten im ersten Halbjahr nur noch 27 Prozent des in Deutschland produzierten Stromes aus Braun- und Steinkohleanlagen.

Die erneuerbaren Energien kamen dagegen auf einen Anteil von 41,9 Prozent. Damit wurde erstmals mehr Strom mit Wind, Sonne, Wasser oder Biomasse erzeugt als mit Kohle und Kernenergie zusammen – und das deutlich. Während die Produktion von grünem Strom um 10,5 Prozent kletterte, sank die Produktion der Braunkohleanlagen um 19,3 Prozent und die in Steinkohlekraftwerken sogar um 30,2 Prozent.

Für die erneuerbaren Energien waren die Bedingungen aber auch perfekt: Der Jahresanfang war extrem windreich, zuletzt war es außergewöhnlich sonnig. Das Klima hat jedenfalls profitiert. Die CO2-Emissionen der Stromwirtschaft sanken im ersten Halbjahr um 16,4 Prozent auf 112,7 Millionen Tonnen.

„Das erste Halbjahr war schon sehr auffällig. Ökostrom und Gas haben Kohle und Kernenergie deutlich abgehängt“, sagt Podewils.

Tatsächlich feierten auch Gaskraftwerke ein überraschendes Comeback: Ihre Stromproduktion stieg um 10,7 Prozent. Vor allem diese Entwicklung kam völlig unerwartet. Gerade Gasanlagen hatten in den vergangenen Jahren unter dem politischen geförderten Boom von Wind- und Solarenergie gelitten. Da sie am teuersten Strom produzierten, waren sie als erste aus dem Markt gedrängt worden. Erstmals seit zehn Jahren sind die Margen in Gaskraftwerken aber auf Monatsbasis besser als in fast allen Steinkohlekraftwerken – und inzwischen sogar besser als in vielen Braunkohleanlagen.

Gaskraftwerke sind sehr flexibel

Die deutsche Tochter des norwegischen Energiekonzerns Statkraft registriert das mit Erleichterung. Jahrelang drohten die beiden Gaskraftwerke, die die Norweger in Hürth bei Köln gebaut haben, – wie bei vielen anderen Gaskraftwerksbetreibern –, zur Investitionsruine zu werden. Rund 750 Millionen Euro hatte Statkraft dort investiert.

Als das erste der beiden Gas- und Dampfturbinenkraftwerke (GuD) 2007 ans Netz ging, war noch alles bestens. Gaskraftwerke wurden als perfekte Ergänzung der erneuerbaren Energien gefeiert. Schließlich stoßen sie vergleichsweise wenig CO2 aus und können flexibel hoch- und runter gefahren werden. Gaskraftwerke können also die witterungsbedingten Schwankungen von Solar- und Windenergie bestens abfangen.

Als 2013 das zweite Kraftwerk fertig wurde, war die Euphorie aber längst tiefer Depression gewichen. Die Strompreise waren unter Druck, weil Wind- und Solarenergie den Markt fluteten. Gleichzeitig waren die Gaspreise hoch. Gaskraftwerke, die Anlagen mit den höchsten Produktionskosten, wurden geradezu aus dem Markt gefegt. Die beiden Anlagen in Hürth mussten an vielen Tagen im Jahr komplett vom Netz bleiben.

2016 und 2017, als sich die Strompreise im Großhandel erholten, konnte Statkraft zwar wenigstens die Betriebskosten decken. 2018 sanken die Einsatzzeiten aber schon wieder.

In diesem Jahr läuft es endlich richtig gut. Die beiden Anlagen waren in den ersten sechs Monaten schon 1950 Stunden am Netz. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2015 waren es nur 1200 Stunden.

„Vor allem Januar und Juni sind außergewöhnlich und wir erwarten auch für den Rest des Jahres einen hohen Einsatz der beiden Kraftwerke“, sagt Statkraft-Sprecherin Anne Joeken. Sie führt neben den niedrigen Gas- und hohen Strompreisen vor allem auch die hohen CO2-Preise an. Das mache Gaskraftwerke im Vergleich zu weniger effizienten Kohlekraftwerken mit deutlich höherem CO2-Ausstoß endlich konkurrenzfähig. „Als wir die Investitionsentscheidungen für Knapsack I und II getroffen haben, haben wir diese Entwicklung erwartet“, sagt Joeken: „Allerdings sind wir davon ausgegangen, dass sie früher eintreffen würde.“

In den vergangenen Jahren seien Gaskraftwerke in der Regel deutlich teurer als Kohleanlagen gewesen, bestätigt Jörn Higgen, der beim Energiekonzern Uniper die Abteilung Marktanalyse leitet: „Jetzt sind Gaskraftwerke im Schnitt günstiger als Kohlekraftwerke.“ Das gelte vor allem im Vergleich zu Steinkohleanlagen. Fast alle Gaskraftwerke seien derzeit bei den kurzfristigen Einsatzkosten günstiger als die mit Steinkohle befeuerten Kraftwerke. Effiziente Gaskraftwerke könnten aber sogar mit Braunkohleanlagen mithalten. „Es gibt derzeit schon einen überraschenden Verdrängungswettbewerb, bei dem Gaskraftwerke sich derzeit häufig durchsetzen“, sagt Higgen.

Der Gaspreis ist im Keller

Der Grund ist simpel: Gas ist derzeit außerordentlich günstig. Am Handelspunkt TTF in den Niederlanden kostete Gas zuletzt sogar knapp unter zehn Euro je Megawattstunde. Vor einem Jahr war es noch rund das Doppelte. „Es gibt derzeit in Europa ein enormes Angebot an Gas“, sagt Higgen.

Da sind zum einen die Nachwirkungen des milden Winters. Die Gasspeicher sind immer noch gut gefüllt. Aktuell zu 80 Prozent – vor einem Jahr waren es gerade einmal 50 Prozent. Gleichzeitig sind zuletzt viele Exportterminals für verflüssigtes Gas (LNG) in Betrieb gegangenen, unter anderem in den USA, Asien und Russland. Zudem wächst die Nachfrage nach Gas wegen des schwächeren Wachstums der Weltwirtschaft und des Handelskriegs langsamer. Die Folge: Es drängt viel Gas nach Europa, wo die Preise zwar auch im Keller sind, aber im weltweiten Vergleich noch am höchsten.

Andererseits ist zwar auch Steinkohle günstig. Ende Juni kostete eine Tonne rund 47 US-Dollar – nur halb so viel wie vor einem Jahr. „Der Kohlepreis müsste sich aber rund halbieren, damit die Kraftwerke mit Gas konkurrieren könnten“, sagt Higgen.

Die Kohleanlagen haben schließlich eine zusätzliche Bürde zu tragen: Den inzwischen ordentlichen CO2-Preis. Der Preis für Zertifikate, die die Stromproduzenten für die Emission einer Tonne des klimaschädlichen CO2 vorweisen müssen, notiert aktuell bei 28 Euro, nachdem er Jahre lang bei kaum mehr als fünf Euro dümpelte. Das trifft zwar auch Gas, aber Kohle ungleich mehr, weil in den Kohlekraftwerken mehr CO2 ausgestoßen wird.

„Die GuD-Anlagen sind dabei nicht nur günstiger als Steinkohle, sondern sogar effizienteste als einige Braunkohlekraftwerke“, bestätigt Tobias Kurth, Geschäftsführer beim Berliner Analysehaus Energy Brainpool. Nach seinen Berechnungen liegen die Grenzkosten für ein beispielhaftes, modernes Gas- und Dampfturbinenkraftwerk bei knapp unter 30 Euro. Er setzt dabei einen Wirkungsgrad von 53 Prozent an. Dieser gibt an, zu welchem Prozentsatz, also wie effizient, der eingesetzte Brennstoff in Strom umgewandelt wird. Dabei kommen Gasanlagen grundsätzlich auf höhere Wirkungsgrade als mit Kohle befeuerte Kraftwerke.

Bei einem Steinkohlekraftwerk, mit einem repräsentativen Wirkungsgrad von 43 Prozent, liegen die Grenzkosten bei 37,40 Euro. Und selbst bei einem älteren Braunkohlekraftwerk mit 38 Prozent Wirkungsgrad sind es mit 34,50 Euro mehr als bei den modernen GuD-Anlagen.

Lange Zeit waren die Margen negativ

Nach einer Analyse von Bloomberg New Energy Finance hat es eine solche Situation, dass Gaskraftwerke in diesem Maße rentabler als Stein- und sogar Braunkohleanlagen sind, seit zehn Jahren nicht mehr gegeben. Das belegen die Marktdaten: Die Profitabilität von Gas- und Steinkohlekraftwerken wird mit Spreads gemessen. Beim Clean Spark Spread werden die Brennstoffkosten eines Gaskraftwerks zuzüglich der Kosten für CO2-Zertifikate, in Relation zum Strompreis gesetzt. Diese Bruttomargen werden jeweils am Terminmarkt für Monats-, Quartals- oder Jahreskontrakte berechnet. Die Clean Dark Spreads errechnen die Rentabilität entsprechend für Steinkohlekraftwerke.

Nach Berechnungen des Branchenmagazins Energie Informationsdienst (EID) lag der Clean Spark Spread für ein Muster-Gaskraftwerk mit einem Wirkungsgrad von 49 Prozent für Grundlaststrom, der in einem Monat geliefert werden soll, zuletzt bei 3,17 Euro je Megawattstunde (MWh). Der Clean Dark Spread für ein repräsentatives Steinkohlekraftwerk mit 38 Prozent Wirkungsgrad war dagegen mit 1,87 Euro negativ. Kein Wunder, dass die Anlagen vom Netz gehen.

Im sonnigen Juni war die Situation besonders extrem, an einzelnen Tagen wurden Steinkohleanlagen zu Statisten degradiert. Am 23. Juni beispielsweise lag der Anteil von Steinkohle am Energiemix bei gerade noch zwei Prozent.

Bei Spitzenlaststrom, den die Betreiber anbieten, um die Spitzen in der Nachfrage wie beispielsweise in den Mittagsstunden abzufangen, lag die Bruttomarge für Gaskraftwerke den EID-Daten zufolge zuletzt sogar bei üppigen 7,70 Euro. Steinkohleanlagen können mit 2,66 Euro zwar auch rentabel arbeiten – aber eben deutlich weniger Rendite einstreichen als Gasanlagen. Endlich setzten die hohen CO2 Preise „effektive Preissignale“ zur Reduzierung der CO2 Emissionen, sagt Statkraft-Sprecherin Joeken. Endlich werde deutlich, dass der europäische Emmissionshandel als „Schlüsselinstrument für den Klimaschutz“ funktioniere.

Wie dramatisch sich der Markt gedreht hat, verdeutlicht ein Blick auf die langfristige Entwicklung der Spreads. Die Bruttomargen der Gaskraftwerke für Monatskontrakte in der Grundlast waren bis zum Frühjahr – mit wenigen Ausnahmen – mehr als fünf Jahre lang negativ. Bei Kohlekraftwerken war es genau anders herum. „Natürlich sind Kohlekraftwerke auch noch am Netz“, sagt Uniper-Experte Higgen. „Sie werden aber derzeit nicht permanent ausgelastet.“ Am Wochenende beispielsweise werden sie runtergefahren und in Zeiten von starkem Wind gar nicht erst hochgefahren.

Aber wie nachhaltig ist die Entwicklung? Higgen glaubt, dass die Kohlekraftwerke spätestens im Winter, wenn das Gas aus den Speichern genommen wird und die Heizperiode beginnt, gegenüber Gaskraftwerken wieder aufholen könne: „Trotzdem dürften Gaskraftwerke dann noch wettbewerbsfähig bleiben“, glaubt er.