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Wie die westliche Ordnung verloren geht

Das soziale Kapital, auf dem der Westen aufbaut, wird aufgezehrt. Ob Meinhard Miegel, Wolfgang Streeck oder Ulrike Ackermann - das stellen Konservative ebenso fest wie Linke und Liberale. Nur wer stoppt den Werteverfall?

Die politischen Ordnungsbegriffe des 20. Jahrhunderts - „links“, „rechts“, „konservativ“, „liberal“, „sozialdemokratisch“ - haben zur Beschreibung der Parteipolitik weitgehend ausgedient. Wenn die „Linke“ Sahra Wagenknecht von Ludwig Erhard schwärmt, und eine Parteivorsitzende der einst konservativen CDU als Bundeskanzlerin um die Zuneigung der Grünen buhlt, die einst als linke Schmuddelkinder galten, dann wird klar, dass sich alte Gegensätze auflösen. Während mit dem Aufkommen neuer Parteien als „Alternative“ in fast allen Ländern der westlichen Welt zugleich neue Bruchlinien offenbar werden.

Die Auflösung alter Lager wird aber auch im Geistesleben sichtbar. Zu Anfang ihrer wissenschaftlichen Karrieren in den 70er Jahren haben sich die Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel und Wolfgang Streeck vermutlich als verschiedenen Lagern zugehörig empfunden. Hier Miegel, der konservative, liberale, bürgerliche Mitstreiter des großen CDU-Vordenkers Kurt Biedenkopf, dort Streeck, der an marxistischen Analytikern geschulte und lange Jahre der SPD angehörende Kapitalismus-Forscher. Heute kommen beide zu erstaunlich ähnlichen Schlüssen, wie in einem Gespräch mit der WirtschaftsWoche deutlich wird. Beide sehen die bisherigen Ordnungen der westlichen Gesellschaften im Verfall begriffen. Ein wenig weniger pessimistisch zeigt sich Ulrike Ackermann. Doch auch die Gründerin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung sieht die westliche Ordnung „unter Beschuss“.

Den Verfall kann man einerseits aus kulturkritischer Perspektive begreifen, wie Miegel das tut: Als weit fortgeschrittene „Proletarisierung der Gesellschaft“, die „keine Formen, keine Strukturen, keine Prioritäten mehr“ kennt. Einer Gesellschaft, in der alle Organisationsformen sich „zur eigenen Karikatur“ entwickeln.

Die SPD führt das mit ihrer grotesken Martin-Schulz-Komödie derzeit besonders eindrucksvoll vor: Man klammert sich in geradezu hysterischer Begeisterung an eine Person, deren politische Substanz aus programmatischen Luftballons wie „soziale Gerechtigkeit“ und „Respekt für jeden Einzelnen“ besteht. Möglicherweise ist die Luft nun schon nach der ersten kleinen Wahlschlappe im Saarland raus.

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Streeck sieht dasselbe Problem aus anderer Perspektive. Er seziert die sozio-ökonomische Gegenwart mit dem scharfen Skalpell der linken Meisterdenker Marx und Polanyi. Die Auflösung des Kapitalismus als Gesellschaftsform, die er festmacht, ist letztlich dasselbe, was Miegel als Sittenvergessenheit beobachtet. Und so sind sich beide einig: Die kulturelle Enthemmung und der enthemmte Konsumkapitalismus gehen Hand in Hand, schaukeln sich beide auf – und zerreiben gemeinsam das Fundament der gesellschaftlichen Ordnung.

Was ist dieses Fundament? Das sind jene von Ralf Dahrendorf so genannten „Ligaturen“ als „tiefe kulturelle Bindungen, die Menschen in die Lage versetzten, ihren Weg durch die Welt der Optionen zu finden.“ Moderne Gesellschaften beanspruchen dieses historisch gewachsene soziale Kapital ebenso über Gebühr wie die natürlichen Lebensgrundlagen - ohne gleichzeitig für ihre Bewahrung oder Erneuerung zu sorgen. Verbraucht sind sie, wie Dahrendorf wusste, wenn „alles … gleich gültig, damit gleichgültig“ wird.


Fassaden der Gesellschaft einsturzgefährdet

Dieser Verlust von Ordnungen vollzieht sich nicht als krachender Zusammenbruch. Soziale Ordnungen explodieren nicht, sondern zerrinnen wie Sand zwischen den Fingern. Man hielt sie eben noch für selbstverständlich und belastbar. Man glaubt, dass Trump nicht Präsident werden und Großbritannien natürlich nicht die EU verlassen wird. Dass die Fassaden der Gesellschaft nicht mehr auf Betonfundamenten, sondern auf Sand stehen, merkt man erst, wenn sie auf die Probe gestellt werden. Es genügt dann ein Windstoß oder ein Schubs, um sie zum Einsturz zu bringen.

Von den Regierenden zu erwarten, dass sie diese Fundamente festigen oder erneuern, ist illusionär. Das soziale Kapital, auf dem westliche Gesellschaften und ihre politischen und ökonomischen Systeme erreichtet sind, ist nicht nur verletzlich, sondern kann in einem freiheitlich-säkularen Gemeinwesen auch nicht „von oben“ einfach wiederhergestellt werden, wie Ernst-Wolfgang Böckenförde in dem nach ihm benannten „Diktum“ 1977 feststellte. Den Werteverfall aufzuhalten, den Miegel und andere Beobachter schon mindestens seit den 1970er Jahren feststellen, ist also keine politische Aufgabe, sondern eine kulturelle.

Solange Gesellschaften den Willen zur kulturellen Erneuerung ihrer Fundamente nicht besitzen, ist von den in diesen Gesellschaften gewählten Regierungen nichts anderes zu erwarten als die demonstrative Pflege der Fassaden, angetrieben von der Hoffnung, dass sie in ihren Lebzeiten nicht mehr auf die Probe gestellt werden. In Gesellschaften ohne festes Fundament, denen also alles gleichgültig ist, können Politiker die Lösung von Problemen, die gleichzeitig immer komplexer werden, kaum noch wirklich betreiben. Insbesondere gilt das für Probleme, die diese Politiker oder ihre Ziehväter selbst geschaffen haben.

Ackermann, Streeck und Miegel sind sich einig, dass die Einführung des Euro ein gigantischer Fehler war. Doch welcher Politiker der etablierten Parteien könnte das zugeben und die notwendigen Schlüsse ziehen, ohne sich selbst und letztlich die gesamte etablierte Funktionselite der Eurozone damit für gescheitert zu erklären? Dasselbe gilt für die Bildungs- und Wissenschaftspolitik. Dass die Schulreformen der letzten 20 Jahre in Deutschland aus einem der besten Bildungssysteme der Welt ein Trümmerfeld gemacht haben, sieht jeder halbwegs reflektierte Lehrer oder Hochschullehrer. Doch die Politik bekennt sich weiter zu den Bologna-Reformen, wie sie sich zum Euro bekennt.

Allzu menschlich ist das, wie Nietzsche wusste: „Denn so ist der Mensch! Ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt sein – gesetzt er hätte ihn nötig, so würde er ihn immer wieder für wahr halte.“ Die Funktionseliten in Deutschland und Europa haben ihre Glaubenssätze vom Euro, von den Bologna-Reformen und noch viele andere nötig – schließlich sind sie ihre Rechtfertigungsbasis.

Der große Physiker Max Planck schrieb in seinen Memoiren: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht dadurch in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.“ Das gilt wahrscheinlich nicht nur für die Wissenschaft.