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Wie weckt man die Stadt, die niemals schlief?

Eigentlich sollte sich New York diese Woche wieder mit Leben füllen. Aber alles, was den Reiz der Stadt ausmacht, schreckt Menschen derzeit noch ab. Ein Report aus einer Metropole in der Sinnkrise.

Den Höhepunkt der Coronakrise hat die Stadt wohl überstanden, doch bis zur Normalität bleibt ein weiter Weg. Foto: dpa
Den Höhepunkt der Coronakrise hat die Stadt wohl überstanden, doch bis zur Normalität bleibt ein weiter Weg. Foto: dpa

Manhattan, Montag, der 8. Juni. Es ist der Tag eins der Wiedereröffnung für New York. Doch von Aufbruchstimmung ist kaum etwas zu spüren. In Soho patrouillieren zwei Polizisten die leeren Bürgersteige der Lafayette Street entlang. Die Schaufenster des Nike-Stores sind ebenso mit Holzplatten zugenagelt wie die von Converse, Zara und der Yoga-Marke Lululemon. An einem ehemaligen Lagerhaus übermalt ein Schwarzer mit Atemmaske gerade mit weißer Farbe die Worte: „Say their name“.

Exakt 100 Tage und rund 22.000 Tote nach dem ersten offiziellen Coronafall in New York sollte das große Wiedererwachen beginnen. Bis auf den zurückgekehrten Baulärm und etwas mehr Verkehr ist von einer Renaissance in Amerikas Metropole Nummer eins allerdings wenig zu spüren.

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All das, was die Faszination der Stadt einst ausmachte – die Energie, die menschlichen Kontakte, Museen und Theater –, ist auf einmal zur Gefahr geworden. Überfüllte U-Bahnen oder Hochhäuser mit Hunderten Nachbarn machen heute Angst. Nach den jüngsten Ausschreitungen am Rande der George-Floyd-Demos hat sich die Stadt, die niemals schlief, sogar eine Ausgangssperre verordnet.

Wer konnte, ist aus dem Epizentrum der Coronakrise geflohen: Seit März haben bereits 420.000 New Yorker die Stadt verlassen und harren in den Hamptons, im Hudson Valley oder in Maine aus. Wie viele von ihnen zurückkommen, ist unklar. Politiker und Ökonomen rechnen damit, dass noch einmal so viele Menschen die Stadt verlassen werden, vielleicht sogar noch mehr.

Eine Krise wie in den 70er-Jahren?

Kathryn Wylde, Chefin der einflussreichen Organisation Partnership for New York City, die die Interessen der großen Unternehmen der Stadt vertritt, befürchtet einen Exodus: „Vor Corona waren viele New Yorker einfach träge. Sie liebten die Kultur und die Broadway-Shows und waren bereit, die hohen Steuern der Stadt zu zahlen und lange Anfahrtswege ins Büro in Kauf zu nehmen“, sagt sie. Doch vieles, was New York ausmachte, wird noch lange Zeit geschlossen bleiben. „Das ist eine Bedrohung für die Stadt.“

Wylde hat bereits die letzte große Krise in den 70er-Jahren miterlebt. Damals verließen Industrieunternehmen die Stadt, und die darauffolgende Massenarbeitslosigkeit und die ausbleibenden Steuereinnahmen führten New York 1975 fast in die Insolvenz. Brooklyn verlor damals 2,6 Millionen Einwohner. Es dauerte mehr als 40 Jahre, diese wieder zurückzugewinnen.

Die heutige Krise der Stadt sei sehr ähnlich, warnt Wylde. „Die Stadt hat schon eine Million Jobs verloren, und es wird schwierig sein, die zurückzubekommen.“

Ob Familien im großen Stil wegziehen, wird auch davon abhängen, ob die Schulen in New York im September wieder aufmachen. Das soll sich in den kommenden Wochen entscheiden. „Die Stadt ist sehr teuer, selbst für Leute mit einem gut bezahlten Job. Und jetzt, wo viele soziale und kulturelle Veranstaltungen verschwunden sind, ist es schwer zu rechtfertigen, viel Geld für eine winzige Wohnung zu zahlen“, erklärt Wylde.

Das sieht auch die Google-Software-Ingenieurin Miroslava Sotakova so. Die 37-Jährige ist mit ihren drei Kindern und ihrem Mann, der in der Finanzbranche arbeitet, bereits zu Beginn der Pandemie nach Pennsylvania geflohen. Nun überlegt die Familie, wie es weitergehen soll.

Es sei „nicht sehr rational, in New York zu bleiben“, sagt die Mathematikerin. In Brooklyn lebt sie in einer Drei-Zimmer-Wohnung. In den Suburbs könnte sich die Familie viel mehr Raum leisten.

Bis Dezember dürfen alle Google-Mitarbeiter ohnehin von zu Hause arbeiten. Auch danach wird das Arbeiten voraussichtlich ein Mix aus Büro und Homeoffice werden. Sotakova ist kein Fan von langem Pendeln. Aber: „Wenn wir nur zwei Tage die Woche ins Büro müssen, dann ist der Umzug aus der Stadt ins Umland viel realistischer.“

Sotakova sorgt sich auch über die finanziellen Folgen der Coronakrise für die Stadt. „Ich fürchte, dass die öffentlichen Schulen mit den Haushaltskürzungen wegen der Coronakrise schlechter werden. Das wäre ein weiterer Grund wegzugehen“, gibt sie zu bedenken.

Tatsächlich hat die Bekämpfung der Pandemie die Stadt und den Bundesstaat Milliarden gekostet. Allein die Stadt New York rechnet mit einem Steuerausfall von rund acht Milliarden Dollar, was etwa zehn Prozent entspricht. Bürgermeister Bill de Blasio fordert Zuschüsse aus Washington. Doch die sind noch nicht bewilligt. Wahrscheinlich werden viele geplante Investitionen in die Infrastruktur und in soziale Programme gestrichen. Vielleicht steigen auch die Steuern weiter. Das wiederum könnte noch mehr Leute aus der Stadt vertreiben.

Die Hoffnung ist nun, dass die New Yorker zumindest in der Region bleiben, statt nach Florida oder Texas zu ziehen, wo sie deutlich weniger Steuern zahlen müssen. So könnten sie von außerhalb immerhin ein paar Mal pro Woche ins Büro fahren.

Das ist ein Modell, das auch Malory Green vorschwebt. Die Köchin arbeitet für ein Food-Start-up in New York. Als die ersten Nachbarn in ihrem Haus an Covid-19 erkrankten, ist auch sie mit ihrer Familie ein paar Wochen aufs Land geflüchtet.

„Seit ich mit meinem Team gezeigt habe, dass ich auch im Homeoffice 100 Prozent produktiv bin, werde ich auch in Zukunft größtenteils von zu Hause arbeiten dürfen“, freut sich Green. Sie schaut sich mit ihrer Familie bereits nach Häusern um, die zwei Stunden entfernt von New York liegen. Wo die Lebenshaltungskosten niedriger und die Lebensqualität höher sind. Ihre Familie denke schon seit Längerem darüber nach wegzuziehen. „Aber erst Corona und die veränderte Arbeitswelt bietet uns nun die konkrete Gelegenheit“, sagt sie.

Hochhäuser gelten als Virenherde

Die Verschiebungen in New York werden sich auch auf dem Immobilienmarkt niederschlagen, der seit Jahrzehnten fast nur Boomjahre kannte. „In den vergangenen 25 Jahren sind die Menschen in den Städten auf immer weniger Platz zusammengerückt. Jetzt sehen wir die Umkehr dieses Trends“, beobachtet auch Jonathan Woloshin, der führende Immobilienanalyst der UBS in New York. Dass das das Ende von New York bedeute, glaubt er zwar nicht. „Aber die Krise wird definitiv das Verhalten der Menschen ändern.“

Während der Häusermarkt in den Vororten heiß läuft, sinken in den Luxus-Wohntürmen bereits die Preise. Wer will sich schon Aufzug und Flur mit Hunderten Nachbarn teilen?

Bei den New Yorker Büro-Hochhäusern rechnet UBS-Analyst Woloshin damit, dass die Nachfrage nach modernen Gebäuden mit guten Lüftungssystemen steigen wird. Die vielen alten Bürotürme, die seit Jahrzehnten nicht renoviert wurden, werden es dagegen schwer haben, Mieter zu halten oder neue zu finden. Einzelhandelsimmobilien wiederum waren bereits vor der Coronakrise deutlich weniger gefragt. „Das wird sich noch weiter verstärken“, glaubt der UBS-Analyst.

Finanzinstitute haben bereits vor Jahren damit begonnen, Backoffice-Jobs auszulagern, nach New Jersey etwa oder wie die Deutsche Bank nach Florida, um Kosten zu sparen. „Davon werden wir künftig mehr sehen“, ist Woloshin überzeugt.

Für die Konjunktur in der Stadt sind das keine guten Nachrichten. Die Wirtschaft von New York City allein ist die zehntgrößte der Welt und hat eine höhere Wirtschaftsleistung als Länder wie Kanada, Russland und Spanien. In der Metropolregion rund um die Stadt, die Teile von New Jersey und Connecticut umfasst, leben 20 Millionen Menschen, so viele wie nirgendwo anders in den USA.

Die Wall Street stellt sich längst auf eine Welt ein, in der nur noch ein Bruchteil der Mitarbeiter aus den Büros arbeiten wird. „Jetzt, wo die Pendelei wegfällt, sind wir so viel produktiver“, sagt ein Banker, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will. Die Idee, dass jeden Tag 7000 Leute im gleichen Büroturm sein müssen, könnte der Vergangenheit angehören“, erklärte Jes Staley, CEO von Barclays, bereits vor Wochen. Ähnliche Signale sendete auch Morgan-Stanley-Chef James Gorman. Die Citigroup sucht nach kleineren Büros in den Vororten von New York, um den Mitarbeitern lange Zugfahrten zu ersparen.

Auch die Tech-Unternehmen, die in den vergangenen Jahren ihre Büros in New York ausgebaut und den Boom in New York angetrieben haben, setzen nun vermehrt auf Heimarbeit.

Einer Umfrage der Partnership for New York geht hervor, dass bis Mitte August nur zehn Prozent der Mitarbeiter zurück in ihre Büros kehren werden. Bis Ende des Jahres soll es knapp ein Drittel sein.

Auch der Tourismus liegt am Boden. Kamen im vergangenen Jahr noch 66,5 Millionen Besucher in die Stadt, sind die meisten Flüge mittlerweile gestrichen. Die Hotels sind den Krankenpflegern und Ärzten vorbehalten. Museen und Musicals bleiben geschlossen.

„Es wird lange dauern, bis sich die Stadt von der Krise erholt“, warnt Alexander Heil, Chefökonom der Hafenbehörde von New York und New Jersey, der auch das Grundstück gehört, auf dem das World Trade Center steht. „Bis es einen Impfstoff oder ein Medikament gibt, wird die Dichte der Menschen in New York zum Nachteil für die Stadt.“

Wylde von der Partnership for New York City glaubt, dass New York langfristig wieder zu alter Stärke zurückkehren wird. Sie verweist auf das einzigartige Ökosystem aus Universitäten, großen Konzernen, Start-ups und der Wall Street. „Wer ehrgeizig ist, den wird es wieder hierherziehen“, ist sie überzeugt.

Das sieht der renommierte Stadtplaner Mitchell Moss von der New York University (NYU) ähnlich. New York habe es in den vergangenen 400 Jahren immer wieder geschafft, sich selbst neu zu erfinden: nach der Cholera-Epidemie im 19. Jahrhundert, nach der Spanischen Grippe, nach dem 11. September und nach der Finanzkrise.

„New York hat eine außergewöhnliche Fähigkeit, auf Katastrophen zu reagieren. Das wird sich auch diesmal zeigen“, sagt Moss, der schon mehrere Bürgermeister und Gouverneure beraten hat. New York investiere nun in neue, gesundheitliche Initiativen, um mit dem Virus fertig zu werden.

„New York ist und bleibt die Stadt der Möglichkeiten, die Reiche und Arme gleichermaßen anzieht“, ist Moss überzeugt.

Auch er glaubt jedoch, dass viele Menschen in die Suburbs ziehen werden. „Aber wir wollen hier auch keine Menschen, die lieber in den Suburbs leben“, sagt der überzeugte New Yorker. „Wenn die langweiligen Menschen um die 40 wegwollen, sollen sie wegziehen. Es wird immer junge Menschen geben, die in ihre Wohnungen nachziehen.“

Erste zarte Anzeichen des Aufbruchs gibt es: Auf der Kenmare Street an der Grenze zu Little Italy schrauben zwei Männer in Kellnerschürzen die Spanplatten von den Fenstern des Cafés „The Butcher’s Daughter“, die vor Randalierern am Rande der „Black Lives Matter -Proteste“ schützen sollten.

Zwei Kilometer weiter südlich reckt das „fearless Girl“ – die kleine, berühmte Bronzestatue an der Wall Street –ihren Kopf weiterhin der New York Stock Exchange mit ihren Sternen-Bannern entgegen. Ganz allein, ohne Touristen. Aber immer noch furchtlos. Wie New York.

Die Kreise sollen dafür sorgen, dass der Sicherheitsabstand eingehalten wird. Foto: dpa
Die Kreise sollen dafür sorgen, dass der Sicherheitsabstand eingehalten wird. Foto: dpa