Washington versinkt in einer Welle der Wut
Was als Protest gegen die Wahlen begann, ist zum Sturm auf den US-Kongress eskaliert. Die erschreckenden Szenen sind das Ergebnis einer jahrelangen Wutkampagne von Donald Trump.
Die Szenen aus dem politischen Machtzentrum der USA schockieren die Welt. Am Mittwoch eskalierten Pro-Trump-Proteste in der Hauptstadt Washington, Tausende wütende Demonstranten stürmten den US-Kongress auf dem Capitol Hill. Binnen weniger Minuten verschaffte sich der Mob gewaltsam Zugang ins Innere des historischen Gebäudes mit der berühmten Kuppel.
Tausende Menschen besetzten die Außentreppen und Flure, einige brachen Fenster und Türen auf. Sie zogen in Gruppen durch den Kongress, skandierten „Wir übernehmen jetzt!“ und bedrohten Abgeordnete, Senatoren und Mitarbeiter.
Mehrere Polizisten wurden als verletzt gemeldet, eine Frau starb, nachdem sie im Kongressgebäude von einem Polizisten angeschossen wurde (verfolgen Sie alle aktuellen Entwicklungen im Liveblog). Washingtons Bürgermeisterin Muriel Bowser hat eine Ausgangssperre verhängt. Rund 1000 Soldaten der Nationalgarde sind im Einsatz, die angrenzenden Bundesstaaten Maryland und Virginia haben Verstärkung geschickt.
Viele Details und Umstände sind unklar, doch fest steht schon jetzt: Der 6. Januar 2021 wird die USA noch lange beschäftigen.
Alles, was Sie zu den Ereignissen in den USA wissen müssen, im Überblick:
1. Warum ereignen sich die Ausschreitungen jetzt?
Das Ausmaß der Proteste, ausgerechnet vor und im Wahrzeichen der US-Demokratie, ist erschreckend. Doch der Ausbruch der Gewalt kommt nicht ganz überraschend. Seit einigen Wochen gehen landesweit Demonstranten unter dem Motto „Stop the Steal“ auf die Straße, die die US-Wahlen für manipuliert halten – ein Vorwurf, der von Dutzenden Gerichten, Behörden und Bundesstaaten widerlegt wurde.
Die Trump-Anhänger werden vom Präsidenten, der seine Niederlage bis heute nicht anerkannt hat, bestärkt. „Ich liebe euch“, sagte er am späten Mittwochnachmittag (Ortszeit) in einer TV-Ansprache, als das Chaos im vollen Gange war.
Trump persönlich war es, der seine Anhänger zuvor dazu aufgerufen hatte, sich auf den Weg zum Kongress zu machen. Der Präsident hielt auf der National Mall vor dem Weißen Haus eine Kundgebung ab und rief in die Menge: „Wir werden niemals aufgeben. Wir werden niemals abtreten.“ Parallel hatte der US-Kongress gerade damit begonnen, das Wahlergebnis zu zertifizieren. Dieser Prozess ist der letzte formale Schritt vor dem Regierungswechsel am 20. Januar.
Die Demos in Washington wurden bewusst für den 6. Januar angemeldet. Denn nach der Bestätigung durch den Kongress kann kein Rechtsstreit oder Ähnliches das Wahlergebnis mehr ändern. „Geht ruhig in Richtung Kapitol“, ermutigte Trump sein Publikum. Minuten später stürmten die ersten Anhänger die Stufen des Kongresses.
2. Kann man von einem Putsch sprechen?
Ja und nein. Die Proteste auf der National Mall, quasi eine Trump-Rally im Machtzentrum der USA, waren noch weitgehend friedlich geblieben. Doch Trump-Anhänger hielten sich seit Tagen in der Stadt auf, der Anführer der Neonazi-Gruppe Proud Boys wurde verhaftet.
Die Stimmung vor Ort war spürbar angespannter als auf früheren Pro-Trump-Demos. Denn inzwischen scheint es der Bewegung nicht mehr nur um Begeisterung für den Präsidenten zu gehen – sondern um einen Feldzug gegen das demokratische System.
Für einen konzertierten Umsturzversuch, gerade in einer Nation mit starker Gewaltenteilung, bedarf es aber der Mithilfe einer größeren Gruppe mit Macht, etwa des Militärs. Dennoch haben die Ereignisse eine Grenze auf gefährliche und plakative Weise überschritten. „Das ist so nah an einem Putschversuch, wie dieses Land noch niemals war“, sagte der frühere Polizeichef von Washington, Charles Ramsey, im Sender CNN. Der republikanische Abgeordnete Adam Kinzinger sprach von einem „Putschversuch“.
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Der designierte Präsident Joe Biden wandte sich am Nachmittag an die Nation. „Unsere Demokratie wird in diesen Minuten angegriffen.“ Bidens Worte und seine erschütterte Mimik erinnerten an George W. Bushs Ansprache nach den Terroranschlägen vom 11. September. Doch die aktuelle Krise kommt nicht von außen, sondern US-Bürger sagen ihren eigenen Institutionen den Kampf an.
Man kann die Proteste in der Hauptstadt als eine Art „letztes Aufbäumen“ der Trump-Basis verstehen – befeuert aus dem Oval Office, und mit den Instrumenten eines Putsches: Gewalt und Chaos. Denn rein rechtlich haben weder Trump noch seine Anhänger die Möglichkeit, Bidens Amtsantritt zu verhindern.
3. Wo war die Polizei?
Washington ist ein eigener Distrikt, das Kapitol steht auf Bundesgelände. Während die Stadt relativ gut vorbereitet war, mangelte es in und um den Kongress an Sicherheitskräften. Der Mob wusste genau, dass das Kongress-Gebäude an diesem Tag voll besetzt sein würde, was in Pandemie-Zeiten selten geworden ist.
Viele Demonstranten wanderten einfach in den Kongress rein, zum Teil ausgerüstet mit Gasmasken und Waffen. Manche urinierten auf die Freitreppen, randalierten und zerlegten das Inventar. Andere besetzten die Versammlungsräume, die zuvor evakuiert worden waren. Die Bereitschaft zu roher Brutalität war erschreckend.
Grundsätzlich ist der US-Kongress sehr zugänglich für die Öffentlichkeit. Man braucht für den Zutritt, anders als etwa für den Bundestag, keinen speziellen Ausweis, sondern kann als Besucher viele Bereiche betreten.
Trotzdem gibt es natürlich Sicherheitsschleusen, doch der Mob stürmte einfach hindurch oder brach durch Fenster ein. Dass der Kongress für diesen entscheidenden Tag nicht abgesperrt oder zumindest deutlich besser mit Polizisten besetzt war, ist eine legitime Frage. Eigentlich mangelt es in Washington nicht an Landes- und Bundespolizisten, an Secret-Service-Kräften und Sondereinsatzkommandos.
Leon Panetta, früherer Verteidigungsminister, äußerte sich verwundert darüber, dass das Kapitol nicht besser gesichert war. Und William Cohen, früherer republikanischer Verteidigungsminister, kritisierte, auf die Proteste sei nicht hart genug reagiert worden. „Wenn sich Black-Lives-Matter-Demonstranten vor dem Kapitol versammelt hätten, wären sie doch sofort beseitigt worden“, sagte er im Börsensender CNBC.
Washington selbst ist eigentlich gut auf Proteste vorbereitet, man hat Erfahrung mit Demonstrationen und Waffengewalt. Die Stadt warnte bereits vor Tagen davor, am 6. Januar in die Innenstadt zu fahren. Ein solcher Schritt war ungewöhnlich, und er zeigte, dass man intern Ausschreitungen durchaus für möglich hielt.
Bürgermeisterin Bowser hatte im Vorfeld 300 National-Gardisten angefragt – doch die Soldaten trafen erst am späten Mittwochnachmittag ein. Gegen Abend schwärmten schließlich über tausend Mitglieder der Nationalgarde aus, dazu waren FBI-Kräfte im Einsatz. Laut der „New York Times“ war es Vizepräsident Mike Pence, der den Befehl zur Entsendung der DC-Nationalgarde billigte – und nicht Donald Trump.
4. Können sich die USA von dem Desaster erholen?
Bei seiner Amtseinführung 2017, auf den Treppen des Kapitols, versprach Trump ein „Ende des amerikanischen Gemetzels“. Vier Jahre später wurden die Konsequenzen seiner Präsidentschaft jedoch schmerzhaft sichtbar – mit einem besetzten Kongress.
Die langfristigen Folgen der Ausschreitungen sind gravierend, denn sie stehen für die Spaltung der USA und ein gesellschaftlich raues Klima. Die Coronakrise hat das soziale Gefälle vergrößert, das Rassismusproblem ist ungelöst. In der Politik zerlegen sich die Republikaner über die Frage, wie viel Trumpismus die Partei in Zukunft braucht.
Mehr als 80 Millionen Menschen wählten Biden, der für Multilateralismus, nachhaltige Klimapolitik und die Erfahrung des politischen Establishments steht. Doch fast ebenso viele wählten Trump, den verbalen Brandstifter, der sich auf offener Bühne als Nationalist feiern lässt.
Zahlenmäßig mögen gewalttätige Demonstranten deutlich in der Minderheit sein, doch dass sie sich den Sturm auf das Kapitol trauten, spricht Bände. Trump hat mit seinem Populismus und aggressiven Attacken gegen Kritiker entscheidend zur explosiven Situation beigetragen.
Dass sich mit dem Biden-Sieg die Lage schlagartig beruhigen würde, diese Hoffnung ist nun dahin. „Es wird lange dauern, bis die USA wieder für Rechtsstaatlichkeit stehen“, twitterte Richard N. Hass, Vorsitzender der Denkfabrik Council on Foreign Relations. „Und ebenso lange wird es dauern, bis internationale Verbündete Vertrauen darin haben, dass die USA stabil genug für ein Atomwaffenarsenal sind.“
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