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Vorsicht, Staatswirtschaft! – Das sind die Nebenwirkungen der Coronakrise

Der Bund greift derzeit in einem nie da gewesenen Maß in die Wirtschaft ein. Doch diese Rettungspolitik birgt große Schattenseiten.

Gemeinsames Krisenmanagement. Foto: dpa
Gemeinsames Krisenmanagement. Foto: dpa
  • Hilfskredite, stille Beteiligungen, Kurzarbeitergeld: Kein anderes Industrieland greift seiner Wirtschaft mit so großen Summen unter die Arme wie Deutschland.

  • Doch diese Art der Rettungspolitik bringt auch Fehlentwicklungen und Betrügereien zu Tage – und könnte zu Belastungen für die nächsten Generationen führen.

  • Ob Deutsche Bahn, Commerzbank oder Telekom: Der Bund mischt noch immer bei vielen Unternehmen mit. Wettbewerber sehen das häufig kritisch.

  • Seit der Coronakrise häufen sich die Rufe nach einem starken Staat. Polens Regierung kommt das gerade recht. Andere EU-Länder reagieren mit Vorsicht.

  • Der Vorsitzende des Sachverständigenrats, Lars Feld, warnt im Interview mit dem Handelsblatt vor den ökonomischen Folgen der Pandemie. Zugleich ist er tief besorgt, dass die Marktwirtschaft beim Kampf gegen das Virus auf der Strecke bleibt.

Die Kanzlerin läuft in Corona-Krisenzeiten zur Hochform auf. Angela Merkel erklärt der Bevölkerung komplizierte Verdopplungsraten und Reproduktionszahlen. Aber auch in Dingen des Alltags kennt sie sich aus. „Sie müssen regelmäßig gewaschen werden beziehungsweise gebügelt, in den Backofen gelegt oder in die Mikrowelle“, erklärt Merkel die Pflege von Atemschutzmasken. „Auch wenn sich das etwas sozusagen hausfraulich anhört.“

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Der allwissende Staat – verkörpert in der Kanzlerin. Den Untertanen wird bis ins kleinste Detail das Leben erklärt. Mit diesem Selbstverständnis ergreift Merkel „Maßnahmen, die es so in unserem Lande noch nicht gegeben hat“. Grundrechte werden eingeschränkt, die Wirtschaft erst an den Abgrund gedrängt und dann mit beispiellosen Hilfsgeldern unterstützt.

Einer von Merkels engsten Vertrauten, Peter Altmaier, ist mehr als begeistert. „Ein Onkel, der was mitbringt, ist besser als eine Tante, die Klavier spielt“, erinnert sich der Bundeswirtschaftsminister an seine Kindheit.

Und was alles mitgebracht wird! Summiert man alles zusammen, was die Bundesregierung nun zur Bekämpfung der Coronakrise aufbieten will, kommt man auf eine gigantische Summe von mindestens 1,2 Billionen Euro. Kein anderes Land in der Welt hat so viel Geld im Verhältnis zu seiner Wirtschaftskraft aufgebracht.

Deutschland kommt auf ganze 35 Prozent, weit mehr als der EU-Durchschnitt oder die USA. Bundesfinanzminister Olaf Scholz untertrieb nicht, als er vor wenigen Wochen versprach: „Hier wird nicht gekleckert, sondern geklotzt.“

Der Bedeutungs- und Machtzuwachs ist einmalig. Nie in der Geschichte der Bundesrepublik hat eine Regierung so schnell und tief in das öffentliche Leben und damit auch in die Wirtschaft eingegriffen. Nach der Finanzkrise stieg die deutsche Staatsverschuldung in einem Jahr um 315 Milliarden Euro. Der Wert wird von Bund, Ländern und Gemeinden in dieser Krise weit übertroffen werden. „Ich mache mir Sorgen, ob es uns gelingt, zur wirtschaftspolitischen Normalität zurückzukehren“, sagt Lars Feld, oberster Wirtschaftsweise Deutschlands.

Die Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit sind nachvollziehbar. Aber es stellt sich zunehmend die Frage: Welche Nebenwirkungen haben die milliardenschweren Rettungsprogramme? Auf verstörende Weise wird der freie Markt eingeschränkt, der Wettbewerb verzerrt, die Preise verlieren ihre Signalkraft.

„So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig“, die berühmten Worte vom ehemaligen Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller verlieren mit jedem Tag ihre Bedeutung.

Es drohen höhere Preise, ineffiziente Unternehmen und Wohlstandsverluste. Bezeichnend ist es, dass sich in der Coronakrise immer mehr Unternehmen an das Bundeskartellamt wenden, um sich für Kooperationen mit Wettbewerbern freistellen zu lassen. Es spricht der neue Geist der Staatswirtschaft.

Sicherlich, Hilfen für Unternehmen mit unverschuldeten Einbußen müssen sein. Aber bei der Flut an Stützungsgeldern ist die Gefahr von Fehlallokationen groß. Kapital als auch Arbeitskräfte werden in Unternehmen mit unterdurchschnittlicher Produktivität, geringerer Investitionstätigkeit und Innovationskraft gebunden.

Es werden „notwendige Marktprozesse der schöpferischen Zerstörung behindert“, musste das Bundesfinanzministerium vor wenigen Wochen nach einer parlamentarischen Anfrage der FDP nach möglicher Unterstützung von Zombie-Unternehmen durch Hilfen eingestehen.

Die Sorge ist berechtigt, dass sich der Staat zu tief in die Wirtschaft hineinfrisst, die Privatsphäre und den Datenschutz teilweise über Bord wirft und der Einfluss in das Marktgeschehen nach dem Ende der Krise nicht wieder zurückgedreht wird.

Ein Blick in die Geschichte lässt wenig Gutes ahnen. So ist der Bund auch 25 Jahre nach dem Börsengang der Deutschen Telekom immer noch der größte Einzelaktionär.

Grundsätzlich droht ein Problem, das in der Ökonomie als Moral Hazard bekannt ist: Unternehmen und Bürger verhalten sich wegen bestehender Fehlanreize verantwortungslos oder leichtsinnig. Es mehren sich die Nachrichten von Betrügern, die sich Subventionen erschleichen.

„Der Staat ist ein lausiger Unternehmer“

Superlative prägen die Auftritte von Altmaier und Scholz. Auf der Bundespressekonferenz präsentieren sie der Öffentlichkeit mit schönster Regelmäßigkeit neue milliardenschwere Rettungspakete. „Das ist die umfassendste und wirksamste Garantie, die es jemals in einer Krise gegeben hat“, sagte Altmaier Mitte März. „Das ist die Bazooka, nach Kleinwaffen schauen wir später“, sekundierte der Bundesfinanzminister bei dem Auftritt.

Die Kleinwaffen, die mittlerweile hinzugekommen sind, fallen recht großkalibrig aus. Scholz kündigte einen schuldenfinanzierten Nachtragshaushalt in Höhe von 156 Milliarden Euro an. Darin enthalten ist ein Notfallfonds mit einem Volumen von 50 Milliarden Euro, der sich an Soloselbstständige und kleine Unternehmen mit bis zu zehn Beschäftigten richtet.

Der Garantierahmen des Bundes für die Staatsbank KfW wird um bis zu 450 Milliarden Euro erhöht. Und dann entsteht noch ein Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) mit einem Volumen von 600 Milliarden Euro. Der Großteil ist für staatliche Garantien vorgesehen, damit Unternehmen liquide bleiben.

100 Milliarden Euro sind für mögliche Beteiligungen reserviert, also Teilverstaatlichungen von Unternehmen. Die gebeutelte Lufthansa führt bereits Gespräche über eine Staatsbeteiligung.

Man hat noch die Worte von Altmaier im Ohr: „Der Staat ist ein lausiger Unternehmer.“ Der Bundeswirtschaftsminister widmete Ludwig Erhard immerhin den schönsten Saal im Ministerium. Aber von Erhards Mantra ist er derzeit genauso weit entfernt wie die Deutschen von einem Sommerlaub auf Mallorca.

Der Vater des „deutschen Wirtschaftswunders“ pochte auf Maß halten, von ihm sind Sätze im Gedächtnis, der Staat soll nicht Mitspieler, sondern Schiedsrichter in der Wirtschaft sein. Jetzt schickt sich der Staat an, dass er den ganzen Fußballverein übernehmen will.

Kein anderes Industrieland greift seiner Wirtschaft mit so großen Summen unter die Arme wie die Bundesrepublik. Das zeigt eine neue Auswertung des Internationalen Währungsfonds (IWF). Der kritisiert Deutschland aber nicht, ganz im Gegenteil. „Geben Sie so viel aus, wie Sie können“, rät IWF-Chefin Kristalina Georgiewa. Die wirtschaftliche Lage sei zu deprimierend.

Der Sachverständigenrat geht mittlerweile von einem Minus der Wirtschaft in diesem Jahr um mehr als 5,5 Prozent aus. Damit tritt der Fall ein, der zuvor als Worst-Case-Szenario gehandelt wurde. Der Wirtschaftseinbruch wäre schlimmer als in der Weltfinanzkrise. 725.000 Betriebe haben finanzielle Schwierigkeiten und Kurzarbeit angemeldet.

Darunter auch: Krankenhäuser. Gesundheitsminister Jens Spahn ordnete ihnen Anfang März an, alle planbaren Operationen aufzuschieben. Das bedeutet für die Krankenhausbetreiber herbe Einnahmeverluste. Mehr als ein Drittel der Intensivbetten ist nicht belegt. Mit dem Krankenhausentlastungsgesetz schuf die Bundesregierung zwar eine Regelung, die Kliniken für die Ausfälle zu entschädigen. Das reicht aber bei Weitem nicht.

Einige private Träger haben Kurzarbeit angemeldet, darunter die Schön-Klinik-Gruppe. Der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, sieht die Zeit gekommen für eine „vorsichtige, schrittweise Wiederaufnahme der Regelversorgung“.

Auch Spahn sagte vergangene Woche, dass Kliniken „schrittweise in eine neue Normalität“ kommen könnten. „Wir wollen ja nicht auf Dauer 40 Prozent der Intensivbeatmungsbetten in Deutschland freihalten“, so der Minister.

Der Druck auf die Unternehmen ist riesig, die Hilfsbedürftigkeit groß. Allein in diesem Jahr nimmt der Bund 156 Milliarden Euro an neuen Schulden auf. Die Bundesländer bereiten ebenfalls eine umfangreiche Geldschwemme auf Pump vor.

Laut einer Umfrage des Handelsblatts unter den 16 Länderfinanzministerien planen sie derzeit 65 Milliarden Euro neuen Schulden, um sich gegen die Krise zu stemmen. Denn neben dem riesigen 1,2-Billionen-Euro-Rettungsschirm des Bundes helfen auch die Länder ihren Unternehmen und Selbstständigen. Allein Bayern hat einen Fonds mit 60 Milliarden Euro aufgelegt.

Die IWF-Chefin begrüßt nicht nur das gigantische Hilfspaket in Deutschland, der Währungsfonds mahnt auch eine gründliche Kontrolle an. „Behalten Sie die Rechnungen“, sagte Georgiewa. Transparenz und Rechenschaftspflicht dürften auch angesichts der Krise nicht zurückgestellt werden. Ob Deutschland in dieser Disziplin auch Weltmeister ist, da mehren sich die Zweifel.

Risiko Zombie-Unternehmen

Die Finanzkrise prägte ein Ausspruch von dem früheren Notenbankchef Europas, Mario Draghi: „What ever it takes“. In dieser Krise wird es zu einem „Whatever, take it!“ Hilfsgaben werden größtenteils ohne Prüfung ausgegeben, das Geld kann gar nicht schnell genug verteilt werden.

Nach einer Übersicht des Finanz- und des Wirtschaftsministeriums wurden bei der KfW Hilfen über 26 Milliarden Euro beantragt. Von den gut 13.200 Anträgen wurden fast 13.000 bewilligt. Mit anderen Worten: Fast jeder, der Hilfe will, bekommt sie, höchstwahrscheinlich auch Unternehmen, die vor der Pandemie schon kein funktionsfähiges Geschäftsmodell hatten.

So entstehen leicht Zombie-Firmen, die nur noch wegen der generösen Staatshilfe am Leben sind. Immerhin: Bei den großen Summen scheint der KfW-Lenkungsausschuss genauer zu prüfen. Denn bewilligt wurden bisher rund 8,5 Milliarden Euro. Bei den großvolumigen Anträgen dauert es also etwas länger.

Verdächtig schnell geht es dagegen bei Soloselbstständigen und Kleinunternehmen mit bis zu zehn Angestellten. Hier wurden bisher nach der Übersicht von 1,65 Millionen Anträgen rund 1,1 Millionen bewilligt und mehr als neun Milliarden Euro ausgezahlt. Dabei handelt es sich nicht um Kredite, sondern um Hilfen, die nicht zurückgezahlt werden müssen.

„Schnelligkeit und Gründlichkeit gehen Hand in Hand: Es wird sorgfältig geprüft, wer das Geld erhält“, hat Finanzminister Scholz versprochen. Doch stimmt das? Nordrhein-Westfalen und Berlin waren kürzlich sogar gezwungen, die Sofortzahlungen auszusetzen, weil im großen Stil organisierte Betrüger an die Töpfe wollten.

Auch bei ehrlichen Unternehmern gibt es Probleme. In Nordrhein-Westfalen etwa werden Selbstständigen und Kleinunternehmen immer die Höchstbeträge von 9000 Euro und 15.000 Euro bewilligt – unabhängig vom Bedarf. Diese Praxis stößt im Bundeswirtschaftsministerium auf Unverständnis. Denn eine pauschale Auszahlung von Höchstbeträgen war eigentlich nicht gedacht.

Die Höhe der Hilfen soll bis zu 9000 Euro für Unternehmen mit bis zu fünf Beschäftigten und bis zu 15.000 Euro für bis zu zehn Beschäftigten betragen. Die Betonung liegt hier auf dem „bis zu“. Die tatsächliche Höhe soll sich laut Wirtschaftsministerium am Umsatz und dem Betriebsaufwand für die nächsten drei Monate bemessen. Einem Unternehmer mit null Euro Umsatz und 1000 Euro Kosten stünden demnach 3000 Euro an Soforthilfen zu.

Doch diese Details gingen irgendwo im Bund-Länder-Wirrwarr unter. Bereitgestellt werden die bis zu 50 Milliarden Euro vom Bund. Obwohl es um Bundesgeld geht, ist es den Bundesländern selbst überlassen, wie sehr sie Unternehmen prüfen. In Hamburg etwa ist eine Liquiditätsprüfung erforderlich. Andere Länder sind deutlich weniger streng, damit die Hilfen möglichst schnell fließen können.

In Berlin wurde binnen Tagen mehr als eine Milliarde Euro an Soloselbstständige und Kleinunternehmer ausgezahlt. Und auch im Berliner Senat gibt man hinter vorgehaltener Hand zu, dass darunter sicherlich auch Mitnahmeeffekte seien. Da nicht geprüft wurde, erhielt fast jeder in einer Kombination aus Bund- und Landesmitteln 14.000 Euro. Darunter seien Selbstständige, die normalerweise einen Jahresumsatz hätten, der deutlich niedriger sei, heißt es.

Mittlerweile zahlen einige Empfänger aus Angst vor Sanktionen die Hilfen freiwillig zurück. Doch ob eine nachträgliche gründliche Prüfung möglich ist, um Betrüger zu überführen, da ist man in der Finanzverwaltung skeptisch.

Gefährliche Fehlanreize

Der ökonomische Unsinn, der teilweise im Namen von Corona betrieben wird, ist groß. Mehr und mehr schaffen die Regierungen in Bund und Ländern die Illusion, mit Staatsbillionen alles regeln zu können. Und mehr und mehr setzt das staatliche Eingreifen und Ausbreiten auf alle Wirtschaftsbereiche Fehlanreize, die sich bitter rächen können.

Beispiel Wohnungsmarkt: Die Bundesjustizministerin, ganz SPD-Frau, wollte die Mieter schützen. Herausgekommen ist ein unausgegorenes Gesetz, das Kleinvermieter in Schwierigkeiten bringt. Das Gesetz war so schlecht gemacht, dass solvente Unternehmen wie Adidas oder Deichmann die Lücken nutzten und die Mietzahlungen einfach aussetzten. Erst nach einem Sturm der Empörung ruderte Adidas zurück.

Beispiel KfW-Kredite: Nachdem die Institute zögerten, die subventionierten Kredite der Staatsbank KfW an Unternehmen weiterzugeben, weil sie noch zehn Prozent des Ausfallrisikos tragen mussten, übernahm der Staat die volle Haftung. Mit der Gefahr, dass Hausbanken nun Kredite an Firmen ausreichen, die schon längst pleite sind.

Den Banken kann das egal sein, sie sind aus jeder Haftung entlassen, verdienen aber natürlich dennoch gut an den Geschäften. Der Dumme ist der Steuerzahler, der für die Ausfälle geradestehen muss.

Beispiel Kurzarbeit: Das Kurzarbeitergeld ist ein bewährtes Kriseninstrument. Der Staat ersetzt bis zu 67 Prozent des Nettolohns. Der SPD reichte das jedoch nicht. Im Koalitionsausschuss am Mittwoch drängte sie auf eine Erhöhung auf 80 Prozent.

Doch eine generelle Aufstockung hätte erhebliche Mitnahmeeffekte: Viele Unternehmen stocken schon heute das Kurzarbeitergeld aus eigenen Mitteln auf. Davon abgesehen ist das Kurzarbeitergeld auch nicht zur Sicherung des Lebensstandards gedacht, sondern soll das Überleben der Unternehmen sichern und so Arbeitslosigkeit vermeiden.

In anderen Bereichen wirkt die Corona-Strategie des Bundes eher willkürlich. So beklagte sich das Handwerk, dass die Kfz-Zulassungsstellen zugemacht wurden. Viel diskutiert wird auch die Öffnung von Läden bis zur Grenze von 800 Quadratmetern. Diese Grenze wurde wenigstens unsauber kommuniziert und sorgte für Verwirrung und Empörung bei den Ladenbesitzern.

Jetzt erklärte ein Hamburger Verwaltungsgericht die 800-Quadratmeter-Regel für unrechtmäßig. Es könne nicht nachvollziehen, warum allein die Öffnung größerer Verkaufsflächen mehr Menschen in die Innenstadt locken sollte, erklärte das Gericht. Notwendige Infektionsschutzmaßnahmen ließen sich in größeren Geschäften mindestens ebenso gut wie in kleineren Einrichtungen einhalten.

Skurril und impraktikabel war zunächst auch die Vorgabe, dass Reparaturwerkstätten offen bleiben durften, aber die Verkaufsräume geschlossen werden mussten. Viele Handwerker fragten sich, ob sie die Kunden durch den Verkaufsraum in die Werkstatt führen könnten. Ein weiteres Detail aus dieser Reihe von unerwünschten Nebenwirkungen der Rettungspolitik.

Die Grenzschließungen etwa zu Tschechien führen dazu, dass in der Bauwirtschaft die Maurer fehlen und in der Landwirtschaft aus Rumänien die Erntehelfer. Der Staat entscheidet viel, aber die Konsequenzen tragen die Unternehmer und deren Mitarbeiter.

Das Argument für die schnelle staatliche Großzügigkeit in der Krise lautet: lieber jetzt mehr ausgeben, um einen Totalabsturz der Wirtschaft und den Verlust von Millionen Jobs zu verhindern, als später für lange Zeit Massenarbeitslosigkeit finanzieren zu müssen. Dieser Ansatz ist durchaus richtig. Aber wahr bleibt auch: Irgendwie müssen die staatlichen Rettungsmilliarden wenigstens mittelfristig finanziert werden, wenn die nachfolgenden Generationen nicht überfordert werden sollen.

Derzeit geschieht das über die Nutzung von Rücklagen und Schulden. Da hat Deutschland durchaus Spielraum. Die Bundesrepublik hatte gerade den Schuldenstand auf unter 60 Prozent gedrückt und 2019 damit zum ersten Mal seit vielen Jahren die Maastricht-Kriterien eingehalten. Doch das wird für lange Zeit das letzte Mal gewesen sein.

Die Bundesregierung geht als Folge der Coronakrise für dieses Jahr von einem gesamtstaatlichen Defizit von 7,25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus. Die Schuldenstandsquote als Anteil aller Schulden am BIP wird mit 75,25 Prozent veranschlagt, wie aus dem Deutschen Stabilitätsprogramm 2020 hervorgeht.

„Die Projektion ist aktuell mit sehr hohen Unsicherheiten behaftet“, heißt es in dem aktuellen Bericht. Mit anderen Worten: Der Schuldenstand könnte auch noch höher ausfallen. Das hängt vor allem davon ab, wie hoch die Verluste werden, die dem Bund aus seinen Garantien und Bürgschaften entstehen.

Angesichts der enormen Verpflichtungen versuchen einige in der Großen Koalition, auf die Rettungsbremse zu treten. „Mir missfällt es, dass wir im Stundentakt nahezu immer wieder neue Vorschläge bekommen, was man denn sonst noch machen kann“, sagte Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus. „Das alles muss auch bezahlt werden.“

In einer Krise sitzt das Geld beim Staat locker. So mancher wittert seine Chance, lang gehegte Pläne endlich umzusetzen.

Staatliche Champions

Altmaier ist schon lange ein Freund aktiver Industriepolitik. Auch in der Krise will er „beherzt, geschlossen und konsequent“ agieren, einen „Ausverkauf deutscher Wirtschafts- und Industrieinteressen verhindern“. Die Pandemie ist für ihn willkommener Anlass, die Übernahmen deutscher Firmen durch ausländische Investoren zu erschweren.

Sollte es bei einem Firmenerwerb eines Investors außerhalb der EU zu einer „voraussichtlichen Beeinträchtigung“ der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit kommen können, darf der Staat künftig einschreiten.

Das ist dem protektionistischen Sound eines Donald Trumps nicht unähnlich. Und die Formulierung ist derart weich, dass der Willkür kaum Grenzen gesetzt sind.

Der Wirtschaftsstabilisierungsfonds sieht ausdrücklich die Möglichkeit vor, dass sich der Staat an Unternehmen beteiligt – um sie vor der Pleite zu retten oder um sie vor einer Übernahme zu schützen. Für solche Schritte sind nicht nur Altmaier und Scholz offen.

Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, sonst als Anhänger einer Staatswirtschaft eher unverdächtig, kann sich in der Coronakrise vieles vorstellen. Neben dem WSF des Bundes mit 100 Milliarden Euro hat Bayern einen Beteiligungsfonds mit einem Umfang von 20 Milliarden Euro aufgelegt. „Wir sollten also großzügig davon Gebrauch machen, wenn es notwendig ist“, sagte Söder.

Das gelte für globale Konzerne, aber auch für Mittelständler und sogenannte Hidden Champions, die ins Visier von internationalen Investoren geraten könnten und „technologisch für uns unentbehrlich sind“.

Altmaier vernimmt solche Töne gern. Vor gut einem Jahr präsentierte der Bundeswirtschaftsminister seine „Nationale Industriestrategie 2030“. Der CDU-Politiker stellte mit seinem Papier ein sehr unverkrampftes Verhältnis zu staatlichen Interventionen unter Beweis – und stieß auf viel Widertand. Jetzt kommt das Credo des Ministers viel besser an.

Im ersten Entwurf seiner Strategie nannte er auch gleich solche Konzerne, die es unbedingt zu erhalten gelte: Siemens, Thyssen-Krupp, Deutsche Bank. Damit dies auch gelingen kann, schlug Altmaier vor, der Staat solle sich in wichtigen Fällen an Unternehmen beteiligen können.

Der Fall Thyssen-Krupp ist besonders heikel. Bei der Lufthansa mag eine staatliche Unterstützung noch vertretbar. Dort wurde auf staatliche Anordnung das Geschäft nahezu auf null gefahren. Aber Thyssen-Krupp war schon lange vor Corona in einer wirtschaftlichen Schieflage, musste mit der Aufzugssparte sein Tafelsilber verkaufen.

Was dem Konzern an wirtschaftlicher Wucht fehlt, macht es mit politischer Bedeutung wett. Der Stahlkonzern hat einen Standort im Saarland, und da kommt der Bundeswirtschaftsminister her. Und der Hauptsitz liegt in NRW, der mögliche Kanzlerkandidat und NRW-Ministerpräsident Armin Laschet setzte sich ebenfalls für das Unternehmen ein.

Unter normalen Umständen sorgen die EU-Wettbewerbshüter dafür, dass die Mitgliedstaaten ihren Unternehmen nicht übermäßig unter die Arme greifen. Aber auch die EU-Kommission hat die Handbremse früh gelockert, um Rettungsmaßnahmen nicht zu behindern. Wie in der Finanzkrise schuf sie einen temporären Beihilferahmen, der staatliche Garantien für Firmenkredite erlaubt.

Seither hat die Behörde mehr als 80 nationale Rettungsprogramme im Eilverfahren durchgewinkt. In einem Brief an die zuständige Vizepräsidentin Margrethe Vestager betont Altmaier denn auch, er wolle sich für die gute Zusammenarbeit „herzlich bedanken“. Aber dafür allein hat der Bundeswirtschaftsminister natürlich nicht zur Feder gegriffen: Er möchte den Rahmen für Beihilfen weiter ausdehnen, um noch mehr Hilfen an die heimischen Unternehmen ausreichen zu dürfen.

So fordert Altmaier, große Kredite vollständig durch staatliche Garantien absichern zu können. Die Kommission pocht darauf, die Garantien auf 90 Prozent des Kreditvolumens zu begrenzen, damit nur lebensfähige Unternehmen gerettet werden. Die kreditgebenden Banken aber zögerten häufig, warnt Altmaier in dem Schreiben, das dem Handelsblatt vorliegt. Eine Begrenzung der Haftungsfreistellung auf 90 Prozent führe daher „nicht nur zu einer Verzögerung, sondern oftmals auch zu einer Ablehnung der Kreditvergabe“.

Mehr Spielraum fordert der Minister überdies bei Staatsbeteiligungen an notleidenden Unternehmen, die nach einem Vorschlag Vestagers bald ebenfalls erlaubt sein sollen. Die Behörde solle die Rekapitalisierung nur dann einzeln absegnen müssen, wenn das Unternehmen mehr als drei Milliarden Euro an Eigenkapital erhalte, schreibt er.

Nun, das Seeungeheuer Leviathan ist durchaus furchteinflößender. Aber der Machtanspruch des Staates bleibt der gleiche, auch der deutsche: alles zu verschlingen, alles zu regeln.

Übermut beim Datenschutz

Andreas Reckwitzs neues Buch „Das Ende der Illusionen“ ist derzeit Pflichtlektüre für deutsche Spitzenpolitiker. Den Soziologen las der frühere Unionsfraktionschef Friedrich Merz, der neuer CDU-Chef werden will, während seiner Corona-Infektion.

Auch Bundesfinanzminister Scholz verschlang es. Reckwitz beschreibt in dem Werk, wie das fast 40 Jahre vorherrschende „Dynamisierungsparadigma“ derzeit in die Krise gerät – und wie seit 2010 regulatorische Kräfte wieder stärker werden.

Auslöser war die Finanzkrise, der „starke Staat“ ist wieder gefragt. Deutschland stellte nach Jahren des Aushungerns seiner Verwaltung wieder mehr Lehrer, Polzisten, Richter ein. Die Politik folgte einem Satz des früheren Verfassungsrichters Udo Di Fabio: „Ohne organisierte Staatlichkeit geht nichts: keine Menschenrechte, kein Frieden, kein Klimaschutz, keine Gerechtigkeit.“

Und auf das Heute gemünzt: auch keine Bekämpfung einer Pandemie. Deutschland wird für sein verhältnismäßig gut ausgestattetes öffentliches Gesundheitssystem weltweit gefeiert.

Das Verhältnis von Staat und Markt sei bereits seit einem Jahrzehnt ein völlig anderes als in den 1990er- und 2000er-Jahren, sagt der frühere Wirtschaftsweise Peter Bofinger. Das sei abzulesen daran, dass es im letzten Jahrzehnt keine breit angelegten Einkommen- und Körperschaftsteuersatz-Senkungen mehr gegeben habe und dass es einen Mindestlohn gebe. Aber auch der gewerkschaftsnahe frühere Wirtschaftsweise sagt: „Ich glaube nicht, dass wir in der Marktwirtschaft künftig mehr Staat brauchen werden.“

Die Summe an Neuerungen könnte auch beim Datenschutz eine Zeitenwende einläuten. Wie stark und wie dauerhaft in Deutschland die Privatsphäre unter dem Banner der Pandemiebekämpfung beschnitten wird, ist noch nicht ausgemacht.

„Ich sehe nicht, dass die Bundesregierung absichtlich und gezielt Überwachungsmechanismen implementiert, die nach der Krise ausgeweitet werden könnten“, sagt Sven Herpig, Experte für Cybersicherheit bei der Berliner Stiftung für neue Verantwortung.

Aber wenn die Stunde der Exekutive schlägt, werden Beamte schnell übermütig. Das beste Beispiel ist der erste Entwurf für ein überarbeitetes Infektionsschutzgesetz. In Paragraf 5 Absatz 10 war darin die Ortung von Handys vorgesehen, um Kranke und ihre Kontaktpersonen aufzuspüren.

Wie genau das hätte funktionieren sollen, blieb unklar, der Gesetzentwurf sprach von „technischen Mitteln“. Doch auch so war die Empörung groß. Bundesgesundheitsminister Spahn musste den Überwachungspassus streichen. Das macht deutlich: Auch in der Krise wirken Zivilgesellschaft und freie Presse als Immunsystem der Demokratie.

Wahrscheinlicher als die handstreichartige Beschneidung der Privatsphäre ist eine schleichende Erosion. Niemand bezweifelt, dass sogenannte Tracing Apps ein wichtiges Instrument sind, um die Infektionsrisiken bei einer Lockerung der Corona‧sperren unter Kontrolle zu halten. Die Idee dahinter: Über Bluetooth-Signale kommunizieren Handys untereinander.

Wenn sich ein Corona-Infizierter in der Nähe von anderen Personen aufgehalten hat, werden diese darüber informiert, können sich in Selbstquarantäne begeben und auf das Virus testen lassen. Aus Datenschutzgründen ist dabei wichtig, dass jeder selbst entscheiden kann, ob er die App herunterlädt oder nicht.

Herpig warnt allerdings davor, dass für das Tracing eine missbrauchsanfällige Infrastruktur geschaffen und mit sensiblen Informationen wie Gesundheits- und Bewegungsdaten gefüttert werden könnte. Cyberkriminelle und Nachrichtendienste würden mögliche Schwachstellen schnell aufspüren und ausnutzen.

Eigentlich sollte die Tracing App noch in diesem Monat vorliegen. Doch ob es dabei bleibt, ist fraglich. Die beteiligten Experten streiten sich darüber, welches Datenschutzkonzept das beste ist. Die Entwicklung der Anwendung dürfe nicht „durch langwierige akademische Debatten“ noch weiter hinausgezögert werden, mahnt der IT-Verband Bitkom.

Dass Datenschutzbedenken aber durchaus berechtigt sind, zeigen Sicherheitsdefizite einer anderen App, die das Robert Koch-Institut entwickelt hat, der „Corona-Datenspende“. Über diese App leiten inzwischen mehr als 400.000 Menschen freiwillig Daten ihrer Fitnessarmbänder an das RKI. Das soll der Vorhersage von Infektionen und damit der besseren Steuerung von Eindämmungsmaßnahmen gegen das Coronavirus dienen. Doch der Chaos Computer Club macht auf Schwachstellen in der App aufmerksam.

Letztlich sind höchste Sicherheitsstandards auch im Interesse des Staats. Nur wenn die Bürger darauf vertrauen, dass ihre Daten sicher sind, werden die Apps auch installiert und genutzt – und nur dann helfen sie beim Infektionsschutz.

Wird der Staat in Deutschland nun also auf Dauer eine stärkere Rolle in der Wirtschaft spielen? IW-Chef Michael Hüther glaubt nicht, dass der Staat auf Dauer in der Wirtschaft mitmischen wird. „Damit würde er sich ja auch überfordern.“

Es gebe allerdings ein gewisses Risiko. Der Staat könne mit Beteiligungen den Unternehmen politische Vorschriften machen: „Also der Lufthansa vorschreiben, was sie für den Klimaschutz zu tun hat.“ Deshalb dürfe der Staat nur stille Beteiligungen für eine Übergangszeit übernehmen.

Die Regeln des WSF sehen aber durchaus auch Beteiligungen mit vollen Rechten vor. Ökonom Jens Südekum sagt, er halte „nichts von dem Horrorszenario, dass der Staat jetzt massenhaft Firmen verstaatlicht und dauerhaft an ihnen beteiligt bleibt.“ Er sehe auch nicht, dass irgendjemand in der Bundesregierung dies anstrebe.

Der Hamburger Verfassungsrechtler Ulrich Karpen ist da pessimistischer. „Es führt natürlich zu Verwerfungen, wenn der Staat plant, sich in die Wirtschaft einzumischen, vom Mittelstand bis hin zu größeren Unternehmen“, sagt der Jurist. Irgendwann gerate unser Gesellschaftsbild in Unordnung, „wenn wir uns stets und immer mehr darauf verlassen, dass der Staat es schon richten wird“.

Eines ist sicher: Wir hinterlassen der nächsten Generation deutlich mehr Schulden. Die Bundesrepublik hatte gerade den Schuldenstand gemessen an der Jahreswirtschaftsleistung auf unter 60 Prozent gedrückt. Bundesfinanzminister Scholz rechnet jetzt mit einem Anstieg auf 75 Prozent. Es könnte aber auch schnell mehr werden. Unsere Nachfahren werden darüber noch zu reden haben.

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