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Warum die Vorherrschaft des BIP zu Ende geht

Felder voll ausgetrockneter Maispflanzen in Deutschland, gleichzeitig braune Schlammmassen in den Straßen japanischer Städte. Das sind keine Bilder aus einer Klima-Dystopie, sondern das ist die Wirklichkeit im Sommer 2018. Der Klimawandel ist da. Und durch seine Kosten - Ernteausfälle, Sachschäden – ist er auch ein ökonomisches Problem.

Dass Klimawandel und andere ökologische Themen auch ökonomische sind, ist zwar offensichtlich. Dennoch spielen sie in volkswirtschaftlichen Debatten bislang keine große Rolle. Christoph Gran will das ändern. Der Ökonom beim ZOE, dem Institut für zukunftsfähige Ökonomien, forscht im Auftrag des Umweltbundesamtes an alternativen Wohlfahrtsindikatoren. Im Verbund mit anderen Wissenschaftlern verschiedener Institute hat er zunächst untersucht, ob die natürlichen Lebensgrundlagen in makroökonomischen Modellen überhaupt eine Rolle spielen. Die vorläufige Bilanz: „Durchwachsen bis schlecht“, sagt Gran. „Die meisten Modelle berücksichtigen Umweltfaktoren nicht ausreichend.“

Denn in diesen dominiert bislang vor allem das Bruttoinlandsprodukt. Bis heute ist im wirtschaftlichen und politischen Diskurs ein steigendes BIP Synonym für gesellschaftliche Entwicklung, Wohlstand und Erfolg eines Landes. Teilweise zu Recht: Historische Werte belegen, dass materieller Wohlstand mit einer Verbesserung der Lebensbedingungen und wachsender Zufriedenheit einhergeht. Die Gossensche Regel des abnehmenden Grenznutzens zeigt jedoch auch, dass dies nur bis zu einem bestimmten Schwellenwert der Fall ist. So wie der Nutzen zusätzlicher Brötchen ab einer bestimmten Menge aufgrund von Übersättigung abnimmt, entkoppeln sich Zufriedenheit und materieller Wohlstand ab einem bestimmten Pro-Kopf-Einkommen. Das macht die Vorherrschaft des BIP immer offensichtlicher zum Relikt einer vergangenen Zeit, die noch von unmittelbarem Elend und materiellen Mängeln geprägt war.

„Weiche Indikatoren wie Umweltkosten, soziale Ungleichheit, psychische und physische Gesundheit, die für das Gemeinwohl prägend sind, bleiben im BIP völlig unbeachtet“, sagt Gran. Darüber hinaus kann das BIP reale Umstände nicht in ihrer Komplexität abbilden. Wenn beispielsweise nach Umweltkatastrophen Reparaturen vorgenommen werden oder wenn Luftfilter in Autos eingebaut werden müssen, steigt das BIP, obwohl die Gründe dafür offensichtlich schädlich waren.

Dass es immer noch als gängiger Indikator für den Fortschritt einer Gesellschaft hinzugezogen wird, hat vor allem praktische Gründe. Die Ermittlung des BIP beruht auf eindeutigen, historisch und international vergleichbaren Daten. Das macht es zu einem leicht verständlichen und einfach zu vermittelnden Wirtschaftsindikator. Und vermutlich auch zu einem unverzichtbaren. „Es geht nicht darum, das BIP abzuschaffen“, sagt Gran deswegen, „sondern darum, es in der Wohlstandsmessung um andere Faktoren – auch ökologische Grenzen - zu ergänzen.“

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Einer der bekanntesten ganzheitlichen Indikatoren ist der von Hans Diefenbacher und Roland Zieschank entwickelte Nationale Wohlfahrtsindex. Dieser ergänzt die zentralen Defizite des BIP durch Faktoren wie Einkommensverteilung, unbezahlte gesellschaftliche Arbeit, Ausgaben für Gesundheits- und Bildungswesen und Ressourceninanspruchnahme. Von den insgesamt 20 Komponenten werden monetäre Werte ermittelt, gewichtet und zu einem Gesamtindex aggregiert. Stellt man die Entwicklung des NWIs der des BIPs in Deutschland gegenüber, wird schnell deutlich: Obwohl das BIP in den letzten Jahren stetig gestiegen ist, stagniert der NWI seit 2005 bis auf leichte Schwankungen auf demselben Niveau. Als das BIP 2009 aufgrund der Wirtschaftskrise um beinahe sechs Prozent schrumpfte, stieg der NWI sogar an. Der Grund waren die rückläufigen Umweltkosten aufgrund geringerer Produktion und eine Steigerung der Werte von Hausarbeit und Ehrenamt.

„Der NWI ist ein guter Übergangsindikator um zu zeigen, dass eine Steigerung des BIP nicht unbedingt mit einer Steigerung der Wohlfahrt einhergeht“, sagt Gran. Trotzdem konnte er bisher nicht vollständig in die gängigen Modelle integriert werden. Zum einen liegen für die Ermittlung der ökologischen und der sozialen Indikatoren viel weniger Daten vor, als für die ökonomischen Komponenten. Zum anderen erschwert die Zusammensetzung aus verschiedenen integrierten Einzelindikatoren die Ableitung einer konkreten Handlungsstrategie. Um herauszufinden, welche Faktoren die Entwicklung des gesamten Index beeinflusst haben, müssen die einzelnen Komponenten und Gewichtungen aufgeschlüsselt werden. Hinzu kommt, dass alle Komponenten in Dollar oder Euro angegeben werden. Einerseits vereinfacht dies die Integration des NWIs in makroökonomische Modelle, andererseits ist die monetäre Bewertung, vor allem für Ressourcenverbrauch und ökologische Schäden, mit aufwendigen Verfahren verbunden und wirft ethische Fragen auf. Kann Zufriedenheit überhaupt in ökonomischen Kennzahlen gemessen werden? Außerdem könnte die Ermittlung von Umweltkosten dazu führen, die Gefahren von Naturzerstörung und Klimawandel zu verharmlosen, indem die Umwelt zu einem reinen Effizienzproblem erklärt wird: Ein Problem, das einen Preis hat, scheint auch mit genug Geld oder passender Diskontierungsrate lösbar zu sein. Schäden am Ökosystem können jedoch nicht wiedergutzumachende Folgen haben. Gran: „Wir müssen aufpassen, dass wir in dieser Debatte nicht Effizienz vor Sinn setzen.“


Die Frage nach den Grenzen des Wachstums

Die Frage nach den „Grenzen des Wachstums“ wird seit dem gleichnamigen Bericht des Club of Rome aus dem Jahr 1972 auch politisch diskutiert. Die Mitglieder der Organisation erkannten, dass die Menschen mit ihrer Wirtschaftsweise und der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen sich ihre eigene Existenzgrundlage entziehen. Konkretes politisches Handeln wurde daraus aber bis heute kaum abgeleitet. Erst unter dem Eindruck der weltweiten Wirtschaftskrise setzte der Deutsche Bundestag 2011 die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ ein, um bisheriges Wachstum zu analysieren und neue Methoden zur Wohlstandsmessung zu erarbeiten. Dabei sollten auch soziale und ökologische Dimensionen berücksichtigt werden.

Innerhalb von zwei Jahren entwickelten die 62 Mitglieder aus verschiedenen Fraktionen konkrete Strategien zur Umsetzung dieser Ziele. Eines davon war die Etablierung eines neuen Wohlstands- und Fortschrittmaßes durch die W³-Indikatoren. Diese zehn Indikatoren sollten die drei Bereiche Materieller Wohlstand, Soziales/Teilhabe und Ökologie abdecken. Darüber hinaus empfahl die Kommission dem Deutschen Bundestag die Datenerhebung zu verdichten und regelmäßig die Indikatoren zu berechnen.

Nach den Wahlen und dem Regierungswechsel 2013 löste sich die Enquete-Kommission auf. Die herausgearbeiteten Ziele wurden seither nicht von der Großen Koalition aufgegriffen. Trotz großer Kontroversen innerhalb der Kommission war ihr im Abschlussbericht ein Hinterfragen des Wachstumsparadigmas gelungen. Aller Uneinigkeit zum Trotz war sich die Mehrheit immerhin in einem zentralen Punkt grundsätzlich einig: Wachstum sollte nicht Selbstzweck des Wirtschaftens sein.

Hermann Ott war als Bundestagsabgeordneter für die Fraktion Bündnis90/Die Grünen in der Kommission. Auch wenn die Regierung die Vorschläge nicht umgesetzt hat, bewertet er die Arbeit als Erfolg und persönlich als berufliches Highlight. „Subkutan hat sich die Ansicht aller, die in der Enquete mitgearbeitet haben, verändert“, sagt Ott. „Und das über alle parteilichen Differenzen hinweg.“ Um diese erzielten Erfolge nicht versanden zu lassen, gründete er 2013 die Zivile Enquete. Ziel dieses Gremiums, das drei bis vier Mal im Jahr in Berlin tagt, ist das Hochhalten des Themas in der öffentlichen Wahrnehmung und das Vorantreiben des öffentlichen Diskurses. Unter den 130 eingetragenen und 35 aktiven Mitgliedern befinden sich Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik und ehemalige Mitglieder der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags.

Auch für Christoph Gran geht es in dem Forschungsprojekt zur Integration von Umweltkosten um die Möglichkeit der Entkoppelung der Wirtschaft vom Wachstum. Die Folge davon wäre eine grundlegende Infragestellung gängiger Paradigmen: Wenn das BIP nicht mehr als Indikator zur Messung des Fortschritts angesehen würde, veränderte dies die gesamte Marktlogik. Würde Wohlstand beispielsweise an einem wachsenden NWI festgemacht, könnte auch ein stagnierender oder leicht rückläufiger Privatkonsum sich positiv auswirken, wenn dadurch eine gleichmäßigere Einkommensverteilung oder eine Zunahme ehrenamtlicher Arbeit zu verzeichnen wäre.

Hier kommt oft der Begriff „Postwachstumsgesellschaft“ ins Spiel. Gran nimmt das Wort jedoch nur vorsichtig in den Mund, es führe schnell zu "Schubladendenken". Er spricht deswegen lieber von einem „guten Leben innerhalb planetarer Grenzen“.