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Wie der Arbeitsminister den Fachkräftemangel bekämpfen will

Der Fachkräftemangel könnte 100 Milliarden Euro pro Jahr kosten, warnt Arbeitsminister Heil. Helfen soll die Nationale Weiterbildungsstrategie.

Wenn es nach dem Bundesarbeitsministerium geht, soll die Digitalisierung in Deutschland kaum Arbeitsplätze kosten. In der Prognose „Digitalisierte Arbeitswelt“ erwartet das Ministerium, dass bis 2035 zwar rund vier Millionen Arbeitsplätze wegfallen, aber auch 3,3 Millionen Jobs neu entstehen werden.

Das Problem: Viele Beschäftigte von heute haben nicht die Qualifikationen, die morgen gefragt sein werden.

Ein Beispiel dafür ist die Firma IAV, die im Wahlkreis von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) liegt. Mit der Umstellung vom Verbrennungsmotor auf die E-Mobilität geht dem Autozulieferer das traditionelle Geschäftsmodell verloren.

Trotzdem ist das Unternehmen entschlossen, seine Ingenieure in die berufliche Zukunft mitzunehmen und investiert deshalb in die Weiterbildung und Qualifizierung von 400 Arbeitnehmern jeweils 95.000 Euro.

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Vor ähnlichen Umbrüchen wie IAV steht die gesamte Auto- und Zulieferindustrie. Und auch in der Versicherungsbranche, im Handel oder bei den Banken wird die Digitalisierung Spuren hinterlassen. Jobs werden wegfallen, neue entstehen – wenn auch vielleicht in ganz anderen Branchen.

Ohne entsprechende Weiterbildung könnte es künftig in Deutschland zu Produktionsausfällen von 100 Milliarden Euro im Jahr kommen, warnt Heil im Handelsblatt-Interview: „Deshalb müssen wir hier etwas tun.“

Online-Informationsportal soll Angebote bündeln

Schon heute gibt es knapp 1,4 Millionen offene Stellen. Um die Not der Wirtschaft zu lindern und Beschäftigten die Angst vor dem Wandel zu nehmen, legt die Regierung an diesem Mittwoch die Nationale Weiterbildungsstrategie vor, die Heil gemeinsam mit Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) entwickelt hat. Noch in diesem Jahr soll ein Gesetz auf den Weg gebracht werden.

Vorgesehen ist ein Online-Informationsportal, das die zersplitterten Angebote des Weiterbildungsmarktes bündelt. Laut Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) gibt es derzeit 220 bundesrechtlich geregelte Fortbildungsabschlüsse.

Hinzu kommen neben Länderangeboten noch 2600 Regelungen einzelner Kammern, die zum Teil nur im jeweiligen Kammerbezirk gelten. Die Checkliste des BIBB, die Fortbildungsinteressierten einen weg durch diesen Dschungel weisen soll, ist 50 Seiten lang.

Da vor allem Geringqualifizierte nur unterdurchschnittlich von Weiterbildung profitieren und zugleich besonders von Arbeitslosigkeit bedroht sind, sollen sie einen Rechtsanspruch erhalten, einen Berufsabschluss nachzuholen. Zudem will die Regierung Weiterbildungsverbünde fördern, in denen große und kleine Unternehmen kooperieren.

Weiterbildung soll für alle Chancen eröffnen

Berufs- und Hochschulen will sie stärker für Weiterbildung öffnen, die Anerkennung nicht formaler Qualifikationen erleichtern und „Vertrauensmentoren“ installieren, bei denen Beschäftigte in kleinen und mittleren Betrieben Rat suchen können.

Nach Ansicht der Grünen müsste die Große Koalition noch mehr tun und das lebensbegleitende Lernen zum gleichberechtigten Teil des öffentlichen Bildungsauftrags machen: „Damit sich auch Geringqualifizierte das Lernen neben dem Job leisten können, brauchen wir einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung und eine bessere soziale Absicherung“, fordert Beate Walter-Rosenheimer, Sprecherin für Aus- und Weiterbildung.

Die ehemalige Arbeitsmarktexpertin der Grünen, Brigitte Pothmer, und andere Experten machen sich in einem Konzept für die Heinrich-Böll-Stiftung unter anderem für eine Arbeitsversicherung stark, die neben den Kosten der Weiterbildung auch Mittel für Lohnersatzleistungen bereitstellen würde.

Das von Heil auf den Weg gebrachte Qualifizierungschancengesetz sieht nach Unternehmensgröße gestaffelte Zuschüsse vor, wenn Arbeitgeber Beschäftigte für Qualifizierungen freistellen und den Lohn weiterzahlen.

Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer betonte, dass die Wirtschaft schon heute jährlich 33 Milliarden Euro in Weiterbildung investiere. Wichtig sei, dass Interessen und Neigungen der Arbeitnehmer ebenso berücksichtigt würden wie die Bedarfe des Betriebs und des Arbeitsmarkts. „Ein einseitiger Rechtsanspruch auf Weiterbildung würde diesem sinnvollen Grundsatz der Abwägung beider Seiten widersprechen.“

FDP-Arbeitsmarktexperte Johannes Vogel (FDP) mahnte die Regierung, sich nicht auf der Nationalen Weiterbildungsstrategie auszuruhen. „Wo sind wirklich innovative Ideen wie ein Midlife-BaföG oder ein Langzeitkonto zum Bildungssparen?“, fragt er.

Das Bafög habe einer breiten Masse der Bevölkerung die Türen zu den Universitäten geöffnet. „Warum sollte das nicht auch im zweiten Bildungssystem möglich sein?“ Mit den Langzeitkonten für Beschäftigte gebe es schon ein Instrument, das man nur umbauen und allen Erwerbstätigen zugänglich machen müsste, um ein echtes Bildungssparen zu ermöglichen.

Lesen Sie hier das gesamte Interview mit Hubertus Heil:

Herr Minister, warum brauchen wir eine Nationale Weiterbildungsstrategie?
Wir rechnen damit, dass bis 2025 durch Digitalisierung und technologischen Wandel etwa 1,3 Millionen Arbeitsplätze verloren gehen und gleichzeitig ungefähr 2,1 Millionen neue entstehen werden. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Beschäftigten von heute auch die Arbeit von morgen machen können – auch um Fachkräftemangel zu vermeiden.

Der schon heute eine Wachstumsbremse ist …
Ja, wer gerade versucht, in Ballungszentren einen Handwerker zu bekommen, weiß das. Wenn wir da nicht massiv rangehen, drohen nach unseren Berechnungen Produktionsausfälle von jährlich 100 Milliarden Euro. Deshalb müssen wir hier dringend etwas tun.

Wird es einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung geben?
Es wird einen Rechtsanspruch geben, einen Berufsabschluss nachzuholen. Denn in Deutschland leben ungefähr zwei Millionen Menschen zwischen 20 und 34 Jahren, die keinen besitzen. Bisher gibt es nur einen Anspruch auf Förderung, wenn jemand einen Schulabschluss nachholen will.

Wann soll das kommen?
Ein entsprechendes Gesetz wollen wir möglichst noch in diesem Jahr auf den Weg bringen.

Der technologische Wandel trifft aber auch qualifizierte Beschäftigte …
Es geht um einen Dreiklang: zum einen die betriebliche Weiterbildung, die weiter Sache der Unternehmen ist. Wir müssen aber auch Arbeitslose stärker weiterbilden und Menschen umschulen, die in Firmen arbeiten, deren Geschäftsmodell wegbricht.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Wir erleben in der Automobil- und Zulieferindustrie einen doppelten Strukturwandel durch die Digitalisierung und neue, sauberere Antriebe. Wir erleben aber auch, dass in der Versicherungswirtschaft oder im Handel menschliche Arbeit durch Künstliche Intelligenz ersetzt werden wird.

Die IG Metall trommelt für ein neues Transformationskurzarbeitergeld, mit dem Ziel, bei sinkendem Arbeitsvolumen Beschäftigte im Betrieb zu halten und sie zu qualifizieren. Ist das Teil der Strategie?
Wir haben vereinbart, neue Instrumente zur Begleitung des Strukturwandels zu prüfen und umzusetzen. Ich halte es auf jeden Fall für sinnvoll, die Möglichkeiten der Kurzarbeit stärker mit Qualifizierung zu verbinden.

Warum sollte aber die Kassiererin mit ihren Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung dem hochbezahlten Metaller eine Umschulung finanzieren?
Weil auch die Kassiererin betroffen sein kann, wenn sie durch die Digitalisierung ihren Job verliert. In der Industrie und den industrienahen Dienstleistungen rechnen wir eher damit, dass die Arbeit nicht verschwindet, sondern dass es neue Qualifikationsanforderungen gibt. Im Bereich Handel, Banken und Versicherungen ist es eher so, dass menschliche Arbeit durch technische Lösungen ersetzt wird. Im Bereich Bildung, Gesundheit und Pflege werden wir dagegen einen weiter steigenden Bedarf nach menschlicher Arbeit erleben.

Also wollen Sie Versicherungskauffrauen zu Pflegerinnen machen?
Da muss man ein bisschen vorsichtig sein. Eine Amtsvorgängerin von mir hat sich viel Kritik eingehandelt mit dem Vorschlag, ob nicht die arbeitslos gewordenen Schlecker-Frauen Erzieherinnen werden könnten. Es geht in der Bildung, aber auch in der Pflege um qualifizierte Tätigkeiten, für die nicht jeder auf Anhieb geeignet ist. Aber wir werden in jedem Fall durch Qualifikation Menschen stärker unterstützen müssen, auch die Branche zu wechseln. Und wir müssen soziale Berufe attraktiver gestalten und besser bezahlen.

Aber ist das nicht schwierig, wenn man noch gar nicht genau weiß, welche Berufe und Qualifikationen künftig gefragt sein werden?
Wir haben ja schon eine Fülle von Daten wie den Fachkräftemonitor, der künftig auch Angebot und Nachfrage von Qualifikationen beleuchtet. Zudem schauen wir mit unserem Kompetenz-Kompass auf die Qualifikationsentwicklung in einzelnen Branchen. Die Daten finden Eingang in die Beratungsarbeit der Bundesagentur für Arbeit. Richtig ist aber, dass wir noch besser werden müssen in der Weiterbildungsberatung von Beschäftigten, aber auch bei der Berufsorientierung von Schülerinnen und Schülern.

68 Prozent der Akademiker machen eine Weiterbildung, aber nur gut 30 Prozent der weniger Qualifizierten. Wie wollen Sie hier einen Kulturwandel erreichen?
Jedem muss klar sein, dass eine Erstausbildung allein künftig nicht mehr automatisch reicht. Deshalb müssen wir unsere Berufsschulen, Universitäten und Fachhochschulen stärker zu Weiterbildungsanbietern machen. Es ist gut, dass die Länder mit im Boot sind. Außerdem werden wir Fortschritte bei der Weiterbildung künftig regelmäßig durch die OECD untersuchen lassen. Ich erhoffe mir einen ähnlich aufrüttelnden Effekt wie einst von den Pisa-Studien der OECD.

Wie wollen Sie Arbeitslosen helfen?
Wir werden dafür sorgen, dass alle Arbeitslosen innerhalb von drei Monaten ein Qualifizierungsangebot bekommen. Und wir werden finanzielle Anreize für Arbeitslose setzen, sich weiterzubilden.

Kommt hier der alte SPD-Vorschlag des Arbeitslosengelds Q in neuem Gewand? Wer sich weiterbildet, kann länger Arbeitslosengeld beziehen?
Das ist eine Überlegung, über die zu reden sein wird. Die zweite ist, Arbeitslosen einen Zuschuss zu zahlen oder bestimmte Kosten zu übernehmen. Das werden wir jetzt genau ausformen.

Andrea Nahles hatte als Arbeitsministerin vorgeschlagen, jedem Bürger 20.000 Euro auf ein Chancenkonto zu zahlen, aus dem später eine Weiterbildung finanziert werden kann. Gibt es diese Idee noch?
Nicht in der Nationalen Weiterbildungsstrategie, aber über Konzepte zur Gestaltung individueller Bildungszeiten werden wir in der Zukunft weiter reden müssen.

Es bestehen berechtigte Zweifel daran, dass die Große Koalition dieses Jahr übersteht. Hat es da überhaupt noch einen Sinn, langfristige Strategien zu entwerfen?
Gerade jetzt müssen wir liefern. Für mich ist das Ergebnis der Europawahl ein Auftrag, dass wir in dieser Koalition unsere Pflicht tun und große Fragen konkret lösen. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz oder der konzertierten Aktion Pflege lösen wir konkrete Probleme und bringen das Land voran. Es gilt, nicht nur weiterzumachen, sondern ambitionierter zu werden. Wir müssen die großen Themen anpacken: die digitale Transformation unserer Gesellschaft und des Arbeitsmarkts, die Verbindung von Arbeit und Klimaschutz, die Organisation von sozialer Sicherheit.

Ambitioniert sind Sie bei der Grundrente, aus Sicht der Union überambitioniert. Lässt die SPD die Koalition scheitern, wenn sie Ihr Konzept nicht durchbekommt?
Ich diskutiere nicht übers Scheitern, sondern übers Machen. Ich will, dass wir die Grundrente in dieser Regierung umsetzen. Über den Sommer wird es dazu Gespräche in der Koalition geben. Mein Gesetzentwurf liegt vor. Auf der Basis können wir zu einer Lösung kommen, die dann im Herbst von Kabinett und Bundestag verabschiedet werden kann.

Den Entwurf lehnen CDU und CSU aber ab. Sind Sie bereit zu Kompromissen?
Alle Seiten müssen kompromissfähig sein. Die zentrale Frage ist: Wie viele Menschen erreichen wir, die nach einem Leben voller Arbeit eine Rente oberhalb der Grundsicherung verdient haben? Mein Vorschlag hilft drei Millionen Menschen, die Überlegungen aus Union ungefähr 150.000. Das ist schon ein erheblicher Unterschied. Ich will eine Grundrente, die den Namen verdient, und keine Placebo-Lösung. Bei der Grundrente geht es um Leistungsgerechtigkeit. Sie ist nicht bedingungslos und hat klare Voraussetzungen.

Die Union sagt, eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung sei mit ihr nicht zu machen. Können Sie sich zumindest eine Prüfung vorstellen, bei der das Partnereinkommen berücksichtigt wird?
Die Verhandlungen führe ich in der Regierung und nicht öffentlich. Aber mein Vorschlag sieht ja eine Reichtumskappung vor: Wenn Grundrentenbezieher einen gut verdienenden Partner haben, müssen sie gemeinschaftlich Steuern zahlen.

Die SPD braucht einen neuen Vorsitzenden oder eine neue Vorsitzende. Sie waren Generalsekretär, nun sind Sie Minister. Würden Sie die Aufgabe annehmen, Ihre Partei aus der Krise zu führen?
Als Arbeitsminister will ich auch weiter meinen Beitrag dafür leisten, dass unser Land in Zeiten rasanter Veränderung wirtschaftlich und sozial erfolgreich bleibt.

Warum scheut sich die erste Riege der Sozialdemokraten, nach dem Parteivorsitz zu greifen?
Das wird sich alles klären. Die SPD hat genug Persönlichkeiten, die das können. Ich finde es gut, dass die Partei das nicht übers Knie bricht. Denn angesichts der Lage, in der wir sind, muss das eine gute Lösung sein. Die SPD hat nach meiner festen Überzeugung inhaltlich und personell viel mehr Potenzial, als einige im Moment denken. Wir sind die Kraft, die wirtschaftlichen Erfolg, sozialen Zusammenhalt und ökologische Vernunft verbindet.

Welches Verfahren bevorzugen Sie bei der Suche nach einem neuen Parteichef?
Ich wünsche mir, dass es eine breite Beteiligung der Mitglieder gibt. Das kann eine Mitgliederbefragung sein. Ich halte das auch für sinnvoll, wenn es mehrere Kandidaten und Kandidatinnen gibt.

Herr Minister, vielen Dank für das Gespräch.

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