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Die virtuellen Auswanderer: Wie Amerikaner der Demokratie den Rücken kehren

Der Wohlstand des American Dream hat widersprüchliche Folgen: Er verdrängt Existenzängste. Und an ihre Stelle treten reale wie eingebildete Sorgen.

 Foto: dpa
Foto: dpa

Die Präsidentschaft von Donald Trump ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Er, der nicht einmal über einen republikanischen Parteiausweis verfügte, hat sich innerhalb von nur drei Jahren die altehrwürdige GOP (Grand Old Party) angeeignet, Opponenten ruhiggestellt und enorme Unterstützung eingeschriebener Parteimitlieder gesichert: sagenhafte 80 bis 90 Prozent. Und dies, obwohl er – von der Washington Post sorgfältig dokumentiert – in den ersten 928 Amtstagen insgesamt 12.019 Mal die Unwahrheit sagte, ungeahnte ökonomische Wirren produziert und rund hundert Millionen nicht-weiße Amerikanerinnen und Amerikaner täglich daran erinnert, dass sie in seinen Augen Menschen zweiter Klasse sind.

Dennoch ist der Präsident bei knapp einem Drittel der republikanischen Wählerinnen und Wähler beliebter als noch 2016, als ihm viele wider Willen die Stimme gaben und sich unsicher waren, ob er wirklich der richtige Mann für das Amt sei. Sogar einige Demokraten und Unabhängige sehen ihn positiver als noch vor drei Jahren.

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Wie ist das zu erklären? Ist sein autoritärer, frauen- und minderheitenfeindlicher Gestus ansteckend? Warum sind selbst gut situierte Mittelschichtsamerikaner anfällig gegenüber den emotionalen Angeboten des Ressentiments und gegen alte Verbündete besonders in Europa gerichteter Großsprecherei? Allein wirtschaftliche Faktoren können es nicht sein. Nur ein Drittel der Trump-Wähler verdient weniger als der Landesdurchschnitt, rund 60 Prozent haben ein überdurchschnittliches Einkommen, ein Fünftel seiner Unterstützter verdienen über 100.000 Dollar im Jahr.

Gebildete und wohlhabende Amerikaner wenden sich Donald Trump zu und kehren damit zugleich traditionellen politischen Umgangsformen den Rücken. Auch akzeptieren sie stillschweigend oder offen, dass der Präsident auf seinen (arg verfrühten) Wahlveranstaltungen lächelt, wenn hunderte seiner Anhänger „Schickt sie zurück“ skandieren – gerichtet an eingebürgerte und in den USA geborene, demokratische Kongressabgeordnete. Und das in einem Land, in dem die Staatsangehörigkeit sich nach dem Geburtsort und nicht der Blutgruppe der Eltern richtet.

Dass über 200 Jahre alten Fundamente der amerikanischen Verfassungstradition durch tägliche Tabubrüche des Präsidenten infrage gestellt werden, ist in einem multikulturellen Land wie den USA keine Lappalie, sondern hat konkrete Auswirkungen. Trumps nicht enden wollende Angriffe, besonders gegen Latinos und Muslime, machen die Menschen krank – im Sinne des Wortes. Die Zahl der Kinder mit mexikanischem Hintergrund in psychologischer Behandlung hat sich vervierfacht, seit der Präsident Einwanderer aus diesem Land als Vergewaltiger und Kriminelle beschimpfte. Und es gibt einen messbaren Anstieg von gefährlichen Frühgeburten unter amerikanischen Latinas.

Warum also lassen so viele Amerikaner aus der ökonomischen Mitte der Gesellschaft es zu, dass ihre Kollegen, Nachbarn und Schulfreunde ihrer Kinder in solcher Weise behandelt werden? Und wie ist es zu verstehen, dass sie schweigen: Wenn die USA nicht nur ihre vertraglichen Asylverpflichtungen missachten, sondern nach wie vor an der Grenze aufgegriffene Familien in vollkommen unwürdigen Bedingungen inhaftiert werden, unter denen bereits mehrfach Kinder verstarben?

Dies mit einer wie auch immer gearteten ökonomischen Krise zu begründen, das gilt selbst bei den Einkommensschwachen nur eingeschränkt. Seit Ende der Obama-Regierung wurde der Druck auf Löhne weitgehend gestoppt, weiterhin betroffen sind vor allem die aus der vorherigen Einwanderergeneration. Die Konsumentenpreise sanken, und es gab in den vergangenen Jahren einen spürbaren Kaufkraftzuwachs. Den amerikanischen Mittelschichten geht es, was disponibles Einkommen und Immobilieneigentum angeht, besser als den Europäern. Warum also dieses Sättigungs-Paradox und die immense Populismusanfälligkeit?

Natürlich sind die Amerikaner nicht allein. Auch der Brexit kam überraschend und war nicht aus einer ökonomischen Krise geboren. In Deutschland wächst die AfD in Zeiten, in denen sensationelle 93 Prozent mit ihrem Leben zufrieden sind, deutlich mehr als noch 2003. Auch in den USA selbst gibt es historische Analogien: die Zahlen der Ku-Klux-Klan-Mitglieder stiegen in den goldenen zwanziger Jahren explosionsartig an; und der antikommunistische Wahn der McCarthy-Ära entwickelte sich während der prosperierenden fünfziger Jahren, als die Vereinigten Staaten zur unumstrittenen globalen Wirtschaftsmacht wurden und der Lebensstandard rasant anstieg.

Der Wohlstand des American Dream hat offensichtlich widersprüchliche Folgen: Er verdrängt Existenzängste. Und an ihre Stelle treten reale wie auch eingebildete Sorgen: um Grenzzäune, imaginierte Benachteiligung, den vermeintlichen Untergang der eigenen Hautfarbengruppe oder Transgender-Toiletten. In den USA befeuern vor allem weiße Männer, jüngeren und mittleren Alters, mit überdurchschnittlicher Bildung solche Furcht vor Ordnungs- und Sicherheitsverlust. Viele Sorgen, die eine Grundlage in der gelebten Wirklichkeit haben, übersetzen sich in immateriellen Fragen von Identität, Heimat, altes Amerika und Gemeinschaft. Man hat den Eindruck, viele wünschen sich eine Gesellschaft zurück, die sie an die Schwarz-Weiß-Fotografien ihrer Kindheit erinnern.

Dies sind nicht alles Hirngespinste. Die Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges, den die USA wie kein anderes Land dominierten, stellt ganz neue Anforderungen. Der ungezügelte Freihandel unserer Epoche privatisiert Aufgaben des Souveräns, überträgt Entscheidungen auf nicht-gewählte Institutionen und – vielleicht der wichtigste Indikator für die Politikverdrossenheit – er überträgt das Risiko zunehmend von der Gemeinschaft auf den Einzelnen. Auf die Sorgen derer, die sich eigentlich keine zu machen brauchten, antwortete das politische Establishment in den USA oft mit der verheerenden Antwort, es gebe „keine Alternative“. Und in Europa flüchtete man sich in britische und italienische Referenden. Antworten sind das nicht.

So hat Donald Trump ein Bermuda-Dreieck der Angst mit den Eckpunkten Terrorismus (Islam), Einwanderung (Mexiko) und Globalisierung (Handel/Deutschland) überzeugend grundiert. Mit der Folge, dass viele Amerikaner die es besser wissen sollten, sich von ihren eigenen Lebenserfahrungen abwenden und den Trumpschen Eskapismus mit machen – als ersten Schritt des Hintersichlassens lange bewährter demokratischer Formen und Verfassungstraditionen. Es handelt sich um eine bizarre Form der Auswanderung: die virtuellen Emigranten der bürgerlichen Mittelschichten setzen sich über Realitätsverpflichtungen des politischen Diskurses hinweg und bebildern ihre Ängste in den Farben des Fremden. Wenn genug dies tun, ist das Feld für die Demagogen bereitet.

Heute, mit zwei Jahren Verspätung wird der archaische Unterton von Donald Trumps Inaugurationsrede im Januar 2017 stilbildend. Mit Blick auf Welthandel und Migration hatte er damals gesagt, Amerika würde enteignet und zeichnete ein an Hieronymus Bosch erinnerndes Bild: „rostbefallene Fabriken zeichnen wie verstreute Grabsteine die Landschaften unserer Nation. … Kriminalität und Gangs und die Drogen, die so viele Leben nahmen und unserem Land so viel unverwirklichtes Potenzial stahlen.“ Dann folgte die denkwürdige Formulierung: „Dieses amerikanische Massaker endet hier und jetzt.“

Dieses Leitmotiv ist bei Präsident Trump tief verankert. Es legitimiert Angriffe auf die Presse, politische Gegner und andere Staaten mit der notwendigen Rücksichtslosigkeit. Die unerbittliche Härte seiner Drohpolitik bricht jedoch immer wieder an dem, was Thomas Mann einmal die „eisernen Welttatsachen“ nannte. Und weil die Welt sich nicht nach seinem Bilde richten lässt, finden sich die Schuldigen allerorten: Chinesen, Latinos, Muslime, Deutsche und Grönländer.

Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner beteiligen sich (zumindest ideell) an Trumps Windmühlenkampf gegen die eisernen Welttatsachen. Er endet nicht selten mit der Emigration aus der institutionellen Verfasstheit des modernen Amerika sowie des moralischen Inventars, das gespeist wurde aus dem Kampf um Bürgerrechte und der US-Beteiligung an zwei europäischen Weltkriegen. Die virtuellen Emigranten Amerikas begeben sich notgedrungen auf einen Weg, an dessen Ende kein Ankunftsort liegt, sondern vor allem Hass und Wut auf die eigene Gesellschaft.

Gerade in ländlichen Regionen, erfasst von digitaler Überreizung und vereinfachenden Antworten auf komplizierte politische Fragen, bieten die Facebook-Echokammern der Gleichmeinenden das neue Zuhause. Politisch ist diese Dynamik besonders schädlich, denn ländliche Regionen sind sowohl im US-Senat als auch im Wahlmanngremium, das den Präsidenten wählt, dramatisch überrepräsentiert. Hinzu kommt, dass Kongressabgeordnete alle zwei Jahre zur Wahl stehen und sich daher praktisch im Dauerwahlkampf befinden. So übertragen sich populistische Dummheiten der Basis noch schneller in Politik als in westeuropäischen Demokratien.

Sarah Palin pochte bereits 2008 als John McCains Vizekandidatin darauf, dass das „echte Amerika“ wieder hermüsse. Damals wurde das noch als provinzielle Banalität verspottet. Im Rückblick ist jedoch klar, dass hier bereits der Wunsch nach dem Amerika der Schwarz-Weiß-Fotografien verschlüsselt war. Palin hat damals der schmerzhaften Einsicht Ausdruck gegeben, dass im weißen Amerika nicht mehr alles so war wie früher. Die gestaute Wut, die sie half freizusetzen, zeigte schon vor einem Jahrzehnt, was für eine unerträgliche Beleidigung es für viele Wähler bedeutete, dass es keine einfachen Antworten auf komplexe Probleme einer modernen Massengesellschaft gibt.

Donald Trump suggeriert einen Weg zurück in eine Vergangenheit, die nie existierte – eine schwarz-weiße Welt, in der den „Anderen“ im In- und Ausland das Fürchten gelehrt wird. Die Wahl im November kommenden Jahres ist daher nichts weniger als der Entscheid über die Rückkehr zur aufgeklärten Zukunft einer liberalen Gesellschaft oder die Fortsetzung der Auswanderung aus der amerikanischen Emanzipationstradition.

Michael Werz arbeitet in der Abteilung Nationale Sicherheit am Center for American Progress in Washington und ist Mitglied im Vorstand der Atlantik-Brücke Berlin.

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