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Viele Extrawünsche, wenig Leistung –Wie IT-Experten zu Diven des Jobmarktes werden

Auf dem Papier scheint der Mann genau richtig für das groß angelegte SAP-Projekt bei einem Automobilzulieferer im tiefen Westen Deutschlands. Mehrere Jahre Erfahrungen bei internationalen Konzernen schmücken den Lebenslauf, dazu mehrere Programmiersprachen, die auf tiefe Kenntnisse in der IT-Entwicklung schließen lassen. Auch der Tagessatz von gut 800 Euro für den Freiberufler erscheint vertretbar.

Doch schon kurz nach der Einarbeitung fällt dem zuständigen Teamleiter auf, dass es um die Arbeitsmoral des hochqualifizierten Experten nicht gut steht. Deadlines kümmern den jungen Mann aus Irland kaum, die Ergebnisse kommen mal pünktlich, mal mit großer Verzögerung. „Da war von Anfang an sehr wenig, worauf man sich verlassen konnte“, erinnert sich der Vorgesetzte.

Als der Manager den Mitarbeiter schließlich auf seine schwankende Leistungsbereitschaft anspricht, reagiert der Programmierer eingeschnappt – und entscheidet auf eigene Faust, die nächsten zwei Wochen von unterwegs zu arbeiten. Der Experte wird in der Firma nie wieder gesichtet, seine Arbeit müssen seither andere mitübernehmen.

Solche und ähnliche Fälle sind in vielen Firmen, vom Mittelständler bis zum Konzern alltägliches Ärgernis. Denn IT-Fachkräfte sind nicht nur rar, sie wissen auch sehr gut um ihre eigene Einmaligkeit. Wie der Branchenverband Bitkom Ende 2018 meldete, fehlen dem deutschen Arbeitsmarkt derzeit 82.000 IT-Fachkräfte – so viele wie noch nie. Fünf Monate dauert es der Umfrage zufolge im Schnitt, bis Unternehmen eine vakante IT-Stelle besetzen können.

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Besonders gefragt sind der Bitkom-Erhebung zufolge Programmierer, Projektmanager, Anwendungsbetreuer und Sicherheitsexperten. „Die meisten ITler sind sich ihres Status auf dem Arbeitsmarkt sehr bewusst“, sagt Philipp Leipold, Deutschlandchef des IT-Weiterbildungsanbieters Academy. „Sobald ‚Java‘ oder ‚IT-Security‘ im Xing-Profil auftaucht, glüht die Inbox.“

Das hat zur Folge, dass sich einige IT-Experten auf dem Arbeitsmarkt wie Diven aufführen. So ist es für deutsche Konzerne zur Gewohnheit geworden, ITler nicht nur mit einem überdurchschnittlichen Gehalt, sondern auch mit allerlei Extraleistungen zu verwöhnen. Es sind längst die Unternehmen, die sich bei den IT-Experten bewerben, nicht etwa umgekehrt.

Der Versandhändler Otto etwa sucht zurzeit einen Fullstack-Entwickler und wirft als Kandidatenköder neben Gratis-Konferenzbesuchen und Homeoffice gleich mal die Möglichkeit zum Sabbatical aus. Ein Personalvermittler, der sich für einen Kunden im Rhein-Main-Gebiet umhört, lockt zudem mit „flachen Hierarchien, Duzkultur und Familienfreundlichkeit“ – Kitakosten und Sommerfest mit Hüpfburg inklusive. Dass es eigentlich um komplexe Programmierprojekte geht, könnte man beim Blick auf die Stellenanzeigen fast vergessen.

Topleistung ist nur schwer zu bekommen

Das Bohei um die gefragten IT-Fachkräfte wäre durchaus gerechtfertigt, bekämen die Firmen im Gegenzug durchgängig Topleistung geboten. Aber genau da liegt ein großes Problem: „Angesichts des hohen Bedarfs bekommen derzeit auch unterdurchschnittliche IT-Mitarbeiter sehr gute Anstellungen“, sagt Leipold.

Gemäß dem Binärcode-Prinzip teilt sich auch die Welt der IT-Fachkräfte in Einsen und Nullen. Doch anders als bei Vertriebsprofis oder Controllern fällt es im opaken Gewerbe der Programmiersprachen besonders schwer, anhand des Lebenslaufs die Guten von den Schlechten zu scheiden.

Mit verheerenden Nebenwirkungen, wie zum Beispiel der Autobauer Subaru vergangenen Sommer in seiner Produktion erleben musste. Der japanische Konzern baut sein SUV-Modell Ascent weitgehend per Roboter in seinem Werk im US-Bundesstaat Indiana zusammen. Bei einigen Autos hatten die Maschinen jedoch aufgrund eines Fehlers im Softwarecode wichtige Punktschweißungen ausgelassen. Die betroffenen Stellen an den Fahrzeugen ließen sich nachträglich nicht mehr ausbessern. Subaru musste knapp 300 seiner SUVs von Händlern und Kunden zurückholen und die Karossen verschrotten.

„Wenn ein Friseur einen Fehler macht, hat er einen einzigen Haarschnitt verhunzt“, sagt Uwe Post. „Wenn ein Programmierer einen Fehler macht, kann sich das im schlimmsten Fall auf Millionen von Anwendungen auswirken.“ Der 50-Jährige weiß, wovon er spricht. Post ist selbst Softwareentwickler und berät Firmen, deren IT-Projekte ins Stocken geraten sind. Was Post in seinem Job erlebt, vermittelt einen guten Eindruck, wie groß die Verhandlungsmacht der ITler derzeit ist.

Post ist nebenberuflich Science-Fiction-Autor, doch die Geschichten, die er aus seiner Beraterpraxis erzählt, haben ähnlich großes Schocker-Potenzial. Der Entwickler erzählt von Programmierern, die eigentlich zusammenarbeiten sollten, aber über Nacht gegenseitig ihre Codes umschreiben.

Er berichtet von Freiberuflern, die zwei Stunden vor Projektbeginn absagen, weil sie doch noch von anderer Stelle ein spannenderes Angebot bekommen haben. Und von Unternehmen, die seit Jahrzehnten Programme in der Produktion verwenden, für die es längst keine Sicherheitsupdates mehr gibt. „Da hängen Millionenumsätze dran“, so Post.

Bereits 2017 hat der Experte aus dem Ruhrgebiet deshalb ein Buch mit dem Titel „Besser coden“ geschrieben. Anders als Posts Science-Fiction-Schmöker soll die Lektüre Programmierern und Nerds nicht nur Tipps zur sauberen Dokumentation ihrer Arbeit geben, sondern der sehr selbstbewusst auftretenden Fachkräfte-Spezies auch Kniffe in Umgangsformen und Führungsfragen vermitteln.

Negative Einzelfälle

Bei einigen IT-Experten besteht offenbar nicht nur auf technischer Ebene Nachholbedarf. Post ist niemand, der seine IT-Kollegen kollektiv verunglimpft. Er will vielmehr Arbeitgeber vor negativen Einzelfällen warnen. Oftmals liege die IT-Misere aber auch an den Firmen selbst, die wenig Ahnung von der Materie hätten und in ihrer Not auf Scharlatane hereinfielen. „Es gibt gute und schlechte ITler“, sagt Experte Post. „Die guten sind eben besonders schwer zu finden.“

So ging es auch einem Telekommunikationsunternehmen, das Post beriet. Der Konzern wollte seine Software zur Mobilfunkabrechnung komplett neu auflegen. Dafür ließ das Unternehmen zunächst drei Softwareentwickler gegeneinander antreten. Der beste Prototyp zum besten Preis erhielt den Zuschlag.

An sich keine schlechte Idee. Bloß hatte der Sieger des Programmierer-Pitches, ein Unternehmen aus Indien, nach der Zusage Deadline um Deadline verstreichen lassen, ohne sichtbare Ergebnisse. „Die hatten für den Prototypen ihre besten Leute eingesetzt und danach die Arbeit an jüngere Mitarbeiter delegiert, denen die entscheidenden Kenntnisse fehlten“, erklärt Post, der bei dem Projekt mal wieder Feuerwehr spielte.

Dass überhaupt vermeintliche Schnäppchenanbieter wie jener aus Indien zum Zuge kommen können, zeigt die triste Realität in vielen deutschen IT-Abteilungen. Da ist erstens die Anspruchshaltung vieler hiesiger IT-Experten bei Gehalt und Arbeitsbedingungen, die vor allem Mittelständler kaum noch erfüllen können oder wollen.

Auslagern, Missverstehen, Ärgern

Als Folge dieses Personalmangels neigen, zweitens, viele Unternehmen dazu, die Arbeit an ihrer digitalen Infrastruktur auszulagern. Glaubt man einer Erhebung des Magazins „Computerwoche“ in Kooperation mit der Beratung Hays, haben fast vier von fünf deutschen Firmen in den vergangenen zwölf Monaten IT-Freiberufler eingesetzt.

Das wichtigste Argument für die Unternehmen ist der hohe Grad an Flexibilität: Wenn die IT-Fachkräfte nur projektweise beschäftigt werden, lassen sich vorübergehend auch hohe Tagessätze rechtfertigen, ohne das Gehaltsgefüge in der Belegschaft durcheinanderzubringen.

Umgekehrt haben viele IT-Experten gar keine Lust mehr auf eine Festanstellung. Als freier Programmierer verdient man mehr – und kann jederzeit zu einem noch interessanteren Projekt wechseln oder Selbstverwirklichungsprojekte wie die lang geplante Patagoniendurchquerung per Fahrrad einschieben. Was auf der Strecke bleibt, ist die Verlässlichkeit. Ein gefährliches Phänomen in dem sensiblen Bereich Unternehmens-IT.

Zumal, drittens, die Qualitätskontrolle der freiberuflichen Experten oft oberflächlich ausfällt. Auch der Bereichsleiter des besagten Telekommunikationsunternehmens war auf das Fake-Schnäppchen aus Indien hereingefallen. Laut einer Studie der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin haben 92 Prozent der gut 400 Vorstände deutscher börsennotierter Unternehmen keinerlei Digitalerfahrung vorzuweisen. Und während es undenkbar erscheint, dass der Leiter einer Rechtsabteilung kein Volljurist ist, können selbst IT-Bereichs- oder Projektleiter vielfach keinen Code lesen – oder zumindest nicht in den derzeit gefragten Programmiersprachen.

Wie sollen Manager da gute von schlechten ITlern unterscheiden? Philipp Leipold wüsste eine Lösung. Seine Academy bildet – nach einem Vorbild aus Schweden – Fach- und Führungskräfte in einem Zwölf-Wochen-Programm zu IT-Beratern aus. Nach dem Crashkurs sind die lernwilligen Manager in der Lage, Programmcodes zu verstehen und – zumindest auf Anfängerniveau – selbst zu schreiben. Wer den Kurs durchzieht, dem winkt ein unbefristetes Arbeitsverhältnis bei der schwedischen Academy-Muttergesellschaft, die die IT-Berater zu Unternehmen entsendet.

In Deutschland lassen inzwischen einzelne Unternehmen gezielt ihre Mitarbeiter nach dem Academy-Prinzip ausbilden. So hat zuletzt das Münchener IT-Systemhaus Microstaxx 13 neue Netzwerktechniker bei Leipold ausbilden lassen. 2018 startete der erste Academy-Jahrgang, dieses Jahr könnten es bereits mehr als 100 Absolventen werden, schätzt Leipold. Das sind wenig im Vergleich zu den 82.000 IT-Fachkräften, die laut Bitkom in Deutschland fehlen. Aber immerhin ein Anfang.