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Verhältnismäßig oder weltfremd? Streit um Fahrverbote entzweit Justiz und Politik

Der Groll in der Politik über die Dieselfahrverbote wächst, während die Justiz sich gegen Einmischungen verwehrt. Es ist ein Streit um Recht und Willkür.

Berlin, Hamburg, Köln, München, Frankfurt am Main, Stuttgart, Düsseldorf, Köln, Aachen, Bonn, Mainz und nun auch Essen und Gelsenkirchen – die Liste der Städte, bei denen die zuständigen Gerichte Diesel-Fahrverbote angeordnet haben, wird immer länger. Weitere Klagen der Deutschen Umwelthilfe laufen. Doch mit jedem Urteil schwindet die gegenseitige Akzeptanz von Politik und Justiz.

Jetzt, da zum ersten Mal ein Stück Autobahn betroffen ist, das jeden Tag mehr als hunderttausend Menschen nutzen, erreicht die Kontroverse über das nötige Augenmaß einen neuen Höhepunkt.

So kritisierte der parlamentarische Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, Steffen Bilger (CDU), das Urteil zu den neuen Diesel-Fahrverboten für die Autobahn A40 in Essen scharf. „Es ist sicherlich unverhältnismäßig, wenn Fahrverbote für Autobahnen angeordnet werden sollen“, sagte Bilger dem Handelsblatt. „Viele Menschen wundern sich zu Recht über solche weltfremden Urteile.“

Direkt nach dem Urteil hatte Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) gepoltert, er halte das Gerichtsurteil für „unverhältnismäßig“. Auch wenn er nachschob, es stehe ihm nicht zu, die Justiz zu kritisieren. Urteile wie diese gefährdeten die Mobilität Hunderttausender Bürger. Scheuer wetterte: „Niemand versteht diese selbstzerstörerische Debatte.“

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Während Politiker die Entscheidungen der Gerichte immer häufiger mit Kopfschütteln quittieren, verwehrt sich die Bundesjustizministerin nun auf das Schärfste gegen Angriffe auf die Justiz: „Was unabhängige Gerichte entscheiden, muss gelten“, sagte Katarina Barley (SPD) dem Handelsblatt. Das sei die Grundlage unseres Rechtsstaates. „Es ist die Aufgabe der Politik, Entscheidungen zu treffen, die vor unserer Verfassung Bestand haben“, sagte Barley.

Doch der Groll in der Politik schwillt nicht mehr ab. Der Generalsekretär des CDU-Wirtschaftsrats, Wolfgang Steiger, wertet die Dieselurteile als „sichtbaren Beleg für die Entfremdung von der Lebenswirklichkeit“.

Wie solle das Leben einer Großstadt organisiert werden, wenn die wichtigsten Verkehrsachsen mit Fahrverboten belegt würden? Und wie kämen Lebensmittel in den Supermarkt, Stahlträger auf die Baustelle oder Handwerker zum Kunden? „Die betroffenen Städte sind gut beraten, gegen die jeweiligen Urteile Berufung einzulegen, damit deren Innenstadtbezirke nicht von der Versorgung abgekoppelt werden“, riet Steiger.

FDP-Fraktionsvize Frank Sitta zog zwar nicht in Zweifel, dass das Gericht auf Basis der von der Politik vorgegebenen Rechtsgrundlagen entschieden habe. Dies solle aber überprüft werden, „denn im Ergebnis halte ich das Urteil für unverhältnismäßig“, sagte Sitta.

„Die Rechte einer großen Zahl von Autofahrern werden beschränkt, und das letztlich nur aufgrund fragwürdig gewonnener Messergebnisse“, betonte der FDP-Politiker. „Wenn es tatsächlich um den Gesundheitsschutz gehen würde, würde man da messen, wo sich Menschen länger aufhalten und nicht da, wo der Auspuff am nächsten ist.“

Auch in den Kommunen ist der Unmut groß. Die jüngste Entscheidung sei „ein verheerendes Signal für die Stadt, die Dieselfahrer, aber auch die Anwohner“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds, Gerd Landsberg, dem Handelsblatt. „Bei der Umsetzung würde einer wichtigen Stadt im Ruhrgebiet der Stecker gezogen.“ Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei nicht ausreichend berücksichtigt.

Es ist nicht der einzige Fall, dass Politiker Unverständnis über Entscheidungen der Justiz äußern. So hatte im Fall des Gefährders Sami A. der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) bekundet, die Justiz müsse sich auch am Rechtsempfinden der Bürger orientieren.

Oder der Fall Wetzlar. Der dortige Oberbürgermeister Manfred Wagner (SPD) hatte sich geweigert, der NPD die Stadthalle für eine Kundgebung zu vermieten. Am Ende entschied das Bundesverfassungsgericht zugunsten der NPD. Doch die Stadt ignorierte die Entscheidung der Karlsruher Richter einfach.

Legendär sind auch die Bekundungen des damaligen Bundesministers Wolfgang Schäuble (CDU), das Bundesverfassungsgericht greife zu sehr in die Gesetzgebung ein.

Doch die Gerichte können gar nicht anders, als die Gesetze zu achten. Im Falle der Diesel-Fahrverbote gelten die von der EU in einer Richtlinie zur Luftqualität festgelegten Stickoxidgrenzwerte – und zwar seit fast zehn Jahren.

Doch der deutsche Gesetzgeber tat nichts. Mittlerweile hat die EU-Kommission beim Gerichtshof der Europäischen Union Klage gegen Deutschland eingereicht, weil keine geeigneten Maßnahmen ergriffen wurden.

Das Handeln der Umwelthilfe ist legitim

Für Deutschland erging im Februar ein höchstrichterliches Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zu den Diesel-Fahrverboten: Diese seien grundsätzlich zulässig, obgleich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden müsse.

„Wenn es Vorgaben zum Grundrecht auf Gesundheit gibt, dann kann die Politik den Kopf nicht einfach in den Sand stecken“, sagte der Speyrer Staatsrechtler Joachim Wieland dem Handelsblatt. Dass dies nun von der Deutschen Umwelthilfe ausgenutzt werde, um die Politik zu treiben, sei in einem Rechtsstaat legitim.

„Die Urteile zu den Diesel-Fahrverboten lassen die Verhältnismäßigkeit nicht außer Acht“, meint Wieland zudem. „Der Grundsatz gibt den Gerichten kein bestimmtes Ergebnis vor.“ Er bedeute nur, dass nicht riesige Gebiete mit Verboten belegt werden dürften, sondern nur einzelne Strecken.

Das Fahrverbot für die Autobahn sieht Wieland zwar als „harten Eingriff“. Aber hier werde die zweite Instanz zeigen, ob die Entscheidung Bestand habe.

„Es liegt völlig neben der Sache, Gerichte dafür zu kritisieren, dass sie geltendes Recht anwenden“, betonte auch der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbunds (DRB), Sven Rebehn. „In einem Rechtsstaat sind nicht die Rechtsauffassung eines Ministers oder das vermeintliche Rechtsempfinden einer Mehrheit maßgeblich.“ Damit würde Recht durch Willkür ersetzt.

Wenn die Exekutive sich über Entscheidungen der Justiz hinwegsetze oder sie fortlaufend infrage stelle, untergrabe das die Autorität der Rechtsprechung. „Das bringt den Rechtsstaat aus dem Gleichgewicht“, warnte Rebehn.

In Bayern ist der Streit bereits eskaliert. Hier ignoriert die Staatsregierung seit fast zwei Jahren ein rechtskräftiges Urteil, wonach ein Diesel-Fahrverbot für München auszuarbeiten ist. Da der Freistaat Zwangsgelder bislang einfach bezahlt hat, ohne aber tätig zu werden, droht die Justiz nun sogar mit einer Zwangshaft für Politiker.

Eine Zwangshaft für Ministerpräsidenten

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof bemängelte mit Blick auf die fehlenden Umweltschutzmaßnahmen, dass sich „das rechtskräftig verurteilte Bundesland sowohl gegenüber den Gerichten als auch öffentlich – und dies unter anderem durch seinen ranghöchsten politischen Mandatsträger sowie gegenüber dem Parlament – dahingehend festgelegt hat, dass es die rechtskräftige, zu vollstreckende gerichtliche Entscheidung nicht befolgen wird“.

In Kürze wird entschieden, ob dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Frage vorgelegt wird, ob eine Zwangshaft gegenüber Ministerpräsidenten, Ministern und Behördenleitern rechtmäßig sei.

Die Bundesregierung will den Konflikt zwischen Politik und Justiz nun offenbar mit einem Trick entschärfen. Sie hat beschlossen, das Bundesimmissionsschutzgesetz zu ändern. Demnach sollen Diesel-Fahrverbote in allen Städten für „unverhältnismäßig“ erklärten werden, wenn der EU-Grenzwert im Jahresmittel nur geringfügig überschritten wird.

Verbote sollen dann nicht schon ab 40, sondern erst ab 50 Mikrogramm Stickoxidbelastung verhängt werden. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob für die Richter nicht trotzdem das EU-Recht bindend ist.

„Man glaube nicht, dass es so einfach ist, das Problem durch Änderung eines Gesetzes vom Tisch zu bringen“, mahnt denn auch der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) und fordert neue Mobilitätskonzepte.

Als „Trauerspiel“ bezeichnet er den Umgang der Politik mit den Fahrverboten. Niemand wolle für unangenehme Folgen politischen Versagens die Verantwortung übernehmen. Baum betonte: „Hätte die Politik nicht viele Jahre mit der Automobilindustrie gemeinsame Sache gemacht, wäre es zu dieser Situation gar nicht gekommen, dass nun die Justiz das letzte Wort hat.“