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Die verhängnisvolle Liebe der Deutschen zur Frührente

Das offizielle Rentenalter steigt bis auf 67 Jahre. Doch kaum jemand arbeitet tatsächlich so lange. Die Babyboomer zeigen einen besonders deutlichen Hang zum vorzeitigen Ruhestand – und das hat gravierende Folgen.

Das deutsche Rentensystem fußt auf einer einfachen Gleichung: Damit Rentner Geld bekommen, müssen gleichzeitig möglichst viele jüngere Arbeitnehmer in die Rentenkasse einzahlen. Für dieses Umlagesystem – wenn auch nicht für den persönlichen Rentenanspruch – ist also egal, wie viel ein heutiger Rentner früher einmal an Beiträgen eingezahlt hat. Bedeutend ist allein die Zahl der aktuellen Beitragszahler.

Da es immer mehr alte Deutsche gibt, die auch noch immer älter werden, muss die Zahl der Beitragszahler also möglichst gesteigert werden – oder darf zumindest nicht zu tief sinken. Schon bald werden aus den drei Arbeitnehmern, die aktuell noch einen Rentner schultern, nur noch zwei werden. Daher unisono die Forderung aller Rentenexperten, das Rentenalter anzuheben. Die Hoffnung: Die Menschen arbeiten länger und zahlen somit länger ein, statt auf die Empfängerseite zu wechseln.

Allein: Das Kalkül geht nicht auf. Selbst wenn das offizielle Renteneintrittsalter immer weiter angehoben würde, würde wohl kaum jemand so lange arbeiten. Das legt zumindest eine Studie der Universität Wuppertal nahe.

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Die Forscher rund um den Arbeitswissenschaftler Hans Martin Hasselhorn haben sich in einer sogenannten Kohortenstudie der Generation der Babyboomer gewidmet, jenen geburtenstarken Jahrgängen der 1950er- und 1960er-Jahre. Unter dem Titel „Leben in der Arbeit“ untersuchten sie, wie die Babyboomer zu Arbeit, Alter und Gesundheit stehen. Dafür befragten sie 6585 Menschen der Jahrgänge 1959 und 1964 insgesamt dreimal.
Das – zumindest für Rentenexperten – erschreckende Ergebnis: Über die Hälfte der Babyboomer möchte möglichst früh aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Nur jeder zehnte von ihnen würde freiwillig bis zum gesetzlichen Rentenalter arbeiten.

Dabei fallen die meisten Babyboomer in eine Übergangsphase und müssen noch gar nicht bis 67 Jahre arbeiten. Das müssen nur nach 1964 Geborene. „Es gibt hierzulande offenbar eine 'Kultur des Frühausstiegs'“, konstatiert Hasselhorn. „Das passt nicht mit dem gesellschaftspolitischen Anliegen einer allgemeinen Verlängerung des Erwerbslebens zusammen.“

Fast jeder dritte Befragte wünscht sich, mit 60 Jahren in Rente gehen zu können. Eine mit 26 Prozent ähnlich große Gruppe strebt die Rente mit 63 Jahren an, 15 Prozent die Rente mit 65 Jahren. „Typische Wunschzeitpunkte für den Erwerbsaustritt orientieren sich an Altersnormen“, bilanziert die Studie. Bei 60 Jahren lag lange Zeit die Altersgrenze für Frauen. 63 Jahre entspricht der „Rente mit 63“, von der vor allem die Jahrgänge vor den Babyboomern profitiert haben. Und bei 65 Jahren lag wiederum lange Zeit das reguläre Renteneintrittsalter.

Überraschenderweise spielen die Faktoren Gesundheit und Arbeitsfähigkeit beim Rentenwunsch kaum eine Rolle. Selbst jene Befragte, die sich sowohl als gesund als auch als arbeitsfähig einstufen, wollen zu über zwei Dritteln vor ihrem 65. Geburtstagaufhören zu arbeiten. „Selbst unter den vielen, bei denen ‚alles stimmt‘, wollen die meisten vorzeitig in Rente gehen“, sagt Hasselhorn. Der Wunsch nach der Frührente entspringt also nicht persönlichen Problemen oder Gebrechen, wie sie etwa immer wieder beim Beispiel des Maurermeisters in Feld geführt werden, der ja nicht bis 70 auf der Baustelle schuften könne.

Stattdessen ist der Wunsch nach der Rente eine Lifestyle-Entscheidung. Viele wollen noch etwas von ihrem Leben haben, bevor es zu spät ist. Und so hat denn der geplante "Ruhestand" für die meisten Befragten auch weniger mit Ruhe zu tun: Zwei Drittel wollen als Rentner stärker als zuvor Pläne machen, 60 Prozent noch mehr eigene Ideen verwirklichen. Lediglich zwölf Prozent erwarten, dass sie sich ohne Arbeit mehr langweilen könnten als mit Arbeit.

Für den Einzelnen mag es nachvollziehbar sein, dass er im Alter noch einmal in vollen Zügen das Leben genießen will, doch die Gesellschaft als Ganzes stellt diese Liebe zur Frührente vor Probleme. Umso mehr, als sie ausgerechnet von den Babyboomern geäußert wird. Jener Generation also, die mit ihrer hohen Zahl und hohen Erwerbstätigenquote seit Jahren den Löwenanteil der Steuern und Sozialabgaben stemmt.


Deutschlands Sozialkassen stehen vor einem doppelten Problem

Setzen die Babyboomer den Wunsch nach Frührente um, den sie in der Studie so breit äußern, so stellt das Deutschlands Sozialkassen gleich vor ein doppeltes Problem. Seit Jahren warnt etwa der ehemalige Ifo-Chef Hans-Werner Sinn vor der großen Rentenwelle der Babyboomer. Er erwartet die große Rentenwelle um das Jahr 2030. Dann werde es 7,5 Millionen mehr Rentner geben als heute.

Sollten die Babyboomer nun tatsächlich in Scharen in den Vorruhestand gehen, dürfte dieser Tag noch deutlich eher kommen als der Ökonom prognostiziert. Und die Konsequenz ist nicht nur, dass es dann immer mehr Rentner gibt mit Rentenansprüchen, die irgendwie finanziert werden müssen. Der zweite Teil des Problems liegt darin, dass die Babyboomer dann auf der Einzahler-Seite fehlen.

Hierzu ein kleines Zahlenspiel: Unter den Befragten der Studie der Uni-Wuppertal sind 92 Prozent beschäftigt, 62 Prozent mit einer Vollzeitstelle. In den sechs Jahren von 1959 bis 1964, die in der Studie untersucht wurden, wurden knapp acht Millionen Menschen geboren. Überträgt man die Beschäftigungsquote von 62 Prozent auf diese acht Millionen Menschen, kann man den Effekt des kollektiven Vorruhestandes sehr einfach sehen.

Wenn, um des Beispiels willen, jeder der Vollzeitarbeitenden den Durchschnittslohn verdiente, würden er und sein Arbeitgeber zusammen jedes Jahr gut 7000 Euro in die Rentenversicherung einzahlen. Rechnet man das auf acht Millionen Menschen hoch, kommt man auf 56 Milliarden Euro. Diese Summe ginge der deutschen Rentenversicherung durch die Lappen, wenn die genannten sechs Babyboomer-Jahrgänge vorzeitig in Rente gingen – und das jedes Jahr.

Natürlich werden nicht wirklich acht Millionen Menschen auf einen Schlag von Beitragszahlern zu Empfängern. Ein Teil von ihnen ist selbstständig und zahlt nicht in die Rentenversicherung ein, ein Teil wird länger arbeiten, ein Teil ist bereits gestorben. Das würde die Summe schmälern. Auf der anderen Seite zahlen auch die Teilzeitkräfte ein, die hier unerwähnt bleiben, und viele der Top-ausgebildeten Babyboomer verdienen deutlich mehr als den Durchschnittslohn.

Wie hoch die konkrete Summe auch immer tatsächlich wäre, klar ist: Ein kollektiver Vorruhestand der Babyboomer wird die Rentenkasse vor existenzielle Probleme stellen, von Kranken- und Pflegeversicherung ganz zu schweigen. Und das wird nicht erst 2030 geschehen, sondern es beginnt jetzt: Der älteste Jahrgang der frührenteaffinen Befragten wird bereits dieses Jahr 60 Jahre alt.

Was also müsste geschehen, um den Rentenkollaps abzuwenden? Die Deutschen müssten, und hier kommen wir auf den Anfang zurück, länger arbeiten. Und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern in Realität. Dazu müsste ihnen die Lust auf die Frührente genommen werden.

Wie das funktionieren könnte, hat sich auch der Wuppertaler Studienleiter Hasselhorn überlegt. Das Zauberwort heißt für ihn Motivation. Der Forscher verweist auf die skandinavischen Länder, wo die Menschen schon heute deutlich länger arbeiteten als in Deutschland. Dort gebe es eine „positive Arbeitskultur“. In den meisten Berufen arbeiteten die Menschen dort, weil sie es wollten, nicht weil sie es müssten.

Auch in Deutschland könnte die Lust an der Frührente gebrochen werden, glaubt Hasselhorn, auch wenn es dafür ein bisschen Unterstützung brauche: „Unserem Land könnte ein aktives politisches Marketing guttun, dass gute Arbeit in aller Regel gut ist, auch für die älteren Beschäftigten.“ Die Menschen müssten lernen umzudenken und den Begriff Arbeit in ihrem Kopf gleichsam von einem Fach ins andere räumen: „Länger arbeiten kann man auch als Gewinn und Chance sehen statt als Mühsal oder Muss.“