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Sind wir unseres eigenen Glückes Schmied? Zwei Professoren aus den USA und China blicken kritisch auf die politischen Systeme

Wenn der Ethik-Professor Michael Sandel über den Campus seiner Harvard-Universität geht, würden Studierende, die er unvermittelt fragt “Hast du es verdient, hier zu sein?” mit einem klaren “Ja” antworten. Sicher, mag der eine oder die andere einräumen, gehöre auch ein bisschen Glück dazu, aus der großen Zahl der Fähigen ausgewählt zu werden. Aber hauptsächlich sei es ihr eigener Verdienst, ihre Leistung, ihr Fleiß, ihr Schweiß und ihre Tränen, die in den Jahren der Vorbereitung auf das Elite-College geflossen sind. “Nein, nicht wirklich”, sagt Sandel, in seinem neuen Buch: “Die Tyrannei des Verdienstes: Was wurde aus dem Allgemeinwohl?”: Sandel will darin mit der Annahme aufräumen, dass jeder und jede wirklich des eigenen Glückes Schmied seien.

Leicht ist dies nicht, denn diese Überzeugung ist tief im amerikanischen Glauben verankert. Präsidenten beider Parteien, von Ronald Reagan bis Barack Obama, haben dieses Mantra wiederholt: alle, die es in dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu etwas bringen wollten, könnten alles erreichen, wenn sie sich nur anstrengten und ihre von Gott verliehenen Talente nutzten.

Hinter diesem Gedanken steckt die Hoffnung darauf, dass Demokratien meritokratisch seien. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet etwa die “Herrschaft der Verdienstvollen”. Im Deutschen klingt der Begriff auch in der Formulierung an, jemand habe Meriten gesammelt, also Leistungen erzielt, auf die sie oder er stolz sein könnten.

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Dieser Gedanke ist insoweit demokratisch, da in einer Demokratie nicht zählt, woher jemand kommt, welchen Status seine Eltern haben oder wie reich sie sind, welcher Religion er oder sie anhängt (oder auch nicht) und welche Sexualpartner er oder sie bevorzugt. In einer Demokratie soll allen Menschen der Zugang zu öffentlichen Ämtern offen stehen. Wer in der Gesellschaft aufsteigt und Verantwortung übertragen bekommt, das entscheiden Können, Leistung und Verdienst.

Nur wenn alle Zugang zu kostenfreier Bildung und einer erschwinglichen Gesundheitsversorgung haben, können Gesellschaften für sich in Anspruch nehmen, dass sie zumindest versuchen, gleiche Startchancen für ihre Sprösslinge zu schaffen. Die USA, wo Sandel lebt und lehrt, sind nicht so ein Land. Und hier setzt Sandels Kritik an.

Sandels Kritik an den Aufstiegshürden in den USA

In den USA, wo man den Menschen von Podien und Kanzeln immerfort zuruft, dass sie alles schaffen können, wenn sie es nur wollen, glauben am Ende, so Sandel, diejenigen, die es geschafft haben, dass ihnen diese Meriten allein und völlig zurecht zustehen. Im Umkehrschluss hätten die, die es nicht geschafft haben, es einfach nicht hart genug probiert.

Wer es einmal aufs College der Harvard Universität geschafft hat, der glaube, dass ihm das zustehe — und gehe davon aus, seinen Master oder sein Rechtsstudium quasi automatisch ebenfalls an einer der besten Universitäten des Landes machen zu können.

Die Wirklichkeit deckt sich nicht mit diesem Glauben: 40 Prozent der Highschool-Absolventen, die aufs College gehen könnten, werden niemals einen Campus betreten. Die Hürden sind zu hoch, sie stoßen an gläserne Decken: Jugendliche gehen nicht auf die Universität, weil ihre Eltern nicht auf einem College waren und die Karriere-Berater, die an einer Highschool sitzen, im Zweifel auch nicht auf einer Uni waren und so den Absolventen nicht wirklich weiter helfen können.

Das ist kein US-amerikanisches Phänomen allein: in Deutschland kommt nur einer von einhundert Studierenden, die eine Doktorarbeit schreiben, aus einem Handwerkerhaushalt. Diese gläsernen Decken beschreiben informelles Wissen, Rollenvorbilder. Erfolgreiche Menschen, so schließt Sandel seine Betrachtung, hätten es niemals nur allein geschafft.

Viele brauchen die Erziehung und finanziellen Ressourcen ihres Elternhauses. Sie profitieren von Strukturen und Institutionen, von denen sie früh gelernt haben, wie man sich in ihnen verhält, um erfolgreich zu sein. Kinder und Jugendliche aus Familien, die über dieses soziale und finanzielle Kapital nicht verfügen, haben es in einer solchen Gesellschaft schwerer, es nach oben zu schaffen.

Tongdong Bai, Konfuzius und die Meritokratie in China

Tausende Kilometer weiter, an der Fudan-Universität in der Nähe von Shanghai lehrt Tongdong Bai politische Philosophie. Er ist Spezialist für konfuzianisches Denken. Schon für Konfuzius war Meritokratie ein elementarer Bestandteil gerechter Gesellschaften.

Wer es zu seiner Zeit, im fünften Jahrhundert vor Christus, in China bei Hof und im Staat zu etwas bringen wollte, der musste ein aufwändiges Examen bestehen. So sollte gewährleistet werden, dass nur die besten in den Dienst der Allgemeinheit gestellt werden. In seinem jüngst bei Princeton University Press erschienenen Buch “Gegen Politische Gleichheit” wendet sich Bai gegen die Vorstellung, dass alle wirklich immer alles erreichen und verwirklichen können.

Es sei geradezu der Schwachpunkt der Demokratien, dass sie jeder und jedem zutrauten, sich zu allem eine Meinung zu bilden und über alles abstimmen zu können. Tongdong Bai votiert für ein politisches System, in dem Menschen über das, was sie konkret betrifft, direkt abstimmen sollen. Andere Angelegenheiten, die ihr Wissen und ihre Fähigkeit eindeutig übersteigen, sollten Experten überlassen sein: abstimmen über die lokale Wasserversorgung oder Infrastrukturprojekte vor Ort, ja. Abstimmen über die besten Strategien einer Pandemie-Bekämpfung, nein.

Parallelen zwischen West und Ost

Interessant sind die Parallelen im Denken der beiden Gelehrten, einer aus dem Westen, der andere aus dem Osten: ein Gemeinwesen funktioniert nicht, ohne dass sich alle immer im Blick behalten. Dieser Blick muss fürsorglich, emphatisch sein, denn wenn man das Schicksal der anderen, letztlich unempathisch, allein für das Ergebnis ihres Tuns oder Nichttuns hält, verliert man die Begabung, sozial zu denken.

Das ist eine Herausforderung in der demokratischen Welt genauso wie in der Volksrepublik, auch wenn viele gemeinhin oberflächlich sagen, der Osten denke mehr ans Kollektiv, wohingegen der Westen individualistisch sei.

Der Wirtschaftsboom in China hat die Ungleichheit vergrößert. Das Streben nach Erfolg und Reichtum geht mit der Bereitschaft einher, den Aufstieg auch auf Kosten anderer zu suchen. Doch selbst eine Autokratie wie das von der Kommunistischen Partei beherrschte China braucht ein gewisses soziales Klima, um den Sinn für das Allgemeinwohl am Leben zu halten.

Das Problem in China ist, dass eine Meritokratie nicht funktionieren werden kann, wo Loyalität zu einer alleinherrschenden Partei wichtiger ist, als das beste Wissen in einer Sache.

Bais Idee findet sich immer wieder in dem Wunsch nach einer "technokratischen" Regierung in der westlichen Welt. Mario Monti wurde 2011 vom italienischen Staatspräsidenten beauftragt, eine Regierung zu bilden. Alle Minister seines Kabinetts waren parteilos, um der italienischen Bevölkerung zu signalisieren, dass es bei der Rettung des Landes vor dem finanziellen Kollaps, nicht um Parteipolitik ging, sondern um die Sache und das Allgemeinwohl.

In der Volksrepublik China ist der Autokrat Xi Jinping nun ernannter Herrscher auf Lebenszeit. Wichtige Posten werden mit denen besetzt, die ihm und der Partei treu ergeben sind. Eine Meritokratie kann es nicht geben, wenn die oberste Position auf Jahrzehnte besetzt bleibt.

Das US-Modell hat kein demokratisches Legitimationsproblem, wohl aber ein soziales: die Ungleichheit, die der Kapitalismus hervorbringen kann, war schon frühen Denkern dieses Wirtschaftssystem wie dem schottischen Ökonomen und Moralphilosophen Adam Smith bekannt. Deutschland erlebte in der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, wie Millionen Menschen vom Land in die Stadt zogen, um sich in den Fabriken und an den Hochöfen zu verdingen und viele verelendeten.

Soziale Sicherung und sozialer Aufstieg

Otto von Bismarck begegnete dem mit der gesetzlichen Rente und der Unfallversicherung, einer Sozialgesetzgebung, die es heute in jeder Demokratie, außer der US-amerikanischen, gibt. Gute Sozialgesetze hatten stets auch das Ziel, es den Menschen überhaupt erst zu ermöglichen, die Chancen einer liberalen Marktwirtschaft nutzen zu können: sie in die Lage zu versetzen, ihres eigenes Glückes Schmied zu sein.

In dem eskalierenden Wettkampf der Systeme, zwischen der freiheitlichen Welt, repräsentiert durch die USA, und der autokratischen, repräsentiert durch China, zeigt sich, dass beide ein Problem mit einer Orientierung am Allgemeinwohl haben. China, weil es keine politischen Freiheiten gewährt. Die USA, weil in ihnen soziale Komponenten der Menschenrechte wie Schulbildung und Gesundheitsverrogung nicht für alle gewährleistet sind.

Anspruchsdenken und Allmachtgefühl sind Gegner des Allgemeinwohls, in Ost und West gleichermaßen, weil in beiden Teilen der Welt derselbe Mensch lebt, der sich leicht von der Botschaft verführen lässt, sich selbst genügen zu können.