Trotz hohem Gehalt, sicherem Job und Pension: Warum diese drei Beamten ihre Stelle im öffentlichen Dienst aufgegeben haben
Die Zahl der Beamten in Deutschland steigt seit Jahren. Das liegt auch an den immensen Vorzügen: Beamte gelten als unkündbar und fürs Alter abgesichert. Wer gibt so etwas freiwillig auf? Die Geschichten von drei Menschen lassen das System in neuem Licht erscheinen.
Fast wäre Nane Pruisken zurückgekehrt. Das Bewerbungsgespräch für die Stelle an einem Berliner Gymnasium lief gut, die Aussicht, als Beamtin sicher Geld anzusparen, verlockend. Es war Pruiskens Vater, der eine Zusage verhinderte. „Als ich aus dem Gespräch gekommen bin, sagte er zu mir: ‚Das System hat dich doch todunglücklich gemacht, deswegen bist du doch gegangen.‘ Ich wusste, dass er recht hatte“, sagt die 33-Jährige im Gespräch mit "Welt".
Pruisken ist eine der wenigen Aussteigerinnen. Etwas mehr als fünf Jahre durfte sie sich Beamtin nennen, im Juli des vergangenen Jahres gab sie den Status auf – letztlich auf eigenen Wunsch. Offizielle Zahlen zum Weg, den Pruisken ging, gibt es für Gesamtdeutschland nicht.
Lediglich einzelne Länder haben in der Vergangenheit Daten zu einzelnen Beamtenjobs veröffentlicht. So baten etwa in Hessen im Jahr 2022 genau 122 verbeamtete Lehrer um Entlassung, in NRW waren es 320. Angesichts der rund 65.000 beziehungsweise 212.000 Lehrer in den beiden Bundesländern sind es verschwindend geringe Zahlen.
Das Beamtentum erfreut sich größter Beliebtheit. Es boomt so sehr, dass Experten wie der Stepstone-CEO Sebastian Dettmers (gehört wie Welt und Business Insider zu Axel Springer) in der Vergangenheit schon von einem trügerischen Jobwunder sprachen. „Jede Person im Staatsdienst ist eine, die der Privatwirtschaft fehlt. Langfristig lähmt dies Innovationskraft und Produktivität in unserem Land“, schrieb er Ende 2023.
Analog zu der Entwicklung im gesamten öffentlichen Dienst sind auch die Beamtenzahlen in den letzten Jahren gestiegen. Einen Zuwachs um rund 80.000 auf 1,76 Millionen Menschen verzeichnete das Statistische Bundesamt zwischen 2018 und 2023. Lehrer, Polizisten, Staatsanwälte, aber auch Mitarbeiter in Behörden. Kein Wunder: Beamte sind quasi unkündbar und durch die Pensionsansprüche im Alter gut abgesichert.
Umso erstaunlicher erscheinen daher Menschen wie Pruisken, die diese Vorteile aus eigenen Stücken aufgeben. Doch sie haben gute Gründe, die veraltete Strukturen in einem starren System aufdecken.
Pruisken wollte eigentlich nur eine Auszeit. Ein Sabbatjahr im Ausland, etwas Neues erleben. „Das Problem dabei war, dass man das Sabbatjahr erst nach zehn Dienstjahren machen kann. Die hatte ich noch nicht voll. Die einzige Alternative war die Beantragung eines Jahres Urlaub ohne Bezüge“, erzählt Pruisken, die damals Deutsch und Geographie an einem Gymnasium in ihrer niedersächsischen Heimat Haselünne unterrichtete.
Es sei ein großer Schritt gewesen, dieser Option nachzugehen, schließlich bedeutete sie finanziellen Verzicht. Dann begann die Hängepartie mit der Landesschulbehörde. Erst sei ihr Antrag offiziell gar nicht eingegangen, später habe die Behörde diese Aussage revidiert und um Bearbeitungszeit gebeten.
Ausstieg nach fünf Jahren im Staatsdienst
Als die endgültige Entscheidung kam, sei es für die Planung eines längerfristigen Auslandsaufenthalts fast schon zu spät gewesen. Doch die Antwort fiel ohnehin anders aus als erwartet. „Ein Mitglied des Personalrats aus der Schule kam dann irgendwann in der großen Pause zu mir und teilte mir mit, dass der Antrag abgelehnt wurde. Da ist in mir eine Welt zusammengebrochen. Ich fand es so schlimm, dass die Entscheidung mir nicht persönlich mitgeteilt wurde“, schildert Pruisken.
Der Weg über ihren Schulleiter zur zuständigen Dezernentin blieb zwecklos. Diese argumentierte damit, so erzählt es Pruisken, „dass andere Lehrer meinem Beispiel folgen könnten und ähnliche Anträge stellen. Das wolle man verhindern.“
Auch der Weg über einen Anwalt brachte keinen Erfolg. Es blieb der letzte Ausweg: „Sie haben mich hingehalten, um jemanden zu haben, der weiter unterrichtet. Das war der Punkt, an dem ich gesagt habe: Leute, ich bin doch nicht eure Marionette.“ Pruisken reichte ihren Wunsch auf Entlassung ein.
Glaubt man Isabell Probst, ist Pruisken mit ihren Empfindungen nicht allein. „Beamte geben früh ihre Mündigkeit ab. Sie werden sich selten so infantilisiert fühlen, wie im Lehrerberuf. Sie werden von den Behörden sehr oft hören: ‚Du kannst das nicht, du darfst das nicht.‘ So werden Lehrer in eine Passivität erzogen“, sagt die Laufbahncoachin.
Probst unterrichtete selbst Englisch und Geschichte an einem Gymnasium in NRW, fünf Jahre war sie verbeamtet, bis auch sie ausstieg. Heute berät sie Menschen, die mit dem Gedanken spielen, den Lehrerberuf ebenfalls aufzugeben. Rund 2000 Anfragen erhalte sie im Jahr, mit einem Drittel davon arbeite sie mit ihrem Team intensiver zusammen. Die Zahlen seien in den letzten Jahren deutlich gestiegen.
Dieses Gefühl, das Probst beschreibt, bei der Umsetzung eigener Ideen von höherer Stelle behindert zu werden, teilt Vera Zens. Sechs Jahre war die ehemalige evangelische Pfarrerin verbeamtet, arbeitete als Flüchtlingspfarrerin, später mit den Schwerpunkten Diakonie und Kinder- & Jugendarbeit in einer Gemeinde in Trier.
Zum Juli des vergangenen Jahres, nachdem in ihrer zweiten Elternzeit der Gedanke gereift war, kündigte sie. „Ich hatte viele Ideen, die ich umgesetzt habe.“ Aber dann habe ihr das Presbyterium – die Kirchengemeindeleitung – Steine in den Weg gelegt. „Dass ich bei allem neuen, was ich angestoßen habe, gegen diese Mühlen kämpfen musste, hat mein Engagement gedämpft“, sagt Zens.
Für die 34-Jährige war der Kraftverlust im Kampf gegen die übergeordneten Stellen der springende Punkt. Bei Nane Pruisken hingegen hat sich ein ganzes Sammelsurium an Kritikpunkten an ihrem ehemaligen System angestaut. Der Unterrichtsstoff? „Überhaupt nicht mehr zeitgemäß.“ Die dreifache Korrektur von Abiturklausuren? Eine „völlige Sinnlosigkeit“. Das Benotungssystem? „In sich nicht logisch.“
Dazu die Frustration, mit Schülern, die erhöhten Förderbedarf etwa durch eine ADHS- oder Autismusdiagnose haben, allein gelassen zu werden. „Ich habe weder im Studium noch im Referendariat noch ich einer Fortbildung etwas darüber gelernt. Es wird aber erwartet, dass man diese Situation einfach meistert“, sagt Pruisken. Fehlende Weiterbildungsmaßnahmen – noch so ein Punkt, über den sich die Ex-Beamtin im Gespräch erzürnt.
Beamte seien Angstmenschen
Hört man ihr zu, erscheinen die Vorzüge, die eine Anstellung als Beamtin mitbringen, nicht einmal mehr als Trostpflaster. Zu kaputt erscheint das System Schule. „Die Beschreibung des Beamtentums als goldener Käfig ist sehr treffend. Denn ich hatte keine finanziellen Sorgen, war für das Alter und gegen Krankheiten abgesichert. Aber innerlich bin ich verkümmert“, fasst Pruisken zusammen.
Expertin Probst findet für die Sicherheit, die Beihilfe des Staates für die private Krankenversicherung, die Pension – also all das, womit im Beamtentum geworben wird – noch eine andere Beschreibung: „Es sind sogenannte Hygienefaktoren. Sie sorgen dafür, dass man nicht unzufrieden ist, aber nicht aktiv für Zufriedenheit. Sie stellen den Zufriedenheits-Pegel quasi auf neutral Null.“
Sie sorgen aber auch für eine große Hürde. Denn Beamte können noch so unzufrieden in ihrem Job sein. Den Schritt raus aus dem System tatsächlich zu gehen, in dem Wissen, alle Ansprüche zu verlieren, fiele vielen schwer, schildert Probst: „Beamte sind Angstmenschen und auf Sicherheit bedacht.“
Zumal hinzukomme, dass der Schritt raus aus dieser Sicherheit, im eigenen Umfeld oftmals auf Unverständnis stoße. „Ich habe bei mir selbst gemerkt, dass die Entscheidung, den Beamtenjob aufzugeben, total spaltet. Es gab diejenigen, die gesagt haben, dass ich genau das richtige mache. Und es gab diejenigen, die es überhaupt nicht verstehen konnten“, sagt Probst.
Auch bei Nane Pruisken sei dies der Fall gewesen: „Von allen Seiten wird Druck an einen herangetragen. Viele gucken einen ungläubig an und sagen: ‚Wie kannst du diese Sicherheit aufgeben? Das geht gar nicht.‘ Meine engsten Freundinnen, meine Schwester und meine Mutter haben mich aber extrem supportet.“
Auch bei Pruisken selbst hat die endgültige Entscheidung Ängste ausgelöst. „Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich meine Finanzen durchgerechnet habe.“ Sie sei wieder bei ihren Eltern eingezogen. „Teilweise habe ich gedacht, dass ich unter der Brücke ende. Es waren illusionäre Ängste, die pure Panik.“ Sie hätten sogar dazu geführt, dass sie vorzeitig Bewerbungen geschrieben hätte, statt sich auf ihre Auslandsreise zu freuen.
Dass es im September 2023 doch losging, war nur der Tatsache zu verdanken, dass ein geplanter Sprachkurs in der örtlichen Volkshochsschule, den Pruisken leiten sollte, nicht zustande kam und ein anderes Sprachlernzentrum ihr trotz Zusage doch keinen Vertrag zuschickte.
Doch selbst auf ihrer ersten Station in Thailand war die Unsicherheit noch nicht weg. „Eine gute Freundin hat mir dann gesagt, dass ich erst mal reisen und mir keine Sorgen machen soll, da ich auf dem aktuellen Arbeitsmarkt auf jeden Fall einen Job finde. Ab da habe ich das Berufsleben fürs erste hintenangestellt“, sagt Pruisken.
Großer Respekt vor der Zukunft
Erst ab diesem Zeitpunkt konnte sie die weiteren Stationen – Vietnam, Kambodscha, Malaysia, Indonesien, Australien und Sri Lanka – die sie in den nächsten sieben Monaten besuchen sollte, wirklich genießen. Und einen Sinneswandel durchleben. „Diese Zeit war lebensverändernd und hat meine Sicht auf ganz viele Dinge nachhaltig verändert. Ich habe die Entscheidung, das Beamtentum zu verlassen, keine Sekunde bereut“, sagt Pruisken, die sich nach eigener Aussage noch nie so frei gefühlt habe.
Ganz so spitz formuliert Vera Zens es nicht. Sie verweist eher auf den fehlenden „Entfaltungsfreiraum“, den sie mit ihrem Ausstieg überwunden habe. Doch die ehemalige Pfarrerin hatte auch ein großes Problem: Den Arbeitsmarkt. Zwar gilt dieser aktuell als aufnahmefähig, die Situation für eine Jobsuche außerhalb des Staatsdienstes ist also gut.
Nicht so für die Theologin Zens. „Ich habe ein paar Bewerbungsprozesse durchlaufen – einmal in der Jugendhilfe und einmal im Bildungsbereich. Es war aber nicht möglich, einen Platz zu finden. Ich habe mir das einfacher vorgestellt, im Berufsleben wieder Fuß zu fassen“, sagt sie.
Laufbahncoachin Probst kennt die Hindernisse für Ex-Beamte. Zwar seien die Chancen für einen Quereinstieg in der freien Wirtschaft auch nach ihrer Einschätzung eigentlich gut, doch es gebe auch Branchen, in denen eine Bewerbung wenig Erfolgsaussichten habe. „Das Bankenwesen ist ein Beispiel, Personalwesen ein anderes.“
Zens lebt aktuell weitestgehend vom Gehalt ihres Mannes, verdient zudem ein Zubrot durch ihre Selbstständigkeit als freie Rednerin auf Hochzeiten, Taufen oder Kinderwillkommensfesten und bildet sich in den Bereichen Psychologie und Achtsamkeit weiter.
„Ich bin im Reinen mit der Entscheidung, meinen Beamtenjob aufzugeben. Das heißt aber nicht, dass es nicht immer mal wieder kleine Zweifel gibt. Ich habe großen Respekt davor, in die von mir gewählte Zukunft zu gehen“, sagt Zens angesichts ihrer derzeit unvollständigen finanziellen Unabhängigkeit.
Nane Pruisken hatte mehr Glück. Sie hat Anfang des Monats einen Job als Studienberaterin im Bereich Sales an der Fernuni IU angefangen – mit ihren persönlichen Traumeigenschaften: 100 Prozent remote und mit der Möglichkeit, sechs Monate im Ausland zu arbeiten. „Der Plan ist: Anfangen zu arbeiten, den Winter außerhalb von Deutschland zu verbringen und auch in Deutschland öfter den Standort zu wechseln“, sagt Pruisken.
Und sollte dieser Plan nicht aufgehen, wäre ja auch ihr alter Job, den Pruisken immer noch nicht gänzlich hinter sich gelassen hat. „Ich habe die große Sicherheit, dass ich, wenn alle Stricke reißen, wieder als Lehrerin anfangen könnte. Das war mir vor dem Ausstieg nicht klar.“ Aktuell sei eine Rückkehr aber keine Option.
Dieser Artikel erschien zuerst im August 2024 in der Welt.