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Die Türkei bringt Partner in Europa gegen sich auf

Mit ihrem harten Vorgehen gegen Studierende riskiert die türkische Regierung ihre Annäherung an den Westen. Ein Konflikt, unter dem auch die Wirtschaft leidet.

Tränengas, Festnahmen und Terrorvorwürfe: Die Polizei in Istanbul geht derzeit mit Härte gegen die seit einem Monat andauernden Demonstrationen gegen einen von der Staatsspitze eingesetzten Hochschulrektor der renommierten Bogazici-Universität vor. Melih Bulu wurde von Präsident Erdogan persönlich ernannt und gilt als parteinah. Studenten und zahlreiche Professoren der Universität fordern, wie gewohnt ihren Rektor selbst zu bestimmen.

Dass das nicht nur die türkische Innenpolitik betrifft, zeigt ein Aufruf mehrerer europäischer Parlamentarier, der dem Handelsblatt vorliegt. Die parlamentarische Versammlung des Europarates hat in einem Aufruf die Türkei aufgefordert, die Vorgaben zur Einhaltung von Menschenrechten zu beachten.

„Die türkische Regierung muss sofort Maßnahmen dagegen ergreifen, die Prinzipien der akademischen Freiheit und institutionellen Autonomie einzuschränken.“ Unterzeichnet ist das Dokument von Dutzenden Parlamentariern aus den 47 Mitgliedsländern des Europarates. Auch die Türkei selbst ist Mitglied des Europarates, einem Gremium, das sich vor allem für Menschenrechte einsetzt.

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Initiiert worden ist die Aktion von dem FDP-Bundestagsabgeordneten Konstantin Kuhle. „Das Vorgehen der türkischen Regierung gegen die Studierenden der Bogazici-Universität ist der Versuch, gegen einen Ort des freien Denkens in der Türkei vorzugehen“, sagt er im Gespräch mit dem Handelsblatt und vergleicht die Vorgänge mit dem Vorgehen der ungarischen Regierung gegen die Central European University in Budapest. Die Uni sah sich nach einer Gesetzesänderung gezwungen, ihren Campus in ein anderes Land zu verlegen.

Kuhle sagt: „Der Einsatz von Gewalt und die Festnahme einzelner Demonstranten in Istanbul sind völlig überzogen und unterstreichen die Entfremdung der aktuellen türkischen Regierung von europäischen Grundwerten.“ Eine Wiederannäherung zwischen der Türkei und europäischen Institutionen wäre gerade im Interesse kommender Generationen wünschenswert, glaubt er. „Sie muss aber von einem guten Willen und konkreten Handlungen getragen sein. Beides ist von der Regierung Erdogan nicht zu erkennen.“

Ankara sucht die Nähe zum Westen

Der Abgeordnete fasst damit zusammen, was viele in Europa denken: Erdogan riskiert seine politische und wirtschaftliche Annäherung an Europa. Mit dem harten Vorgehen gegen Studierende und einer weiterhin harten Außenpolitik bringt die türkische Regierung Partner gegen sich auf. Dabei sucht Ankara die Nähe zum Westen.

Ende des vergangenen Jahres hat Erdogan gesagt: „Wir sehen uns nicht woanders, sondern in Europa, und wir stellen uns vor, unsere Zukunft mit Europa zusammen aufzubauen.“ Die Rufe wurden schnell gehört: Im Januar reiste Bundesaußenminister Heiko Maas nach Ankara, wenige Wochen später trafen sich die Verteidigungsminister Deutschlands und der Türkei in Berlin.

Von der Rhetorik vergangener Jahre – Stichwort Nazi-Vergleich – ist derzeit nichts zu hören. Das liegt auch daran, dass das Verhältnis mit Russland gleich an mehreren Fronten bröckelt. Und auch mit den USA droht Streit: Der neue Präsident Joe Biden könnte die Türkei wegen des Kaufs eines russischen Waffensystems mit Sanktionen belegen. Das würde der Wirtschaft des Landes so empfindlichen Schaden zufügen.

Die Proteste wegen des Hochschulrektors in Istanbul kommen für Ankara daher zur Unzeit. Denn Erdogan will mitnichten klein beigeben: Die neue Verfassung ermächtigt ihn, für jede Universität einen Rektor zu ernennen. Ein Rücktritt Bulus käme daher einem verfassungsrechtlichen Offenbarungseid gleich.

Und deswegen wird entschieden gegen die Protestierenden vorgegangen – und das nicht gerade feinfühlig. Erdogan nennt sie „Terroristen“ und zweifelt öffentlich daran, dass es sich tatsächlich um Studierende handelt.

Unternehmen und Investoren aus dem Ausland vergrault

Man werde niemals zulassen, dass in der Türkei Terroristen herrschten, sagte Erdogan zudem. „Dieses Land wird keinen Gezi-Aufstand mehr in Taksim erleben.“ Erdogan nimmt damit Bezug auf die regierungskritischen Gezi-Proteste von 2013, die brutal niedergeschlagen wurden.

Doch die Rhetorik ist gefährlich, vor allem auch für die Wirtschaft des Landes. Das Vorgehen gegen mutmaßliche und nachher verurteilte Putschisten sowie Oppositionelle hat Unternehmen und Investoren aus dem Ausland vergrault. Anleger aus der ganzen Welt zogen ihre Gelder aus der Türkei ab, die Lira verlor so viel Wert wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Waren bis 2016 noch rund ein Viertel aller Käufer türkischer Anleihen Ausländer, so ist deren Anteil inzwischen auf drei Prozent geschrumpft.

Und die größte Sorge deutscher Unternehmen in der Türkei waren zuletzt eben solche Unwägbarkeiten, die das eigene Geschäft unbeherrschbar machen. Der Autobauer Volkswagen distanzierte sich letztlich sogar von seinen Plänen, ein großes Werk in der Türkei zu errichten. In Unternehmenskreisen war als Grund die Politik der Türkei genannt worden.

Die Studenten betonen immer wieder, ihre Anliegen seien der Rücktritt des neuen Rektors, demokratische Wahlen – und seit den jüngsten Festnahmen und Verhaftungen nun auch die Freilassung „unserer Freunde“.

Melih Bulu, der neue Hochschulrektor, gibt sich unberührt von den Protesten. Ein Bericht im Januar zeigte ihn dabei, wie er den Protestierenden lächelnd zuwinkt, während sie unterhalb seines Fensters lauthals seinen Rücktritt fordern. Seinen Worten nach denkt er „keinesfalls“ an einen Rücktritt. Doch die Studenten wollen weiter protestieren, bis ihre Forderungen erfüllt sind.

Die türkische Regierung muss erkennen, dass auch innenpolitische Angelegenheiten einen außenpolitischen Effekt haben. Der Aufruf der Parlamentarier zeigt das deutlich. Und auch die Wirtschaft ist an stabilen Verhältnissen interessiert. Erdogan wird die Proteste nicht mehr lange kleinreden können.