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Tönnies-Schließung: Die Versorgung der Fleischindustrie gerät ins Wanken

Nach der Stilllegung des Tönnies-Schlachthofs fällt auch ein wichtiger Putenschlachter aus. Für die Tiere wird der Platz in den Ställen knapp. Mittelfristig drohen Lieferengpässe.

Im Stall von Schweinebauer Antonius Tillmann in Warburg wird es langsam eng. Die 700 Schweine werden immer fetter. Sonst werden sie im 60 Kilometer entfernten Hauptwerk von Tönnies geschlachtet.

Doch der Betrieb in Rheda-Wiedenbrück ist seit dem 17. Juni von den Behörden stillgelegt – mehr als 1550 Beschäftigte sind mit Corona infiziert. Normalerweise wird auf Deutschlands größtem Schlachthof jedes siebte Schwein geschlachtet – das sind rund 140.000 Tiere in der Woche.

„Bei Schweinen lässt sich anders als bei Autos die Produktion nicht einfach anhalten. Das würde ein Dreivierteljahr dauern“, sagt Bauer Tillmann. Nun stauen sich die schlachtreifen Tiere bei vielen der rund 21.000 Mäster in ganz Deutschland. Gleichzeitig rücken bestellte Ferkel nach. „Eine Krise wie diese hat unsere Branche noch nicht erlebt, selbst nicht zu Zeiten der Schweinepest“, meint der Landwirt.

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Weil Schlachtplätze fehlen, muss Tillmann die Schweine länger füttern. Das kostet Geld – einen Euro am Tag pro Tier. Dabei verdient er im Schnitt gerade mal 20 Euro pro Tier. Die Schweine werden fetter und verlieren zugleich an Wert, denn die Deutschen bevorzugen mageres Fleisch.

Tillmann fürchtet ein Verlustgeschäft, sollte die Schlachthofkrise länger anhalten. Denn neben Tönnies waren auch die Wettbewerber Vion, Westfleisch, Müller-Fleisch und Westcrown von Corona und Schließungen betroffen.

Nicht nur die Schweinebranche ist von Corona betroffen, auch bei einem wichtigen Putenschlachter stehen seit Freitag die Räder still. Die PHW-Gruppe, mit einem Umsatz von 2,7 Milliarden Euro größter Geflügelschlachter in Deutschland, hat ein Corona-Problem. Sie ist bekannt für Marken wie „Wiesenhof“ und „Bruzzler“.

In einem riesigen Putenschlachthof im niedersächsischen Wildeshausen sind 45 von 1115 Beschäftigten an Covid-19 erkrankt. Das Unternehmen Geestland Putenspezialitäten (GPS) kündigte am Freitag an: Der Betrieb wird für bis zu zwei Wochen geschlossen – mit tiefgreifenden Folgen.

Lieferkette gerät aus dem Takt

Hält die Schlachthofkrise an, kann es neben Tierschutzproblemen auch zu Versorgungsengpässen kommen. Durch den Ausfall der Tönnies-Schlachterei in Rheda droht der gesamte deutsche Markt für Schweinefleisch aus dem Tritt zu geraten.

Die Lieferkette vom Ferkel bis zum Schnitzel ist eng getaktet. Ferkelzüchter, Mäster, Viehhändler und Logistiker über Schlachter und Zerleger, Wursthersteller bis zu Supermärkten und Bratwurstbuden – alle sind vom Ausfall des Tönnies-Werks irgendwie betroffen. „Wenn sich nur ein Rädchen nicht richtig dreht, kommt unser ganzes System ins Ruckeln“, sagt Landwirt Tillmann.

Fleisch von Tönnies steckt in vielen Marken wie Tillman’s, Landjunker von Lidl, Meine Metzgerei von Aldi. Daneben betreiben die Ostwestfalen mit der Zur-Mühlen-Gruppe eigene Wurstfabriken. Böklunder, Redlefsen und Zimbo gehören zu den bekanntesten der Marken.

Ersatzschlachter zu finden ist nicht so einfach. Bauer Tillmanns Schweine werden nun teilweise in einem Tönnies-Werk in Sachsen-Anhalt geschlachtet. „Einen kleinen Teil der Kapazitäten können wir an unseren weiteren Standorten in Sögel, Weißenfels und Kellinghusen auffangen. Dies ist aber nur in sehr begrenztem Umfang möglich“, erklärt ein Sprecher von Tönnies auf Anfrage.

Schweinelieferanten hätten beim Ausfall eines so großen Abnehmers wie Tönnies „ein Abnahmeproblem“, bestätigt der Verband der Fleischwirtschaft, der – zumindest zurzeit – noch keine Lieferengpässe beobachtet. Die schlachtreifen Tiere würden momentan noch zurückgehalten und teilweise von anderen Schlachtbetrieben aufgefangen.

So will etwa die Genossenschaft Westfleisch, die 4000 Landwirten gehört, aushelfen. Als deren Schlachterei in Coesfeld wegen Corona-Fällen im Mai elf Tage behördlich geschlossen wurde, war Tönnies eingesprungen. Nun hat Westfleisch Tönnies Unterstützung angeboten, sagte Deutschlands zweitgrößter Schlachter auf Anfrage. Aktuell werden in Coesfeld täglich rund 6300 Schweine geschlachtet. Die Auslastung soll in Abstimmung mit den Behörden sukzessive erhöht werden.

Kunden von Tönnies sind nervös

Die Kunden von Tönnies, Fleischverarbeiter und Handel, sind nervös. „In dieser unsicheren Situation ist die Branche natürlich in Sorge“, sagt Hans-Ewald Reinert, geschäftsführender Gesellschafter von The Family Butchers. Der Wurst- und Schinkenhersteller aus Versmold ist die Nummer zwei auf dem deutschen Wurstmarkt hinter der Zur-Mühlen-Gruppe, die zu Tönnies gehört.

„Aktuell gibt es noch keine größeren Engpässe im Markt. Wir erwarten aber bei der Sauen-Oberschale eine signifikante Verknappung“, so Reinert. Er glaubt, dass es auch bei Frischfleisch in der Selbstbedienung Engpässe geben könnte.

Die Schließung des Tönnies-Werks sorgt bis ins Ausland für Unruhe, etwa bei Südtiroler Speckherstellern. Bis Ende Mai stammten knapp sechs Prozent des Fleischs für Südtiroler Betriebe aus Rheda, rund 175.790 Schweineschlegel. „Die Situation ist aktuell angespannt, und ein Engpass kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden“, sagt Matthias Messner, Direktor des Südtiroler Speckkonsortiums.

Manche in der Branche fürchten, dass Tönnies bevorzugt eigene Verarbeitungsbetriebe der Zur-Mühlen-Gruppe beliefern könnte. „Die großen Schlachtbetriebe sind alle auch Wursthersteller und damit Wettbewerber“, weiß Wurstfabrikant Reinert. „Wir haben in der Vergangenheit manchmal erleben müssen, dass die eigene Fertigung vorrangig beliefert worden ist.“ Tönnies versichert indes: Es gebe keine Priorisierung der Zur-Mühlen-Gruppe.

Noch sind keine Auswirkungen auf Preise infolge der Schlachthofkrise zu beobachten. Der Deutsche Bauernverband appellierte aber bereits an die Schlachtunternehmen, den Mangel an Schlachtplätzen nicht zum Drücken der Preise zu missbrauchen. Mittelfristig werden die Preise jedoch steigen, erwartet Wurstproduzent Reinert. Schließlich kosteten veränderte Produktionsbedingungen und Corona-Absicherungen Geld.

Ab Januar 2021 sollen Werkverträge in Schlachtung und Zerlegung gesetzlich verboten werden. Die Corona-Fälle hatten das intransparente Subunternehmertum und die schlechten Arbeits- und Wohnbedingungen vieler Beschäftigter wieder ins Rampenlicht gerückt. Die Werkverträgler kommen überwiegend aus Rumänien, Polen und Bulgarien.

Zugleich wird Fleisch oft zu Schleuderpreisen im Discounter verkauft. Mit Billigfleisch soll künftig Schluss sein, versicherte Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU), die am Freitag Branchenvertreter zum Krisentreffen geladen hatte. Sie will eine sogenannte Tierwohlabgabe einführen, bessere Arbeitsbedingungen schaffen und verstärkt gegen Dumpingpreise beim Fleisch vorgehen.

„Die Zeit des permanenten Verramschens von Fleisch- und Wurstprodukten wird damit hoffentlich endlich zu Ende gehen“, hofft Unternehmer Reinert, der verstärkt mit Qualitätsfleisch punkten will.

Deutschland produziert deutlich mehr Schweinefleisch, als es verbraucht. Der Selbstversorgungsgrad liegt bei 120 Prozent. „Grundsätzlich ist Fleisch genug da“, meint der Marktexperte der Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands (ISN), Matthias Quaing, mit Blick auf die aktuelle Krise.

Sollte Schweinefleisch hierzulande knapp werden, ließe sich immer noch auf Importe ausweichen – etwa aus Spanien, wo europaweit die meisten Schweine gehalten werden. Fleisch aus Spanien fehlt jedoch derzeit noch die notwendige QS-Zertifizierung, gibt Wursthersteller Reinert zu bedenken.

Allerdings steht derzeit ohnehin mehr Schweinefleisch für den deutschen Markt zur Verfügung als sonst. China, ein wichtiger Abnehmer von Tönnies, hat wegen der Corona-Ausbrüche den Import von Tönnies aus Rheda und vom Tönnies-Betrieb Weidemark in Sögel vorübergehend eingestellt. Das teilte die chinesische Botschaft in Berlin auf Anfrage mit.

„Unsere Exportzulassung nach China vom Standort Rheda ruht aktuell“, bestätigt Tönnies. „Wir stehen aber in intensivem Kontakt mit den chinesischen Behörden.“ Für das Unternehmen war der China-Export bisher ein wichtiges und lukratives Geschäft.

Stau in Ställen gefährdet das Tierwohl

Noch vor der Fleischversorgung ist in erster Linie das Tierwohl bedroht. „Wenn ein Mäster innerhalb von ein bis zwei Wochen seine Tiere nicht vermarkten kann, könnte es bereits Schwierigkeiten geben“, meint Miriam Goldschalt, Fachreferentin für Tiere in der Landwirtschaft beim Deutschen Tierschutzbund.

Sollte der Tönnies-Standort Rheda-Wiedenbrück als Schlachtstätte möglichweise mehrere Wochen ausfallen, drohten Tierschutzprobleme, warnt auch Bernhard Krüsken, Generalsekretär des Deutschen Bauernverbands.

Bei den Puten ist die Lage noch dramatischer. Da die PHW-Gruppe über keinen anderen Schlacht- und Zerlegebetrieb für Puten im Inland verfüge, würden nun „Tierschutzproblematiken in den Aufzuchtbetrieben“ drohen, räumt das Unternehmen ein.

Geestland Putenspezialitäten (GPS) kündigte an, das niedersächsische Agrarministerium um eine Sondergenehmigung für die Schlachtung in anderen Höfen zu bitten. „Es müssen gemeinsam und schnellstmöglich Lösungsmöglichkeiten für die Landwirte gefunden werden“, sagte Geestland-Chef Norbert Deeken. Im schlimmsten Fall müssten die Landwirte sonst gesunde Tiere töten.

Denn die Lieferkette ist noch enger durchgetaktet als bei Schweinen. Puten werden nur dreieinhalb bis maximal fünfeinhalb Monate gemästet. Werden sie als „Baby-Puten“ vermarktet, sogar nur zwei bis drei Monate. Ihre Zucht ist auf den Tag genau geplant. Friedrich-Otto Ripke, Vorsitzender des Landesverbands der Niedersächsischen Geflügelwirtschaft, spricht von einem „Just-in-time-Verfahren“.

Es gebe kaum Betriebe, die in ähnlichen Dimensionen schlachten wie Geestland, betont Ripke. Zudem könnten Puten nicht so lange wie Schweine in den Ställen gehalten werden. Der Grund: Sie können nicht schwitzen, Hitzestress macht sie mitunter aggressiv. „Schließt also ein großer Hof wie Geestland, müssen im schlimmsten Fall ganze Ställe gekeult werden“, sagt Ripke.

In den USA wurden wegen Schließungen von Schlachthöfen wegen Corona bereits Tiere notgetötet. So ernst ist die Lage in Deutschland noch nicht. Tönnies hofft, dass der Betrieb am Wochenende des 4. Juli – nach erfolgreicher Prüfung des Maßnahmenpakets durch die Behörden – schrittweise wieder aufgenommen werden kann. Das schrieb Tönnies in einem Brief „An unsere Kunden“ am vergangenen Montag.

In dem fünfseitigen Schreiben, das dem Handelsblatt vorliegt, drückte Tönnies sein „tiefes Bedauern“ aus. „Für die Ihnen entstehenden Unannehmlichkeiten möchten wir uns entschuldigen.“