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Stahldrama an der Ruhr: Wie es zur Kehrtwende bei Thyssen-Krupp kam

Mit einem drastischen Strategieschwenk will CEO Kerkhoff den Industriekonzern retten. Es ist die dritte Strategie innerhalb eines Jahres.

Guido Kerkhoff hat sich im Zentrum der Kneipe positioniert. Der Deckenstrahler blendet, er kneift die Augen zusammen. In der Hand hält er ein Pils, dessen weiße Schaumkrone leicht schaukelt. Entgegen seiner Gewohnheit trägt er diesmal eine Krawatte, weinroter Stoff.

Es ist Dienstagabend, der Vorstandschef von Thyssen-Krupp wirkt gleichermaßen konzentriert und erschöpft. „Man ist etwas leer und müde“, sagt er, „das war eine ganz schwierige Entscheidung, die wir zu treffen hatten.“ Und dann, nach einer kleinen Pause, fügt er hinzu: „Der Freitag war Chaos.“

Seitdem Kerkhoff am vergangenen Wochenende seine neue Strategie vorgestellt hat, eilt er von einer Gesprächsrunde zur nächsten. Der Redebedarf ist groß. Mitarbeiter, Manager und Investoren wollen wissen: Wohin steuert Thyssen-Krupp, nachdem Stahlfusion und Aufspaltung abgesagt sind? Der CEO weiß: „Die Leute haben die Fusionspläne mit ganzem Herzen unterstützt und vorangetrieben. Sich jetzt hinzustellen und ihnen mitzuteilen, dass der Plan nicht kommt, ist bitter.“

Kerkhoff steht an diesem Dienstag in der Kneipe, die auf dem Gelände der Essener Konzernzentrale errichtet wurde. Ein Provisorium, in dem stilistisch der Gelsenkirchener Barock dominiert. „Q3“ prangt über der Tür. So sollte eigentlich das Ausbildungszentrum auf dem Gelände heißen. Es wurde aber nie gebaut, weil das Geld fehlte.

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Jetzt trägt eben die Containerkneipe den Namen Q3. Dorthin hat Kerkhoff die Belegschaft geladen, und die hat nicht nur viele Fragen. Sie übt auch Kritik – berechtigte Kritik, wie Kerkhoff einräumt. Denn statt neuer Technologien wie Aufzüge soll nun das Stahlgeschäft die Zukunft des Ruhrkonzerns sein. Es ist die dritte Strategie innerhalb eines Jahres.

Die einen nennen es „Chaos“, die anderen eine „Kehrtwende“. Kerkhoff selbst spricht von „neuem Realismus“. Der altehrwürdige Industriekonzern soll nun in eine Holding umgebaut werden, unter deren Dach die einzelnen Sparten firmieren. Eine besondere Rolle erfährt dabei die lukrative Aufzugssparte: Sie könnte abgespalten oder teilweise an die Börse gebracht werden.

So soll Konzern schlanker werden – 6.000 der 160.000 Mitarbeiter sollen gehen, Kosten von 1,5 Milliarden Euro eingespart werden. Obwohl Kündigungen ausdrücklich nicht ausgeschlossen sind, trägt die IG Metall diese Entscheidung mit. Eine „Befreiung für die Geschäfte“ bedeute der Umbau, so Kerkhoff. „Ich glaube, dass eine Reduktion manchmal eine Verbesserung bedeutet.“

Was Kerkhoff vorschwebt, ist eine radikale Lösung, bei der kaum ein Stein auf dem anderen bleiben wird. Doch offenbar gibt es keinen anderen Ausweg mehr, die chronische Finanzschwäche des Unternehmens zu überwinden. Krupp war in seiner mehr als 200-jährigen Geschichte wiederholt ein Pleitekandidat, immer wieder aber fanden die Manager einen Ausweg, meist durch Zukäufe. Mit den vollen Kassen von Hoesch und später von Thyssen wurde die Bilanz in den 90er-Jahren saniert.

Nachhaltig gelöst haben die wechselnden Chefs die Probleme aber nie – Krupp blieb der kranke Mann der deutschen Wirtschaft. Das Konglomerat blähte sich immer weiter auf, und jetzt ist Thyssen-Krupp ein Klumpenrisiko. So nennen Banker Firmenkonstrukte, die bei einer Pleite viele andere in Mitleidenschaft ziehen.

In der Tat ist Thyssen-Krupp mehr als eine Ansammlung von Firmen. Das Unternehmen muss für die Pensionen Zehntausender Stahlarbeiter aufkommen. „Überspitzt gesagt sind wir eine Rentenkasse mit angeschlossener Produktion“, sagt ein Manager der Stahlsparte.

Die Atmosphäre im Q3 ist angespannt, es ist ein Raum voller Fragezeichen. Warum die strategische Kehrtwende ausgerechnet jetzt passieren müsse, will jemand wissen. Am Tresen der gleichen Kneipe hatte Kerkhoff ihnen noch vor drei Monaten erklärt, dass die Aufspaltung des Konzerns alle Probleme lösen werde. In einer Firma sollten das Stahlgeschäft, der Werkstoffhandel und die Werften gebündelt werden.

In einem zweiten Unternehmen das Geschäft mit Autoteilen, Aufzügen und dem Anlagenbau. „Es ist eine zukunftsfähige Strategie, die auch unserer Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern gerecht wird“, hatte Kerkhoff gepredigt. Das wirre Konglomerat handlicher machen – ein Vorsatz, der zunächst logisch klingt. Aber der Plan wirft Fragen auf, etwa nach den Kosten, die bei rund einer Milliarde Euro gelegen hätten.

Und dann gibt es da noch eine grundsätzliche Frage: Warum werden die Finanzziffern trotz einer seit bald einem Jahrzehnt laufenden Sanierung nicht besser? Diese Frage warf Martina Merz neu auf. Die frühere Bosch-Managerin leitet seit der Hauptversammlung am 1. Februar den Aufsichtsrat des Ruhrkonzerns. Von dem Treffen gibt es ein Foto, auf dem Kerkhoff mit Merz und Ursula Gather abgebildet ist. Gather, die mächtige Chefin der Krupp-Stiftung, zur Rechten, Merz an seiner Linken. Eine Szene, die Stärke und Geschlossenheit signalisieren soll.

Tatsächlich hat sich mit Merz das Miteinander im Konzern verändert. Sie agiert anders als ihre Vorgänger. Gerhard Cromme war ein General, der Treue einforderte. Sein Nachfolger und Merz-Vorgänger Ulrich Lehner war ein Stratege alter Schule. Mit seinem Netzwerk, das an die alte Deutschland AG erinnert, wollte er Thyssen-Krupp nach vorn bringen. Das Versprechen hatte er noch Berthold Beitz gegeben, dem inzwischen verstorbenen Übervater von Krupp und später Thyssen-Krupp. Lehner hatte eine Mission, der er sich verpflichtet fühlte. Aber ein Versprechen kann eine Bürde sein, schränkt es doch den Spielraum ein.

Merz ist frei von solchen Verpflichtungen, und sie nutzt ihren Freiraum. Nicht, indem sie auf den Tisch haut. Sie geht besonnen vor, stellt zunächst einmal Fragen. „Sie hat keine Vorbehalte oder vorgefertigte Meinungen“, sagt ein Topmanager. Ihr gehe es um die Sache. Und die ist verzwickt genug, zumal der Aufsichtsrat bis dato als unregierbar galt – zu groß sind die gegensätzlichen Interessen der Akteure. Von einer gänzlichen Zerschlagung bis hin zum Erhalt als großes Ganzes reichten die Vorstellungen. Kaum etwas blieb geheim in diesem Gremium.

Aber es gab Ausnahmen, und dazu zählte eine brisante Präsentation – präziser: eine Seite davon. Immer wieder legte Vorstandschef Kerkhoff bei der Vorstellung seiner strategischen Überlegungen ein Blatt bei, das Alternativen zur Aufspaltung offenbarte. Was würde passieren, wenn die Stahlfusion mit Tata Steel nicht gelänge? Schließlich war dies die Voraussetzung dafür, den Konzern erfolgreich aufzuspalten.

Dreieinhalb Jahre arbeitete sich Kerkhoff an diesem Plan ab. Erst als Finanzvorstand und dann, nach dem Rücktritt Heinrich Hiesingers im Sommer vergangenen Jahres, als Vorstandsvorsitzender. Mit der Fusion wollten Thyssen-Krupp und Tata einen starken Stahlkocher in Europa schaffen. Ein Unternehmen, das mit Hochöfen in Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland erhebliche Einsparungen gebracht hätte. Das alles sollte sich aber eben nicht unter dem Dach von Thyssen-Krupp abspielen. „Wir wollten frei sein vom zyklischen Stahlgeschäft, das war unsere Vorstellung“, resümiert ein Topmanager.

Der Plan scheiterte. Schon vor Wochen wurde den Konzernoberen klar, dass es schlecht um eine Verschmelzung stand. Hatte die EU-Kommission anfänglich noch zurückhaltend reagiert, so zog sie die Zügel jetzt immer stärker an. „Wir mussten uns mit den Alternativen ernster auseinandersetzen“, berichtet ein Beteiligter. In dieser Phase fanden Kerkhoff und Merz enger zusammen. Die Aufsichtsratschefin entwickelte sich zu einem wichtigen Korrektiv, erkannte Problemfelder. Warum muss Thyssen-Krupp eigentlich an Aufzügen und anderen Technologiesparten festhalten? So lautete nun eine zentrale Frage.

Kerkhoff sortierte sich neu, wobei seine Liste mit den Alternativen an Aktualität gewann. Einfach sei ihm das nicht gefallen, räumt er später ein. Der Teilungsplan stammte schließlich aus seiner Feder. Mit ihm hatte er sich im September für den Vorstandsvorsitz empfohlen.

Der Ernstfall trat dann am vergangenen Freitag ein. Wieder einmal war ein Gespräch mit den Kartellhütern angesetzt. Kerkhoff und das Management von Tata Steel hatten eine Telefonschalte mit EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager. Die wirkte wenig kompromissbereit. Keinesfalls sei der Deal in der bisherigen Form genehmigungsfähig, gab sie den frustrierten Managern zu verstehen. Um den Wettbewerb nicht zu gefährden, hätte es weitere Zugeständnisse benötigt, erinnert sich ein Manager von Tata Steel.

Verkauf der Aufzugssparte gewinnt Charme

Wie die aussehen müssten, dazu sagte Vestager nichts. Aber den Verhandlungsführern beider Konzerne war klar: Rentable Töchter wie Rasselstein, ein Hersteller von Verpackungsstahl, müssten weg. Und wohl auch die Hochöfen. „Alle wirtschaftlichen Vorteile einer Fusion wären damit futsch gewesen“, sagt ein Beteiligter.

Für Kerkhoff war es das finale Gespräch. Am Freitagmorgen, 9 Uhr, habe er gewusst, dass die Stahlfusion gescheitert ist, sagte Kerkhoff später im kleinen Kreis von Vertrauten. Vielleicht hatte Kerkhoff an diesem Schicksalstag aber auch daran gedacht, dass sich die Risiken des Deals nicht kleinrechnen lassen. Eine Milliarde Euro hätte die Teilung gekostet, zugleich wäre sie kein Garant für ein besseres Geschäft gewesen. Denn trotz vielfältiger Sanierungen hat die Krupp-Führung ein wichtiges Ziel nicht erreicht: die nachhaltige Besserung der Geschäfte. Mit ihren Fragen zielte Aufsichtsratschefin Merz auch auf diesen Umstand.

Die ursprünglich kaum beachtete Präsentation der alternativen Szenarien gewann in den vergangenen Wochen immer mehr Aufmerksamkeit. Ein Aufsichtsrat sagt: „Im Kern ging es um die Frage, wie wir Geld in die Kasse bekommen, um den Konzern finanziell sauber aufzustellen.“ Im Mittelpunkt steht die Aufzugssparte, der werthaltigste Teil von Thyssen-Krupp, der gegenwärtig mit rund 15 Milliarden Euro doppelt so hoch bewertet wird wie der Gesamtkonzern. Kreditgeber sprechen von ebenjenem Klumpenrisiko. Ein Verkauf der Sparte galt bis jetzt als ausgeschlossen.

Im Gegenteil: Kerkhoff und Hiesinger hatten Thyssen-Krupp durch die schrittweise Veräußerung der anderen Geschäfte auf diese Sparte fokussieren wollen.

Als Merz Chefin des Aufsichtsrats wurde, änderte sich diese Sicht. Mit ihr gewann der Gedanke an eine Trennung von der Aufzugssparte an Popularität. Der Finanzinvestor Cevian, mit knapp 20 Prozent zweitgrößter Aktionär nach der Krupp-Stiftung, wirbt schon seit Jahren mehr oder weniger offen für einen Verkauf, damit Geld für die Sanierung der Bilanz hereinkommt. „Weil der Plan auch von Cevian favorisiert wurde, haben wir ihn nicht einmal ernsthaft in Erwägung ziehen wollen“, sagt eine Führungskraft rückblickend. Ein Dogma, das die Entwicklung des Traditionskonzerns behinderte.

Mit Merz wird über diese Option nun offen im Aufsichtsrat diskutiert. Sie legt dabei Wert darauf, dass alle Gremiumsmitglieder zu Wort kommen, dass alle Argumente beleuchtet werden, wie ein Mitglied des Gremiums berichtet. Die Ingenieurin hat eine andere Prägung als die Manager von der Ruhr. Bei Bosch, wo sie zuletzt das Bremsengeschäft geleitet hatte, wird offener diskutiert. Sätze wie „Vertrauen Sie mir einfach“, mit denen starke Führungspersonen Gespräche abwürgen, sind Merz ein Gräuel.

Sie schätzt es, wenn Argumentationen Schritt für Schritt auf ihre Konsistenz hin überprüft werden. Und genau diese Rolle wird im Thyssen-Krupp-Aufsichtsrat Ursula Gather zugeschrieben, die von der Krupp-Stiftung ins Gremium entsandt worden ist.

Zwischen ihren Vorgängern und der Mathematikprofessorin Gather hatte es immer wieder Spannungen gegeben, ihr beharrliches Hinterfragen legten sie als mangelnde Unterstützung aus. Der frühere Aufsichtsratschef Lehner und der ehemalige CEO Hiesinger haben bei ihren hastigen Abgängen das mangelnde Vertrauen Gathers als einen der Hauptgründe für ihr Ausscheiden angegeben. Ein Vorwurf, den Gather bis heute nicht nachvollziehen kann.

Merz betrachtet genau diese Eigenschaft des Nachfragens als besonders wertvoll für die Arbeit des Aufsichtsrats. Sie ist als Ingenieurin mit naturwissenschaftlich-logischem Vorgehen vertraut. Das verbindet die beiden mächtigen Frauen bei Thyssen-Krupp. Sie werfen sich die Bälle in enger Taktung zu. Und dieses Zusammenspiel sorgt für eine neue Dynamik im Gremium. Anders als früher sind die Aufsichtsratschefin und die Vertreterin des größten Anteilseigners auf einer Wellenlänge. Das macht schnelle Entscheidungen deutlich leichter.

Die Fähigkeit zu schnellen Entscheidungen wird Kerkhoff unbedingt brauchen. Der Manager weiß: Einen weiteren Strategieschwenk kann er sich nicht leisten – noch ist die Atmosphäre in der Kneipe Q3 nur angespannt. Dann würde sie kippen.