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Der Stahlbranche droht die totale Überforderung

Die Coronakrise kostet die europäische Stahlindustrie viele Milliarden. Noch mehr aber müssen die Firmen investieren, um beim Klimaschutz mitzuhalten.

Die Stahlsparte des Industriekonzerns verlor im abgelaufenen Quartal beim Ebit 332 Millionen Euro. Foto: dpa
Die Stahlsparte des Industriekonzerns verlor im abgelaufenen Quartal beim Ebit 332 Millionen Euro. Foto: dpa

Wenn Herbert Eibensteiner, Chef der österreichischen Voestalpine, in knapp einem Monat bei der virtuellen Hauptversammlung auf den Bildschirmen der Aktionäre erscheint, wird er schlechte Nachrichten verkünden. Der Gewinn vor Steuern des österreichischen Stahlkonzerns ist im vergangenen Jahr von 646 Millionen Euro auf minus 230 Millionen Euro eingebrochen.

Die Dividende, so teilte Eibensteiner bei Vorlage der Jahreszahlen am Mittwoch mit, wird deshalb von 1,10 Euro im Vorjahr auf nunmehr 20 Cent drastisch gekürzt. Für die erfolgsverwöhnten Voestalpine-Aktionäre bedeutet das einen historischen Einschnitt: So schlecht hat sich ihr Investment noch nie rentiert, seit der ehemals staatliche Stahlkonzern vor 25 Jahren privatisiert worden war.

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Die Lage in Linz ist bezeichnend für die Probleme, in denen die europäische Stahlindustrie derzeit steckt. Schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie drückte die lahmende Autokonjunktur infolge des Wandels zur Elektromobilität die ohnehin mageren Gewinne der zyklusanfälligen Branche. Doch in der Coronakrise ist die Nachfrage nun nahezu zum Erliegen gekommen.

Autowerke blieben über Wochen reihenweise geschlossen, auch der Wiederhochlauf der Produktion von Volkswagen, Daimler und BMW geht nur schleppend voran. Dabei ist die Autoindustrie der mit Abstand wichtigste Abnehmer der Stahlkocher: Hustet Wolfsburg, bekommt das Ruhrgebiet eine Lungenentzündung. So lautet ein gern zitiertes Bonmot in der Branche.

Und als wäre all das nicht genug, stehen die Stahlhersteller wegen des Klimawandels auch noch vor dem radikalsten Technologiewechsel ihrer Geschichte. Milliardenschwere Investitionen sind nötig, um den Wandel von der kohle- zur wasserstoffbasierten Stahlerzeugung zu stemmen. Ob sich diese Investitionen eines Tages rechnen, scheint heute fraglich.

Für die gesamte Branche entsteht so eine existenzbedrohende Gemengelage. Noch verschärft wird sie durch Diskussionen über eine Anhebung der Klimaziele, die im Moment eine Reduktion der CO2-Emissionen bis 2030 von 40 Prozent im Vergleich zum Emissionsvolumen von 1990 vorsehen und zu denen sich die Stahlindustrie in Europa weitgehend bereits bekannt hat.

Verschärfung der Klimaziele bereitet große Sorge

Doch sowohl Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatten sich zuletzt für eine Reduktion von 50 bis 55 Prozent in den kommenden zehn Jahren ausgesprochen. Spricht man darüber dieser Tage mit deutschen Stahlmanagern, ist die Verzweiflung angesichts dieser sprunghaft wachsenden Herausforderung unmittelbar herauszuhören.

So klagte etwa Tim Hartmann, Vorstandschef der Stahl-Holding Saar (SHS) mit Werken in Dillingen und Völklingen, im Gespräch mit dem Handelsblatt: „Die öffentlichen Kassen und die Unternehmensreserven sind schon erheblich geschwächt. Daher können wir es uns schlichtweg nicht leisten, Klimaziele mit entsprechenden Kosten so auf Knopfdruck zu erhöhen – und das noch dazu in einer Phase, in der unzählige Unternehmen in Deutschland vor großen Problemen stehen.“

Nach Ansicht des Managers müsse erst die Finanzierung der jetzigen Klimaziele geklärt werden, bevor die Politik über eine Anhebung spricht. „Im Fußball denkt man auch nicht an das dritte Tor, bevor das erste erzielt ist“, sagte Hartmann: „Es wird höchste Zeit, dass sich die Politik in Brüssel einigen Realitäten stellt.“

Es ist ein Hilferuf, dem sich andere Unternehmen der Branche anschließen. So warnte auch Salzgitter-Chef Heinz Jörg Fuhrmann im Gespräch mit dem Handelsblatt: „Auf dem Weg zum gerade besprochenen Ziel der CO2-Neutralität bis 2050 müssen wir aufpassen, dass gerade den energieintensiven Grundstoffindustrien nicht wegen zu extremer Anforderungen zwischenzeitlich die Luft ausgeht.“

Dabei gilt die europäische Stahlindustrie weltweit als Vorreiter in Sachen Klimaschutz. Egal ob Salzgitter, SHS. Arcelor-Mittal, Thyssen-Krupp oder Voestalpine – nahezu alle Unternehmen haben bereits einzelne Wasserstoffprojekte gestartet und wichtige technologische Hürden wie die klimaneutrale Erzeugung des benötigten Wasserstoffs überwunden.

Branche hat die Produktion deutlich gedrosselt

Probleme bereitet vor allem die Finanzierung: Nach Branchenschätzungen könnten sich die Kosten für einen Umstieg auf Wasserstoff für die Hersteller in Europa insgesamt auf eine niedrige zweistellige Milliardensumme belaufen. Doch das dafür nötige Kapital fehlt an allen Ecken und Enden – während die Stahlkocher in der Coronakrise nicht nur kein Geld verdienen, sondern sogar hohe Millionenbeträge verbrennen.

Allein der größte deutsche Stahlhersteller Thyssen-Krupp verlor im abgelaufenen Quartal so mehr als 330 Millionen Euro (Ebit). Ähnlich sieht es bei der Salzgitter AG aus, die zwischen Januar und März einen Verlust vor Steuern von 31,4 Millionen Euro verzeichnete.

Ihren Ausstoß hat die Branche daher massiv reduziert: Arcelor-Mittal, der weltgrößte Hersteller, legte zwei Hochöfen in Frankreich still. Auch Thyssen-Krupp, Salzgitter und SHS kochen ihren Stahl derzeit auf Sparflamme. Das schlägt sich auch in den jüngsten Branchenzahlen nieder: Für den April vermeldete die Wirtschaftsvereinigung Stahl einen Produktionsrückgang in Deutschland von fast 24 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Dabei ist das volle Ausmaß der Krise noch überhaupt nicht eingerechnet. Denn viele Autoproduzenten hatten erst zum Ende des Quartals mit der Schließung ihrer Werke begonnen und arbeiten auch heute noch nicht auf dem Niveau vor der Krise. Eine verlässliche Ergebnisprognose für das Gesamtjahr traut sich angesichts dieser Unsicherheiten im Moment kein Unternehmen der Branche zu. Die Unternehmen fahren „auf Sicht“, wie es derzeit auch in vielen anderen Industriezweigen heißt.

Klar scheint allerdings schon jetzt: Die Investitionsmittel für die grüne Transformation wird kein Stahlhersteller in den nächsten Jahren ohne staatliche Hilfen aufbringen können. „Es ist ja schon ein Qualitätsmerkmal, die nächsten Monate ohne externe Klimmzüge überstehen zu können“, konstatierte Salzgitter-Chef Fuhrmann. Wie schnell die Stahl verarbeitenden Industrien wieder zu einem normalen Beschäftigungsniveau zurückfinden, sei im Moment nicht absehbar.

Unter diesen Voraussetzungen lehnt auch er eine Verschärfung der EU-Klimaziele vehement ab. „Die anstehenden disruptiven Innovationen können nur von wirtschaftlich gesunden Unternehmen gestemmt werden“, sagte Fuhrmann. Umso wichtiger sei es deshalb, dass die Europäische Kommission im Zusammenspiel mit den EU-Mitgliedstaaten entsprechende Rahmenbedingungen für die Stahlindustrie in Europa setzt.

Abbau von Überkapazitäten

Einige der Firmen suchen ihr Heil in der Konsolidierung. So kündigte Thyssen-Krupp-Chefin Martina Merz kürzlich die Suche nach einem Partner für das notleidende Stahlgeschäft des Ruhrkonzerns an. Dabei führt der Konzern Gespräche vornehmlich mit Konkurrenten aus dem europäischen Ausland, wie Tata Steel Europe und SSAB aus Schweden. Denn der Abbau von Überkapazitäten ist derzeit die einzige Option, die die Firmen in der eigenen Hand halten.

Ob sich die Stahlindustrie in Europa als solche damit noch retten lässt, ist allerdings fraglich. Denn während die Branche in Europa darbt, produzieren die Rivalen vor allem in China weiter auf Hochtouren. Kostenintensive Umweltauflagen wie in Europa müssen sie dabei kaum fürchten. Langfristig könnte das die starke Position der chinesischen Stahlkocher auf dem Weltmarkt weiter festigen.

„Viele Industriezweige in Deutschland und in Europa stehen unter einem gewaltigen wirtschaftlichen Druck beispielsweise aus China, Russland, den USA oder anderen Ländern“, schätzt SHS-Chef Hartmann die Lage ein. „Deshalb ist es dringend notwendig, dass sich die europäische Politik endlich ihrer Verantwortung stellt.“

Dazu zählt der Manager auch einen besseren Schutz gegen den steigenden Importdruck aus China. Schon jetzt beschränkt die EU den Zugang ausländischer Hersteller auf den europäischen Markt mittels länderspezifischer Importquoten, nachdem die USA vor zwei Jahren ihrerseits Zollregeln für Stahlimporte erlassen hatten. Doch der Nachfrageeinbruch durch Corona ist dabei noch nicht berücksichtigt.

„Das Safeguard-Instrument wird vor dem Hintergrund des erfolgten Aufbaus großer Stahlbestände insbesondere in Russland und China nur noch Wirkung erzielen können, wenn die Quoten entsprechend des dramatischen Nachfrageeinbruchs angepasst werden“, sagte Hartmann. Die Bundesregierung habe sich zuletzt für eine Überprüfung der Quoten durch die Kommission ausgesprochen. „Jetzt kommt es zur Nagelprobe.“

Es scheint, als gelte das nicht nur kurzfristig für die Importbeschränkungen, sondern langfristig für die gesamte Branche.