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Staatsrechtler zum Infektionsschutzgesetz: „Es muss sicherlich noch einmal nachgebessert werden“

Der Bundestag berät das überarbeitete Infektionsschutzgesetz. Doch Staatsrechtler Degenhart sieht bei den Grundlagen für die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung nach wie vor massive Defizite.

Staatsrechtler Degenhart fragt: Was ist eigentlich eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“? Foto: dpa
Staatsrechtler Degenhart fragt: Was ist eigentlich eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“? Foto: dpa

Der Leipziger Staatsrechtler Christoph Degenhart hält die Präzisierung des Infektionsschutzgesetzes für nicht ausreichend. „Die Zeit nach dem Abklingen der ersten Welle hätte genutzt werden müssen, um gesicherte Rechtsgrundlagen zu schaffen. Stattdessen wird jetzt wieder im Eilverfahren ein Gesetz durch den Bundestag gebracht“, sagte Degenhart dem Handelsblatt. „Es muss sicherlich noch einmal nachgebessert werden.“

Das demokratische Defizit, das darin liege, dass Kanzleramt und Landesregierungen über Corona-Maßnahmen entschieden und nicht die Parlamente von Bund und Ländern, bleibe, „wenn auch abgemildert“, bestehen.

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Im Schnellverfahren will der Bundestag an diesem Mittwoch die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes beschließen. Ziel der Änderung ist es vor allem, für die von der Regierung per Verordnung erlassenen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung wie Betriebs- und Gaststättenschließungen oder Kontakt- und Beherbergungsverbote mehr Rechtssicherheit zu schaffen. Am Nachmittag soll noch der Bundesrat entscheiden.

Degenhart hält es zwar für richtig, Einzelmaßnahmen als Regelbeispiele im Gesetz aufzuführen. Für die verschiedenen Eingriffe müssten dann aber die Voraussetzungen konkreter bestimmt werden. „Der Gesetzgeber hat nur geregelt, was möglich ist, aber nur unzureichend, wann und wie die Maßnahme ergriffen werden soll“, kritisierte der Staatsrechtler. Es seien Ersatzansprüche gegenüber dem Staat denkbar, etwa von Betrieben, die ungerechtfertigterweise schließen mussten.

Lesen Sie hier das ganze Interview:

Herr Professor Degenhart, in der Coronakrise greift der Staat massiv in Grundrechte ein. Geht das aus Ihrer Sicht zu weit?
Hier ist wirklich der Einzelfall zu beurteilen. Die meisten der getroffenen Maßnahmen sind in der Sache berechtigt oder jedenfalls vertretbar, beruhen aber auf einer unzureichenden gesetzlichen Grundlage. In Einzelfällen sind auch die Behörden sicher über das Ziel hinausgeschossen, was aber auch schon durch die Gerichte korrigiert wurde. Das war etwa bei den Beherbergungsverboten vor dem Teil-Lockdown der Fall.

Zuletzt meldeten Gerichte mit Blick auf Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung immer häufiger Zweifel an, ob für die Beschränkungen die gesetzlichen Grundlagen ausreichen. Ist die Präzisierung, die nun im Infektionsschutzgesetz mit dem Paragrafen 28a vorgenommen wird, der richtige Schritt?
Das Problem wurde von den Gerichten völlig zu Recht erkannt. So schwerwiegende Grundrechtseingriffe müssen vom Gesetzgeber vorgesehen und nicht auf dem Wege der Verordnung erlassen werden. Dazu war in der ersten Welle nicht die Zeit. Da drängte die Sache zu sehr. Darum war es hinzunehmen. Aber schon im März hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof entschieden, dass es auf Dauer nicht ohne eine nähere gesetzliche Grundlage geht. Insofern hat der Gesetzgeber jetzt gerade noch einen Schritt in die richtige Richtung gemacht. Die Präzisierung im Infektionsschutzgesetz ist meines Erachtens aber nicht ausreichend. Die Zeit nach Abklingen der ersten Welle hätte genutzt werden müssen, um gesicherte Rechtsgrundlagen zu schaffen. Stattdessen wird jetzt wieder im Eilverfahren ein Gesetz durch den Bundestag gebracht.

Konkret will die Regierung mit einer Liste von möglichen Schutzmaßnahmen Rechtsklarheit schaffen. Dazu zählen die Schließung von Einzel- oder Großhandel und Gaststätten, die Untersagung von Übernachtungsangeboten, Freizeit-, Kultur- und Sportveranstaltungen sowie Gottesdiensten, Reisebeschränkungen, das Verbot der Alkoholabgabe, Abstandsgebote und das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Warum reicht das nicht?
Richtig ist es schon, die Einzelmaßnahmen als Regelbeispiele aufzuführen. Das ist eine anerkannte Technik der Gesetzgebung. Allerdings zählt das Gesetz nur die Maßnahmen auf, die von den Behörden im Verordnungsweg bisher getroffen wurden. Für die verschiedenen Eingriffe müssten dann aber die Voraussetzungen doch etwas konkreter bestimmt werden. Der Gesetzgeber hat also nur geregelt, was möglich ist, aber nur unzureichend, wann und wie die Maßnahme ergriffen werden soll.

Quarantäne muss dringend näher geregelt werden

Was hätte im Gesetz stehen müssen, damit es handwerklich ordentlich ist?
Nehmen wir das Beispiel Beherbergungsverbote: Wo kann das angeordnet werden, für welche Bereiche und unter welchen Voraussetzungen? Oder das Verbot der Alkoholabgabe: Hier müssten die Bereiche dafür nach näheren Kriterien aufgeführt werden. Was noch auf jeden Fall im Gesetz stehen müsste: Was ist eigentlich eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“?

Gibt es weitere Mängel?
Was auch näher geregelt werden müsste, ist die Reihenfolge der Maßnahmen. Ich vermisse zudem die Voraussetzungen für Quarantäne. Und hier insbesondere die Festlegung, wann eine Quarantäne als Freiheitsentziehung zu werten ist und darum unter Richtervorbehalt steht. Das muss dringend näher geregelt werden. Die jetzigen Quarantäne-Bestimmungen sind wohl einzuordnen als bloße Freiheitsbeschränkung. Da gilt kein Richtervorbehalt. Was wir in der ersten Welle im Frühjahr aber gesehen haben, dass etwa Wohnquartiere von Schlachthofmitarbeitern mit Zäunen abgeriegelt und von Wachen umstellt waren, das ist meines Erachtens schon eine Freiheitsentziehung, die mir ohne Richtervorbehalt sehr problematisch erscheint. Auch das hätte gesetzlich geregelt werden müssen.

Das ist viel Kritik. Auf den letzten Metern gab es noch Änderungen im Gesetzentwurf. Hat das etwas gebracht?
Die sehr wesentliche Frage, ob einzelnen Personengruppen, etwa Älteren, besondere Beschränkungen auferlegt werden dürfen, ist nun zumindest mittelbar erfasst, wenn ausdrücklich bestimmt wird, dass Maßnahmen nicht zur sozialen Isolation führen dürfen. Dies betrifft zum Beispiel Besuchsverbote in Einrichtungen, wie wir sie schon gesehen haben. Das sind gravierende Eingriffe, die zu starken Schäden bei den Betroffenen führen können. Dies wird nunmehr zumindest ansatzweise mit eingebracht. Dass die Anordnung der Maßnahmen verhältnismäßig sein muss, ist selbstverständlich, die entsprechende Bestimmung im Entwurf wurde daher zu Recht gestrichen. Auch ist positiv zu bewerten, dass im Rahmen der Abwägung nach der nunmehrigen Fassung gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen mit berücksichtigt werden müssen.

Im neuen Paragrafen ist von „schwerwiegenden“ und „stark einschränkenden“ Schutzmaßnahmen die Rede. Wo ist denn der Unterschied?
Auch das ist heikel. Es lässt sich nicht sagen, welche der aufgelisteten Maßnahmen in welche Kategorie fallen. Dann gibt es ja auch noch die „einfachen“ Maßnahmen.

Ermöglicht werden nun auch Ausgangsbeschränkungen im „privaten“ Raum. Eine Sachverständige meinte bei der Anhörung im Bundestag: „Bei unbefangener Lesart könnte man meinen, der Gesetzgeber wolle die zuständigen Behörden ermächtigen, den Gang in den eigenen Garten zu verbieten.“ Was steckt dahinter?
Hier gehen nach meiner Ansicht Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen durcheinander. Ausgangsbeschränkung meint wohl: Der Bürger darf sich nicht aus dem privaten in den öffentlichen Raum begeben. Das alles ist also nicht ganz eindeutig nachvollziehbar.

Der Gesetzgeber wird absehbar also noch weitere Konkretisierungen vornehmen müssen?
Es muss sicherlich noch einmal nachgebessert werden. Die nun beschlossene Präzisierung des Infektionsschutzgesetzes war bestimmt nicht der letzte Schritt.

Zuvor galt nur eine Generalklausel, nun werden immerhin auch Beschränkungen konkret benannt. Allerdings steht das Wörtchen „insbesondere“ vor der langen Liste mit den Maßnahmen. Was bedeutet das?
Das ist eine bekannte Regelungstechnik, die auch aus dem Straf- oder Polizeirecht bekannt ist. Standardmaßnahmen werden ausdrücklich geregelt, und daneben gibt es für unvorhergesehene Fälle eine Generalklausel. Ich sehe allerdings nicht so recht, was außer den Anordnungen noch vorstellbar sein mag. Es müssten jedenfalls Maßnahmen sein, die in ihrem Schweregrad vergleichbar mit den aufgeführten sind. Massivere Eingriffe wären nicht zulässig.

Demokratisches Defizit bleibt bestehen

Die FDP spricht von einem „Blankoscheck“.
Ich sehe die Schutzvorkehrungen nicht unbedingt als Blankoscheck. Aber die Exekutive ist klar in der Vorhand. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass immer darzulegen ist, warum andere Maßnahmen eben nicht zulässig sind. Es verschiebt schon die Gewichte Richtung Exekutive.

Grundsätzlich geht es um den Parlamentsvorbehalt: Der Bundestag hat maßgebliche Regelungen selbst zu treffen. Ist dem mit dem Nicken zum 28a nun Genüge getan?
Es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber ob es ausreicht? Meines Erachtens: Nein! Ich sehe aber auch keine Selbstentmachtung des Parlaments, wie Kritiker meinen.

Die SPD hat einen Zustimmungsvorbehalt des Bundestags bei allen Rechtsverordnungen auf Bundesebene gefordert, die wesentlich in die Grundrechte der Bürger eingreifen. Ist so etwas nötig?
Ein Zustimmungsvorbehalt wäre wünschenswert. Allerdings werden die Verordnungen gerade in den Fällen des Paragrafen 28a von den Ländern erlassen. Und hier fehlt es an einer Einbindung des Parlaments. Das demokratische Defizit, das darin liegt, dass Kanzleramt und Landesregierungen entscheiden und nicht die Parlamente von Bund und Ländern, bleibt, wenn auch abgemildert, bestehen.

Bleibt der Blick nach vorne: Werden die Gerichte die Vorschrift aus Ihrer Sicht als Rechtsgrundlage akzeptieren?
Es dürfte den Gerichten im Grundsatz ausreichen. Sie werden aber wohl nicht jede Verordnung pauschal abnicken, sondern prüfen, ob im Einzelfall die Voraussetzungen für die Eingriffe wirklich gegeben sind, so, wie sie es ja schon bisher getan haben. So könnte die Untersagung von Kulturveranstaltungen Bestand haben, die von Gottesdiensten aber nicht. Oder die Richter stellen klar, dass es nicht einzusehen ist, warum ein Massagesalon schließen muss, ein Friseur aber nicht. Hier sind auch Ersatzansprüche gegenüber dem Staat denkbar, etwa von Betrieben, die ungerechtfertigterweise schließen mussten.

Welche Rolle spielt das Bundesverfassungsgericht?
Zunächst sind einmal die Verwaltungsgerichte gefragt, wenn es um konkrete Verbote oder einzelne Verordnungen geht. Ob das Gesetz als solches verfassungswidrig ist, wäre dann vom Bundesverfassungsgericht zu entscheiden. Dass es das Gesetz oder Teile davon für nichtig erklären könnte, nehme ich nicht an. Es könnte jedoch sagen, dass in einigen Punkten nachgebessert werden muss.

Herr Professor Degenhart, vielen Dank für das Interview.