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„Die Staatsanwaltschaft wird von der Angst getrieben, etwas zu übersehen“

Jürgen Wessing gehört zu den erfahrensten deutschen Wirtschaftsstrafrechtlern. Mit seinem Partner Heiko Ahlbrecht spricht er über Corona, Deals und das neue Unternehmensstrafrecht.

Die Kanzlei Wessing & Partner am Düsseldorfer Rathausufer ist eine der ersten Adressen im Wirtschaftsstrafrecht. Die Flure sind verwinkelt, eine rustikal möblierte enge Bibliothek dient als Besprechungsraum – es sind nicht die typischen Büros, in denen Juristen aus Wirtschaftskanzleien häufig residieren. Dass die Anwälte der großen Wettbewerber immer häufiger auch im Strafrecht und zu Compliance-Fragen beraten, macht den Spezialisten keine Sorgen.

Die Coronakrise hat das Leben dramatisch verändert. Welche Folgen hat das für Sie als Strafrechtler?
Wessing: Wir haben weniger neue Mandanten. Das liegt vor allem an der geringeren Aktivität der Staatsanwaltschaften – es fanden kaum Durchsuchungen statt. Ab Herbst erwarten wir eine neue Welle.

Sind Sie schon mit Fällen konfrontiert, die auf die Krise zurückgehen?
Wessing: Dafür ist es zu früh. Zwischen Tat, deren Entdeckung und unserer Einschaltung liegt meist ein halbes Jahr oder mehr. Ich halte es für wahrscheinlich, dass Cybercrime-Fälle und Datenschutzverstöße zunehmen werden. Wir werden auch mehr Insolvenzverschleppungen sehen. Und jene Fälle werden uns Arbeit machen, in denen finanzielle Hilfen des Staates missbraucht und Gelder bewusst abgezweigt wurden.

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Ahlbrecht: Kritisch wird es, wenn große Unternehmen Kurzarbeitergeld in hohem Umfang in Anspruch genommen haben, aber die Voraussetzungen nicht vorhanden waren. Auch Kreditgewährungen nach Subventionsrecht können den Tatbestand des Betrugs erfüllen. Da wir bereits im Medizinstrafrecht Berührung mit Corona-bedingten Verfahren haben, erwarten wir auch dort mehr Arbeit.
Abseits von Corona machte jüngst die Einstellung des Verfahrens wegen Marktmanipulation gegen die VW-Spitzen Diess und Pötsch Schlagzeilen – gegen Auflagen von je 4,5 Millionen Euro.

Können sich Manager zu einfach freikaufen?
Wessing: Der Fall ist eher ein Beispiel für Verfahren, die nicht führbar sind. Ich habe schon einige erlebt. Nehmen wir das Loveparade-Verfahren mit 50.000 Seiten Blattakten und 6,3 Gigabyte Daten. Will man ein solches Mammutprogramm durchziehen, ist unser System dafür nicht geeignet. Die Staatsanwaltschaft wird von der Angst getrieben, etwas zu übersehen, und bringt immer wieder zu viel auf den Teller. Das kann dann alles gar nicht gegessen werden.

Woran liegt das?
Ahlbrecht: Strafprozessual gesehen hat das mit der Hauptverhandlung zu tun. Grundlage eines Urteils ist nur das, was in der Verhandlung gesagt, gezeigt und offiziell eingeführt wird. Was die Staatsanwaltschaft mit der Anklage vorgelegt hat, muss alles im Detail abgearbeitet werden.

Im VW-Verfahren war der Kreis der Beschuldigten überschaubar. War das Verfahren aus Ihrer Sicht dennoch nicht zu führen?
Wessing: Die Staatsanwälte haben offensichtlich gesehen, dass sie zu viel hätten aufbieten müssen, um überhaupt zu einer Verurteilung zu kommen. Und die wäre dann, wenn überhaupt, zur Bewährung ausgefallen. Also lieber Millionen für die Staatskasse als ein öffentliches Achselzucken für eine Bewährungsstrafe oder die Ohrfeige eines Freispruchs.

Ahlbrecht: Es ist ein klassisches Eisbergverfahren: Der Vorwurf ist zwar die Fehlinformation der Anleger, aber mittelbar hätte man sich mit dem gesamten Dieselskandal auseinandersetzen müssen.

VW zahlt die Geldauflage für Diess und Pötsch. Wie werten Sie das?
Wessing: Das ist die eigentliche Perversion der Situation. Die Auflage von 4,5 Millionen Euro ist personen- und nicht unternehmensbezogen. Paragraf 153a Strafprozessordnung ist dafür da, dass das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung beseitigt wird, wenn die konkrete Person dafür eine Leistung erbringt. Wenn ein Beschuldigter die Summe nicht selbst aufbringt, geht der Opportunitätsgedanke ins Leere.

Also ist es falsch, dass VW die Zahlung übernimmt?
Wessing: Es ist falsch, aber rechtlich in Ordnung: Das System lädt dazu ein. Denn das System wird mit den Verfahren nicht mehr fertig.

Wie meinen Sie das?
Wessing: Als ich anfing, sprach man als Verteidiger nicht mit Staatsanwälten. Nur in der Hauptverhandlung. Es war eine Art Geheimwissenschaft, mit Staatsanwälten zu reden. Dann folgte bis Mitte der 90er-Jahre ein Jahrzehnt, in dem die Staatsanwaltschaften mit der Menge der Verfahren überfordert und in dem sie sehr dankbar waren, wenn der Verteidiger den Ausweg über den Dialog eröffnete. Die Situation kippte dann, die Ermittler erwarteten einen Dialog.

Und dann?
Ahlbrecht: Die Staatsanwälte gingen mit der Erwartung in das Verfahren: Diese oder jene Sanktion muss im Dialog herauskommen. Eine Verfahrenseinstellung war weit schwerer zu erzielen. Als ich vor 20 Jahren begonnen habe, gab es viele Umweltdeliktsverfahren, die sehr komplex waren. Da gab es die Möglichkeit, angemessene Verfahrenseinstellungen zu diskutieren mithilfe dieser Vorschrift. Inzwischen hat sich der Wind erneut gedreht. Einstellungen gegen Geldauflage gibt es weiter, aber als sicher annehmen sollte man sie nicht.

Die Einstellung gegen Auflage wurde für kleinere Delikte geschaffen. Sind Fälle wie der bei VW noch im Sinn der Vorschrift?
Wessing: Die Vorschrift wurde vor einigen Jahren angepasst. Inzwischen steht explizit in der Gesetzesbegründung, dass sie bis in die mittlere Kriminalität hineinreichen soll, also auf Delikte, wo die Frage lautet: Gefängnis oder nicht? Man muss sich klarmachen, dass der Paragraf 153a kein ausschließlicher Segen ist. Er kann auch ein großer Fluch sein.

Mit welcher Begründung?
Wessing: Mandanten scheuen die Hauptverhandlung wie der Teufel das Weihwasser – auch dann, wenn sie sicher sind, nichts falsch gemacht zu haben. Selbst wenn der Anwalt überzeugt ist, dass der Mandant sehr gute Chancen auf einen Freispruch hat und den Fall vor Gericht austragen möchte, kommt es vor, dass der Mandant sagt: Ich will hier raus, weil bereits der Umstand, dass es zu einer Hauptverhandlung kommt, zum bürgerlichen Tod führen kann.

Ahlbrecht: Vor allem aktive Unternehmenslenker können sich eine Hauptverhandlung nicht mehr erlauben, wie auch Berater. Sie sind dann verbrannt. Das war früher anders.

Und was treibt den Konzern?
Wessing: Unternehmen haben grundsätzlich ein starkes Interesse an einer Einstellung, selbst wenn der beschuldigte Manager eher auf dem Standpunkt steht: Ich bin unschuldig und ziehe das Verfahren durch. – Denn ein Verfahren sorgt für eine negative Presse. Geht es weiter, verliert das Unternehmen außerdem die Kontrolle, die es mit der Einstellung gegen Auflage behält.

Ahlbrecht: Die Bedeutung von Kontrolle ist enorm. Wir arbeiten regelrecht wie Kontrollfreaks nach dem Motto: Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle. Es ist unsere Aufgabe, dem Unternehmen die Kontrolle über das Verfahren zu erhalten.

Das heißt?
Ahlbrecht: Wir versuchen, das Verfahren unauffällig zu führen, und arbeiten über Schriftsätze, wenn es irgendwie geht. Vernehmungen gilt es zu vermeiden. Da verliert man schon ein Stück weit die Kontrolle.

Ein persönliches Vernehmen des Beschuldigten ist die erste Niederlage?
Wessing: Die erste wirkliche Niederlage ist die Zulassung der Anklage. Es gilt als oberstes Gebot: bloß nicht vor Gericht.

Mit der Anklage ist der Weg ja meist vorgezeichnet.
Ahlbrecht: Ja, statistisch gesehen wird nur in einem Prozent der Fälle die Anklage nicht zugelassen. Unsere Ergebnisse sind besser. Wir schaffen es in bis zu 15 Prozent der Fälle, dass die erhobene Anklage nicht zugelassen wird. Wenn vorher der Dialog mit der Staatsanwaltschaft gescheitert ist, kommt mit dem Gericht ab dem Zwischenverfahren ein weiterer Akteur ins Spiel. Das nutzen wir, um noch einmal intensiv vorzutragen.

Herr Wessing, Ihr Vater war auch Jurist. Wann fiel die Entscheidung, Strafverteidiger in Wirtschaftsverfahren zu werden?
Wessing: Mein Vater fand Strafrecht ganz fürchterlich. Ich bin in seine Kanzlei eigentlich nur eingetreten, weil Sven Thomas dort arbeitete. Er war der beste Strafverteidiger weit und breit, und ich konnte von ihm lernen. Zu Karrierebeginn war ich nicht auf Wirtschaftsverfahren fokussiert.

Was waren Ihre ersten Fälle?
Wessing: Mitte der 80er-Jahre habe ich eine junge Frau verteidigt, die ihren weit älteren Liebhaber mit einer Armbrust umbrachte. Oder einen Mann, der seine Frau mit 147 Stichen tötete. In solchen Fällen lernt man, wie wichtig es ist, den Sachverhalt gründlich aufzuarbeiten.

Und dann?
Wessing: Mein Vater hat versucht, mich in Fälle zu bringen, die einen zivilrechtlichen Einschlag hatten. Dadurch war ich dann auf einem breiteren Feld aktiv. Und mir wurde klar, dass meine Zukunft im Wirtschaftsstrafrecht liegt.

Wie ging es weiter?
Wessing: Mein prägendes, erstes großes Wirtschaftsstrafverfahren war das sogenannte Herzklappenverfahren. Darin habe ich eine große amerikanische Medizinfirma vertreten und hätte das Mandat gleich zu Anfang beinahe wieder verloren.

Was war der Grund?
Wessing: Ich hatte zu wenig in Rechnung gestellt. Der Geschäftsführer nahm mich beiseite und erklärte, dass die Amerikaner es gewohnt sind, am Anfang des Verfahrens hohe Rechnungen zu bekommen. Daraus schließen sie auf die Aktivität und Effektivität ihrer Verteidiger. So habe ich gelernt, dass Verfahren mit US-Mandanten in vielen Bereichen anders zu betrachten sind als deutsche.

Wo liegt der Unterschied?
Ahlbrecht: Amerikaner wollen in der Verteidigung vom Start weg alle Szenarien abgedeckt haben. Sie sind das von ihren Kanzleien gewohnt. In den USA mischen Großkanzleien im Strafrecht stark mit und sind bestrebt, viele Leute in den Fall zu bringen.

Heute verdienen Wirtschaftsstrafrechtler sehr gut. Wie kam es zu dem Wandel?
Wessing: Als ich begann, liefen bestimmt drei Viertel der Fälle über die gesetzlich festgelegten Gebühren. Man war froh, wenn man überhaupt nach Stundenhonorar abrechnen konnte. Die Stundenhonorare der Strafrechtler gehörten aber zu den niedrigsten der Wirtschaftsanwälte. Heute heißt es, sie würden nur von denen der Kartellrechtler getoppt.

Herr Ahlbrecht, wie kamen Sie an die ersten größeren Fälle?
Ahlbrecht: Wir gingen und gehen immer zu zweit in die Mandate. Nach einer Weile kam es dann immer häufiger vor, dass etwa ein Vorstandschef direkt bei mir angerufen hat, weil er merkte, der kann ja auch was und ist besser zu erreichen. Das war dann wie ein Ritterschlag.

Heute gehört Wessing & Partner zu den größeren Strafrechtskanzleien. Wie viele Anwälte benötigen Sie, um Ihr Geschäft erfolgreich zu machen?
Ahlbrecht: Zehn sind das unterste Limit, eher zwölf. Es gibt Mandate, da brauchen wir auf einen Schlag gleich eine ganze Reihe Anwälte.

Welche sind das?
Ahlbrecht: Bei einer großen Durchsuchung ist das Büro hier schon mal leer. Als bei einem Unternehmen einmal drei Tage lang durchsucht wurde, waren wir dort durchgängig mit acht Leuten und haben versucht, die Kontrolle zu behalten: Wo sind die Ermittler, was tun sie gerade, wo müssen wir intervenieren, weil wieder eine illegale Befragung droht? Viel Personal braucht es auch bei internen Untersuchungen. Dafür haben wir neben den Anwälten auch einen IT-Experten an Bord und nutzen E-Discovery-Programme.

Das Thema interne Untersuchungen und Compliance haben sich auch Großkanzleien auf die Fahnen geschrieben. Denen gegenüber sind Sie doch hoffnungslos im Nachteil, oder?
Wessing: Personell absolut. Die Großkanzleien können auch 20 Leute abstellen. Von denen haben dann meistens nur drei wirklich Ahnung. Das können wir auch mit unseren Anwälten, die alle Ahnung haben.

Compliance ist ein Riesen-Geschäftsfeld. Verstöße von Firmen sind trotz vieler Bemühungen aber kaum weniger geworden. Was bewirkt das neue Verbandssanktionengesetz?
Wessing: Es ist ein Compliance-Förderungsgesetz. Auch wenn der Begriff nicht vorkommt, fordert das Gesetz mit Macht Compliance ein.
Ahlbrecht: Für die Beurteilung, ob gegen ein Unternehmen eine Geldbuße verhängt wird, soll es zum einen darauf ankommen, ob zum Zeitpunkt des Tatvorwurfs Compliance-Strukturen vorhanden waren. Und zum anderen darauf, wie sich das Unternehmen danach damit auseinandersetzt.

Sie sind einer der wenigen Strafverteidiger, die sich früh für ein explizites Unternehmensstrafrecht ausgesprochen haben.
Wessing: Das ist ein bisschen schräg. Ich habe damals gesagt, dass mir ein klar definiertes Gesetz lieber ist als der real existierende Wildwuchs. Die Staatsanwaltschaften sind in verschiedenen Städten teils sehr unterschiedlich vorgegangen.

Wie sehen Sie den Gesetzentwurf?
Wessing: Unterm Strich ist es gut, dass der Gesetzgeber das Bemühen um Compliance honorieren will. Meine Probleme mit dem Gesetzentwurf liegen woanders. Ermittlungstätigkeit wird als neues Geschäftsmodell an Großkanzleien ausgelagert, Verteidigung faktisch verhindert.

Das müssen Sie erläutern.
Wessing: Es gibt den Paragrafen 41, wonach die Strafverfolgungsbehörde im Fall, dass eine Firma eine interne Untersuchung angezeigt hat, bis zu deren Abschluss von einer Verfolgung absehen kann. Das heißt: Das macht alles ein Anwalt. Die Staatsanwaltschaft ist raus.

Es heißt doch lediglich, dass die Behörde davon absehen kann. Sie muss sich das Heft des Handelns nicht aus der Hand nehmen lassen.
Ahlbrecht: Das ist richtig. Die Staatsanwaltschaften bleiben Herren des Verfahrens. Aber es wird spannend, wie sie darauf reagieren. Wenn eine Staatsanwaltschaft von einer internen Untersuchung weiß, gehört es heute dazu, diese mit der Behörde abzustimmen. Teils möchten sich Ermittler den Erstzugriff der Befragung mancher Mitarbeiter sichern.

Wessing: Es ist unendlich bequemer für den Staatsanwalt, jemand anders die Arbeit machen zu lassen, wenn dieser Jemand in seinem Sinne arbeitet. Wer weiß, dass das Deal-Unwesen im Strafrecht aus der Überlastung der Behörden entstanden ist, kann absehen, wie diese auf eine so komfortable Entlastungsmöglichkeit reagieren werden.

Steckt hinter Ihrer Kritik an dem Gesetz nicht auch die Furcht vor mehr Konkurrenz durch Großkanzleien?
Wessing: Nein. Obwohl es faktisch ein neues Geschäftsmodell für diese Kanzleien schafft, ist das nicht der Grund. Der liegt darin, dass das Gesetz in hohem Maße verteidigungsunfreundlich formuliert ist. Verteidigung ist fast nicht mehr möglich.

Was bringt Sie zu der Annahme?
Ahlbrecht: Eine Milderung der Sanktionen ist nur noch möglich, wenn das Unternehmen oder der mit der Untersuchung der Vorwürfe beauftragte Dritte „ununterbrochen und uneingeschränkt“ mit den Behörden zusammenarbeitet. Und – besonders bemerkenswert – wenn ihnen nach der Untersuchung deren Ergebnis einschließlich aller Dokumente zur Verfügung gestellt wird. Das hat weitreichende Folgen.

Welche denn?
Ahlbrecht: Unternehmen, gegen die Vorwürfe aufkommen, sind von der ersten Sekunde an gezwungen, eine Grundsatzentscheidung zu treffen: Kooperation und faktische Unterwerfung – oder Verteidigung. Alle möglichen prozessualen Schutzvorschriften kann das Unternehmen vergessen. Es muss Dokumente freiwillig herausgeben, wenn eine Milderung der Strafen angestrebt wird. Aber vielleicht irrt ja die Staatsanwaltschaft mit ihren Vorwürfen.
Also taugt das Gesetz nichts?
Wessing: Die Schwächen des Gesetzes überwiegen die Stärken deutlich.

Entzieht es den Strafverteidigern die Grundlage ihrer Arbeit?
Wessing: Das macht es in weiten Teilen, zumindest wenn es um Unternehmensverteidigung geht. Welcher Vorstand wagt noch, zu seinem Aufsichtsrat zu gehen und zu sagen: „Wir ziehen das durch und verteidigen die Sache“, wenn parallel klar ist, dass die Buße nur halb so hoch ausfällt, wenn das Unternehmen gleich die Hosen runterlässt? Und das zu einem Zeitpunkt, wo man noch gar nicht weiß, ob es Verstöße gab und welches Ausmaß sie haben. Der Rat des Aufsichtsrats wird doch sein: Wenn du nicht haftbar sein willst, dann hole die Staatsanwaltschaft oder eine Hilfsperson zur Untersuchung dazu.

Was bedeutet das praktisch?
Ahlbrecht: Der Gesetzentwurf fördert eine Amerikanisierung des Verfahrens. In den USA stehen die Anwälte dem vertretenen Unternehmen nicht so nahe. Sie werden zwar formal von diesem beauftragt und bezahlt. Aber praktisch besteht ein mindestens so enges Verhältnis zur Ermittlungsbehörde.

Wessing: Es gibt den schönen Spruch: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“ Die der Staatsanwaltschaft zuarbeitenden Anwälte werden schon von ihrer Grundhaltung her näher bei der Behörde sein. Die Kanzlei ist regelmäßig in Verfahren dabei, das Unternehmen – hoffentlich – bloß einmal. Wer weiter Aufträge bekommen möchte, muss in höchstem Maße kompatibel zur Staatsanwaltschaft sein.

Aber die Staatsanwaltschaft sucht doch nicht die Kanzlei aus.
Ahlbrecht: Wenn die Staatsanwaltschaft Ihnen mitteilt: „Denken Sie doch mal darüber nach, anstelle von Kanzlei X eventuell die Sozietät Y oder Z zu wählen“ – was geht dann in Ihnen vor?

Wessing: Ich habe schon erlebt, dass ein Staatsanwalt zu einem Geschäftsführer gesagt hat: „Mit dem mache ich das nicht.“ Entscheidender ist aber die Grundhaltung. Die auch für die Staatsanwaltschaft arbeitenden Anwälte müssen sich deren Mentalität aneignen und stärker das Belastende suchen. Ich kann nicht gleichzeitig Jäger und Beschützer sein.

Gibt es weitere Kritikpunkte?
Wessing: Es gibt noch ein besonderes Schmankerl, wenn es darum geht, was bei der Bemessung der Strafe alles eine Rolle spielen soll. Dort ist ein individuelles Schuldmoment vorgesehen. Die Höhe der Buße wird am Versagen des Einzelnen festgemacht und nicht an dem des Unternehmens. Das ist ein Systembruch.

Ahlbrecht: Der Entwurf sieht vor, dass es nur dann zu einer Milderung der Buße kommt, wenn alle Milderungsvoraussetzungen vorliegen. Und dass die Milderung der Buße etwa entfällt, wenn Verteidigung und Untersuchung in einer Hand liegen. Wenn dies gestrichen würde, wäre viel gewonnen. Das erscheint utopisch. Der Gesetzentwurf hält daran fest, obwohl darüber schon viel diskutiert worden ist.

Rupert Stadler, Wolfgang Hatz, Ulf Johannemann sind Beschuldigte, die in Wirtschaftsverfahren in Untersuchungshaft kamen. Nutzen Ermittler die Haft als strategisches Mittel?
Wessing: Eine Untersuchungshaft ist kein legitimes Mittel, um Geständnisse zu erpressen. Sie dient einzig dazu, dafür zu sorgen, dass sich ein Beschuldigter dem Verfahren nicht entzieht oder Beweismittel beiseiteschafft. Dafür muss es klare Anhaltspunkte geben. Die Gefahr, dass es passiert, muss bei über 50 Prozent liegen. In Wirtschaftsverfahren habe ich das in meiner Zeit nicht erlebt.

Anwälte machten „Cum-Ex“ durch Gutachten erst möglich, der Ex-Steuerchef von Freshfields ist angeklagt. Was bedeutet das für die Branche?
Ahlbrecht: Es zeigt in jedem Fall auf, dass man sich mit dem Sachverhalt, den man begutachtet, komplett vertraut machen muss. Nur wenn ich den Sachverhalt exakt kenne, kann ich guten Gewissens ein Gutachten erstellen. Dem Mandanten muss der Anwalt deutlich machen, dass er davon ausgeht, dass er den kompletten Sachverhalt vorliegen hat.

Wessing: Wenn man auf einem schmalen Grat unterwegs ist, muss man dem Mandanten sehr viel deutlicher das Risiko benennen. Cum-Ex macht deutlich: Ich muss mir als Anwalt, als Kanzlei auch stets die Frage „Will ich das?“ stellen. Man muss nicht nur den Kopf einschalten, sondern auch auf sein Bauchgefühl hören.
Herr Wessing, Herr Ahlbrecht, vielen Dank für das Interview.

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