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Der Staat greift im Kampf gegen Corona nach immer mehr Macht

In der Coronakrise werden Bürgerrechte eingeschränkt. Die Bedenken gegen die weiteren Befugnisse nehmen zu – und reichen bis in die Koalition hinein.

Ein Großteil der Deutschen befürwortet das Versammlungsverbot. Foto: dpa
Ein Großteil der Deutschen befürwortet das Versammlungsverbot. Foto: dpa

Der Staat lässt seine Muskeln spielen: Sieben Gesetzesreformen hat die Regierung im Kampf gegen die Coronakrise auf den Weg gebracht. Noch diese Woche sollen sie von Bundestag und Bundesrat beschlossen werden.

Mit ihrem Schaffensdrang versucht die Politik, den Bürgern die Angst vor den Auswirkungen der Pandemie zu nehmen. Das soziale Netz soll ausgebaut, Firmen sollen aufgefangen werden – und das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates soll gestärkt werden.

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Doch die Machtdemonstration der Regierung ruft neue Sorgen hervor. Im Eilverfahren werden hart erkämpfte Freiheiten infrage gestellt und rechtsstaatliche Tabus gebrochen. Dem Versuch, die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen und die Kurve der Neuinfektionen nach unten zu stemmen, wird alles andere untergeordnet. Kann das gut gehen?

Umfragen legen nahe, dass sich die Bevölkerung momentan einen starken Staat als Retter in der Not wünscht. So finden beispielsweise 95 Prozent der Deutschen das Versammlungsverbot zur Corona-Prävention richtig, wie der „Deutschlandtrend“ der ARD zeigt. Obwohl teils hohe Strafen drohen. Nordrhein-Westfalen etwa will Verstöße im Wiederholungsfall mit bis zu 25.000 Euro ahnden.

Doch die Bedenken gegen die Eingriffe in Freiheitsrechte nehmen zu, und sie reichen bis in die Große Koalition hinein. SPD-Chefin Saskia Esken forderte, die Corona-Maßnahmen auf ein „absolutes Minimum“ zu befristen. „Keinesfalls darf die Bewältigung der Coronakrise zu bleibenden Grundrechtseinschränkungen führen“, sagte Esken dem Handelsblatt.

Nicht alle Grundrechtseingriffe sind zu tolerieren

Das gelte auch und gerade für die von den Ländern in Abstimmung mit der Bundesregierung beschlossenen Beschränkungen von Bewegung und sozialen Kontakten für alle Bürgerinnen und Bürger. Esken mahnte, bei aller „Eilfertigkeit“, in der jetzt Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht werden, müsse „jedes einzelne Element des Schutzschirms“ genau überprüft werden.

Auch Juristen mahnen zur Wachsamkeit. „Die Vorstellung, nur der entschieden durchgreifende Zentralstaat vermöge effektiven Schutz der Bevölkerung zu gewährleisten, wird durch die Realität nicht bestätigt“, warnte der Leipziger Staatsrechtler Christoph Degenhart. Die Bedenken werden in Grundzügen sogar von einigen Regierungsvertretern der Länder geteilt.

„Um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, müssen wir entschlossen, schnell und konsequent handeln“, sagte der Hamburger Justizsenator Till Steffen von den Grünen. „Dabei müssen wir aber immer das richtige Maß finden.“

Noch deutlicher wird der rheinland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin (FDP): „Keinesfalls darf die derzeitige Situation dazu genutzt werden, dauerhaft erhebliche Grundrechtseingriffe zu ermöglichen, so wie es etwa Gesundheitsminister Jens Spahn mit der geplanten Nutzung von Handydaten versucht hat.“

Spahns „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ ist ein Beispiel für eine übersteuernde Exekutive in Krisenzeiten. Aber es ist auch ein Beispiel dafür, dass Kontrollmechanismen in der Demokratie weiterhin funktionieren.

Gegen den Flickenteppich

Der Ansatz des Ministers, das Infektionsschutzgesetz zu überarbeiten, ist alles andere als falsch. Die Coronakrise hat gezeigt, dass die Zuständigkeit der Länder bei der Seuchenbekämpfung nicht gerade hilfreich ist. Ob Schulschließungen, das Verbot von Großveranstaltungen oder Ausgangssperren – ein abgestimmtes Vorgehen war selten zu sehen.

Immer wieder preschten einzelne Landesregierungen vor. Viele der Kompetenzen, die in den vergangenen Wochen den Eindruck eines föderalen Flickenteppichs entstehen ließen, sollen auch weiterhin bei den Ländern bleiben.

Spahn schafft aber zusätzliche Eingriffsrechte für den Bund, vor allem um im Krisenfall die medizinische Versorgung sicherzustellen, aber auch um einheitliche Regeln beim grenzüberschreitenden Reiseverkehr zu erlassen. „Wir sorgen dafür, dass wir schneller in epidemischen Lagen reagieren können“, versprach der CDU-Politiker.

Doch die Formulierungshilfe für das Gesetz, die Spahn vorlegte, ließ Verfassungsexperten aufschrecken. Besorgt nahmen sie zur Kenntnis, dass ein Bundesministerium ermächtigt werden soll, per Verwaltungsakt in eine Reihe von Grundrechten einzugreifen.

„Nach erster Durchsicht erscheint unwahrscheinlich, dass der Entwurf sich als verfassungskonform erweist“, steht in einem internen Vermerk, der Anfang der Woche in mehreren Landesregierungen zirkulierte.

Wann eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ vorliegt, sollte nach den ursprünglichen Plänen allein die Bundesregierung entscheiden. Ohne klare Befristung und auf Grundlage einer diffusen Formulierung. Demnach reicht es, wenn „die dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit über mehrere Länder in der Bundesrepublik Deutschland droht“.

Unter diesen Wortlaut könnte im Zweifel auch die jährliche Grippewelle fallen, merkten Spahns Kritiker an. Mehrere Landesjustizminister gingen auf die Barrikaden. FDP-Parteichef Christian Lindner verlangt größere Mitspracherechte für den Bundestag. Und Grünen-Chefin Annalena Baerbock kritisierte: „Dieses Gesetz sieht sehr weitgehende Neuregelungen und Eingriffe vor, die jetzt mit heißer Nadel gestrickt wurden.“

Abstand von Vorstößen

Spahn besserte nach. Nun soll nur der Bundestag den Epidemie-Notstand ausrufen können, der zudem auf ein Jahr befristet ist. Das Parlament kann den Notstand jederzeit früher aufheben. Mit der Verabschiedung im Bundestag am Mittwoch gelten die Neuregelungen dann sofort für die Corona-Pandemie, höchstens bis zum 31. März 2021.

Spahn erklärte: „Direkt nach der Krise werden wir dem Bundestag einen umfassenden Bericht vorlegen, was gesetzlich und organisatorisch dauerhaft für künftige Krisen dieser Art geändert werden muss.“ Vorerst hat sein Ministerium aber weitreichende Befugnisse, etwa wenn es darum geht, Güter zu beschlagnahmen, in Produktionsprozesse von Unternehmen einzugreifen oder medizinisches Personal zwangsweise zu versetzen.

Abstand nehmen musste Spahn ebenfalls von seinem Vorhaben, per Handyortung Kontaktpersonen von Infizierten ausfindig zu machen. Mobilfunkanbieter sollten dazu Bewegungsprofile vorhalten müssen. Doch auch am überarbeiteten Gesetzentwurf gibt es Kritik.

Der Bundesbeauftragte für Datenschutz, Ulrich Kelber, sieht weiter „erhebliche Eingriffe in Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger“. Es sei „zweifelhaft, ob diese in jeder Hinsicht erforderlich und damit verhältnismäßig sind“, heißt es in einer Stellungnahme Kelbers.

Der Hamburger Datenschützer Johannes Caspar schlägt Alarm: „Die Corona-Pandemie stellt eine historische Zäsur in rechtsstaatlicher Hinsicht dar“, sagte Caspar dem Handelsblatt. „Die scheinbare Überlegenheit machtstaatlicher Lösungen in autoritären Staaten darf in diesem Zusammenhang nicht zu falschen Schlüssen verleiten.“ Die Orientierung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei auch in der Ausnahmesituation im Rechtsstaat zentral. „Abweichungen hiervon darf es nicht gegeben, sonst droht ein Abgleiten in autoritäre Strukturen.“

Die Regierung rechtfertigt sich: Deutschland sei „in bisher nie gekannter Weise“ gefordert, auch „mit Blick auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“, sagte Innenstaatssekretär Stephan Mayer (CSU) dem Handelsblatt. „Kern unseres Bestrebens ist es, die Verlangsamung des Infektionsgeschehens zu erreichen, damit unser Gesundheitssystem diesen außerordentlichen Stresstest bestehen kann.“

Natürlich bedeuteten die aktuellen Beschränkungen „gravierende Einschnitte in die persönlichen Freizügigkeits- und Versammlungsrechte“. Diese Restriktionen seien „verhältnismäßig“ und „zeitlich limitiert“.

Der CDU-Innenpolitiker Armin Schuster sagt: „Die dramatische Lage in Ländern wie Italien oder Spanien zeigt, dass wir keine große Wahl haben.“ Es gehe darum, „in einem kurzen begrenzten Zeitraum durch – zugegeben intensive – Eingriffe in Freiheitsrechte der Bürger Leben zu retten“.

Doch die Kritik reißt nicht ab. „Wir bewegen uns bei all den bisherigen Maßnahmen der Bundes- und der Landesregierungen an der Grenze zur Unverhältnismäßigkeit und damit Verfassungswidrigkeit“, sagte FDP-Vize Wolfgang Kubicki dem Handelsblatt. Der Vizechef der Grünen-Bundestagsfraktion, Konstantin von Notz, fordert, den „Ausnahmecharakter weitreichender Grundrechtseinschränkungen“ deutlich zu machen.