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Stößt das Wachstum an Grenzen? „Niemand kann sagen, was uns Industrie 4.0 wirklich bringt“

Die Digitalisierung wird nicht genug Wachstum bringen, um die aktuellen Sozialausgaben zu finanzieren, warnt der Forscher – und plädiert für neue Steuern.

Reiner Klingholz ist seit 2003 Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, einer Denkfabrik für Fragen des internationalen demografischen Wandels. Er rechnet mit einem Ende des Wirtschaftswachstums – trotz Digitalisierung. Ohne Wachstum lasse sich aber weder die derzeitigen Sozialsysteme finanzieren, noch aufgenommene Schulden bedienen, sagt er. Eine Schlussfolgerung: Der Staat brauche neue Geldquellen.

Herr Klingholz, warum sollte den Industrieländern das Wachstum ausgehen, wie sie sagen?
Langfristig gibt es einen klaren Trend: Das Wachstum der Industrieländer geht in den vergangenen Jahrzehnten treppenstufenartig runter. Die Ausschläge nach unten werden größer, die Ausschläge nach oben kleiner.

Woran liegt das?
Dahinter stehen keine konjunkturellen Schwankungen, sondern ein struktureller Wandel. Ein Faktor ist die demografische Entwicklung. Wachstum ist gekoppelt an Bevölkerungswachstum und das neigt sich dem Ende zu. Zudem geht der Anteil der Erwerbsbevölkerung an der Gesamtbevölkerung zurück. Zweitens gibt es nur noch geringe Produktivitätsfortschritte. Dampfmaschine, Elektrizität, Verbrennungsmotor und Halbleiter, die großen Erfindungen der Vergangenheit, haben hohes Wachstum ermöglicht. So etwas haben wir in den vergangenen Jahrzehnten nicht mehr erlebt. Als der Mähdrescher den Bauern mit der Sense ersetzt hat, brachte das deutlich größere Produktivitätsfortschritte als wenn heute ein langsamer Roboter gegen einen schnellen ausgetauscht wird.

Die Digitalisierung sorgt nicht für eine höhere Produktivität?
Zumindest lässt sich keine beobachten. Bis in die 2000er Jahre gab es einen Anstieg, seitdem sind die Gewinne bescheiden. Der deutsche Maschinenbau etwa vermeldet kaum noch Produktivitätszuwächse. Es gibt ein berühmtes Zitat von Nobelpreisträger Robert Solow: Man sieht den Computer überall, nur nicht in der Produktivitätsstatistik.

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Überschätzen wir also die Digitalisierung?
Ich fürchte ja. Es gibt sicher Erfindungen, die das Leben schneller machen, aber kein Mensch kann sagen, was uns Industrie 4.0 wirklich bringt. Zudem lenkt uns die Digitalisierung auch ständig ab, denken Sie an WhatsApp. Das stiehlt arbeitenden Menschen nicht nur Zeit, sondern auch Konzentration. Studien zeigen, dass man 20 bis 30 Minuten braucht, um im Arbeitsprozess wieder voll drin zu sein, nachdem man abgelenkt war.

Wie sollen Unternehmen ohne Wachstum überleben?
Der Bäcker um die Ecke braucht kein Wachstum. Aber ein deutsches Maschinenbau-Unternehmen kann unter den bestehenden Bedingungen nicht ohne Wachstum auskommen, es braucht Geld für Investitionen, um im Wettbewerb bestehen zu können. Vor allem Aktiengesellschaften stehen unter hohem Wachstumszwang. In Zukunft dürften es Stiftungs- oder Genossenschaftsunternehmen leichter haben, weil sie nicht unter der Aufsicht nervöser Aktionäre stehen.

Viele Länder versuchen, über höhere Staatsschulden für mehr Wachstum zu sorgen. Ist das vergebene Lebensmüh?
Das ist das klassische Konzept der Konjunktur- und Geldpolitik – mehr Staatsausgaben, Konjunkturprogramme, Zinsen runter. Wenn das klappt, kehrt das Wachstum zurück und man kann seine Schulden zurückzahlen. Das Ganze funktioniert aber nur in Konjunkturzyklen und nicht im strukturellen Wandel. Italien oder Japan werden ihre enormen Staatschulden nie durch Wachstum tilgen können. Das hat die Politik noch nicht verinnerlicht.

Die Politik verdrängt das Thema?
Ja. Wir haben einen Systemfehler, und keiner wagt sich da ran. Keiner sagt: Lass uns mal über weniger Wachstum reden. Das wäre zwar aus ökologischen Gründen sinnvoll, ist aber hier nicht das Thema. Wir müssen über weniger Wachstum reden, weil es schlicht und einfach so stattfindet. Dass die Politik das Problem verdrängt, ist nachvollziehbar. Denn unser Sozialsystem heutiger Prägung und unsere Schuldenpolitik lassen sich ohne Wachstum nicht finanzieren.

Kann ein bedingungsloses Grundeinkommen eine Lösung für die Dauer-Wachstumsschwäche sein?
Nein, ein Grundeinkommen entmündigt die Schwachen und spaltet die Gesellschaft in Produktive und Empfänger. Mit einem Grundeinkommen geht jedes Steuerungsinstrument der Sozialpolitik verloren. Alle anderen Leistungen fielen ja weg, vom Bafög über das Elterngeld bis hin zu Weiterbildungsprogrammen für Arbeitslose. Das Grundeinkommen ist ein ultraliberaler Ansatz, der Menschen, die wirklich Unterstützung brauchen, ins Verderben stürzt.

Wie sollte die Politik also reagieren?
Wir müssen für sozialen Ausgleich sorgen, über Umverteilung reden, uns fragen, wo kriegt der Staat sein Geld her? Wir brauchen neue Steuerquellen, etwa eine Maschinensteuer, wir müssen Vermögen stärker besteuern, Dividenden, Kapitalgewinne. Und wir müssen unsere Anstrengungen dahin lenken, wo Wachstum wünschenswert ist, in den Energie- und Umweltbereich etwa. Es geht nicht um 100 PS mehr unter der Motorhaube, sondern um eine umweltfreundliche Mobilität. Wir müssen überkommene „Zombie-Unternehmen“ loswerden und deren kreative Zerstörung zulassen.

Was passiert, wenn die Politik nicht umsteuert?
Die Politik schürt falsche Erwartungen: Das mit dem Wachstum kriegen wir hin. Die Menschen spüren aber, dass sich schleichend etwas verändert und finden keine Antwort auf ihre Fragen. Sie wenden sich denen zu, die einfache Antworten geben. Der Verfall der Demokratien in entwickelten Staaten und der Aufschwung der Populisten hängt mit dem strukturellen Wachstumsrückgang zusammen. Wir wissen nicht, ob Demokratien bestehen können, wenn die Bedingungen ihres Entstehens verloren gehen.

Herr Klingholz, danke für das Gespräch.