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Soziale Start-ups vereinen Geschäft und Moral

Sozialunternehmer werden oft als Romantiker abgetan. Dabei helfen ihre innovativen Geschäftsideen nicht nur Menschen, sondern können auch viele Milliarden einsparen.

Rund 70.000 Frauen in Deutschland erhalten jedes Jahr die Diagnose Brustkrebs. Bei vielen wird er zu spät entdeckt. Dem Duisburger Frauenarzt Frank Hoffmann ließ das keine Ruhe. Er kam auf eine geniale Idee. „Blinde haben einen extrem trainierten Tastsinn“, beobachtete er. Diesen macht er sich zunutze. Mit seinem Sozialunternehmen Discovering Hands bildet er seit 2011 blinde Frauen in neun Monaten zu „Medizinisch-Taktilen Untersucherinnen“ weiter. So können sie auch kleinste Tumore in der Brust ertasten – nachweislich früher als Ärzte.

Das hilft doppelt: Die blinden Frauen haben eine wichtige Arbeit und Kontakt. Zugleich retten sie Leben und entlasten das Gesundheitssystem. Mehr als 20 Krankenkassen erstatten bereits die Kosten für die Untersuchung von Tasterinnen, die das gemeinnützige Sozialunternehmen Discovering Hands ausbildet.

Die bundesweite Einführung der Brustkrebsfrüherkennung nach diesem Modell würde nicht nur viele Leben retten. 80 bis 160 Millionen Euro ließen sich so im Jahr einsparen, weil Behandlungs- und Folgekosten sinken, hat die Beratung McKinsey errechnet.

Discovering Hands ist kein Einzelfall. „Das Potenzial von Sozialunternehmen ist gewaltig“, konstatiert McKinsey-Partner Matthias Daub. Allein in Deutschland gibt es schätzungsweise mehr als 1.700 Sozialunternehmer, die mit ihren Geschäftsideen helfen, das gesellschaftliche System zu verbessern. Bei diesen Gründern steht der soziale Profit im Vordergrund, weniger oder gar nicht der finanzielle.

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Würden die Lösungen der deutschen Sozialunternehmen systematisch genutzt und besser in bestehende Systeme integriert, ergäbe sich ein wirtschaftlicher Nutzen mit Milliardenpotenzial. Zu diesem Schluss kommen Ashoka Deutschland und McKinsey in ihrer aktuellen Studie. Ashoka ist die weltweit führende gemeinnützige Organisation zur Förderung von Sozialunternehmern. Sie wurde 1980 in den USA gegründet und ist heute in 90 Ländern aktiv.

Sozialunternehmen mit Historie

In Deutschland gibt es eine lange Tradition von Sozialunternehmern. Friedrich Wilhelm Raiffeisen etwa hat im 19. Jahrhundert die Genossenschaftsbewegung mitinitiiert. Die Raiffeisenorganisation gründete er für arme Bauern, damit sie gemeinsam günstiger einkaufen konnten. Mit dem „grünen Kredit“ konnten sie Saatgut und Dünger mit der späteren Ernte bezahlen.

Unternehmer Ernst Abbe, Inhaber der Carl-Zeiss-Werke in Jena, betrachtete den Unternehmergewinn als „öffentliches Gut“. Dieser habe „dem Gemeinwohl zu dienen“. Er führte den Acht-Stunden-Tag bei den Arbeitern ein und überführte das Optik-Unternehmen 1896 in eine Stiftung.

Neuen Schwung bekam das Sozialunternehmertum durch Muhammed Yunus. Mit seiner Grameen Bank in Bangladesch entwickelte er Mikrokredite für Mittellose, die sich so eine Existenz aufbauen konnten. 2006 wurde Yunus mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Eine Brille für alle

Auch der Erlanger Lehrer Martin Aufmuth versucht, die Welt mit seiner Geschäftsidee etwas besser zu machen. Mit seinem sozialen Start-up One-Dollar-Glasses hat er eine Brille entwickelt, die sich für einen Dollar überall bauen lässt. „Weltweit haben eine Dreiviertelmilliarde Menschen keinen Zugang zu augenärztlicher Versorgung oder sie können sich keine Brille leisten“, erzählt Aufmuth.

Rund 200 Milliarden Dollar Einkommen gehen im Jahr laut Weltgesundheitsorganisation WHO alleine durch nicht korrigierte Kurzsichtigkeit verloren. Denn viele Menschen mit Sehschwäche können ohne Brille nicht lernen oder für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen.

Die Ein-Dollar-Brille soll nicht nur Fehlsichtigen ein besseres Leben ermöglichen, sie soll auch Arbeitsplätze schaffen. Deshalb bilden Aufmuth und sein Team in armen Ländern Einheimische zu Brillenmachern aus. Diese messen die Sehstärke, bauen die Brillen und verkaufen diese vor Ort – sei es in der afrikanischen Steppe, im Urwald oder in den städtischen Slums. „Wir bringen auch Obdachlose und Menschen aus den Favelas, die sonst keine Perspektive hätten, in Lohn und Brot“, sagt Aufmuth.

Trotz ihrer guten Ideen haben es Sozialunternehmer nicht leicht: Häufig würden sie als „sozialromantische Spinner“ abgetan und gar nicht erst angehört, beklagt Odin Mühlenbein von Ashoka, der selbst zwei Sozialunternehmen mitgegründet hat. Dabei könnten ihre Ideen die Gesellschaft lebenswerter machen und allein in Deutschland jedes Jahr viele Milliarden Euro sparen.

Das Problem: „In Deutschland wird Innovation vor allem als technische Neuerung verstanden, aber es gibt eben auch soziale Innovationen“, so Mühlenbein. Hierzulande galten soziale Start-ups lange als die „Schmuddelkinder der Gründerszene“, hat auch Martina Köchling, Leiterin verantwortliches Unternehmertum bei der KfW-Stiftung beobachtet. Aber warum sollte uns eine neue Shopping-App mehr bringen als eine neue Art, blinde Frauen in der Brustkrebsvorsorge einzusetzen, fragt Ashoka-Experte Mühlenbein.

Immer mehr soziale Start-ups nutzen inzwischen längst moderne Software für gesellschaftliche Verbesserungen. Apeiros aus Wuppertal etwa unterstützt Lehrer und Jugendämter dabei, Schulverweigerer früh zu erkennen und ihnen Hilfe zukommen zu lassen. Jährlich entstehen hohe Kosten, um extreme Schulverweigerer zu betreuen. Apeiros, 2005 gegründet von Stefan Schwall, hat heute 90 Mitarbeiter.

Mit der kostenlosen digitalen Lernplattform von Serlo Education etwa können Lehrer ihren Unterricht besser auf die individuellen Bedürfnisse ihrer Schüler ausrichten. Schüler können in eigenem Tempo lernen, brauchen weniger Nachhilfe und haben bessere Berufsperspektiven. Die Idee stammt von Gründer Simon Kohl aus München.

Inzwischen gibt es neben Ashoka einige Organisationen, die gezielt soziale Gründer unterstützen etwa die Social Impact Labs. Die Förderung von Sozialunternehmertum steht auch im Koalitionsvertrags. Doch die Förderkultur sei weiter zu starr, moniert Ashoka. Social Entrepreneurship ist ein Hybrid klassischer Start-ups und gemeinnütziger Organisationen. Öffentliche Finanzierungsinstrumente fokussierten sich aber meist auf eine der beiden Möglichkeiten, kritisiert das Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland.

Längst nicht allem Sozialunternehmen gelingt es, ihre Geschäftsideen zu skalieren. Zumal sich die Wachstumsstrategien von denen profitorientierter Start-ups unterscheiden. Wenn Sozialunternehmen groß werden, erreichen sie vielleicht mehr Menschen. „Aber das ändert noch kein Gesetz, die Leistungskataloge von Krankenkassen oder die Inhalte der Lehrerausbildung“, gibt Mühlenbein zu bedenken. „Sozialunternehmer können ein Innovationsmotor unserer Gesellschaft sein“, betont Ashoka. Doch dazu brauchen sie mehr Unterstützung – politische wie finanzielle.