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Das Soli-Syndrom

Zum Jahreswechsel wird der Solidaritätszuschlag abgeschafft, jedenfalls für die allermeisten Bürger. Ein Feiertag? Eine große Reformtat? Nun ja.

Mit Ende des Jahres 2020 ist auch der ungeliebt Solidaritätszuschlag Geschichte - zumindest für 90 Prozent der Steuerzahler. Foto: dpa
Mit Ende des Jahres 2020 ist auch der ungeliebt Solidaritätszuschlag Geschichte - zumindest für 90 Prozent der Steuerzahler. Foto: dpa

Sagt Ihnen der Name Matthias Erzberger etwas? Wenn nicht, müssen Sie sich dafür nicht schämen. Der Zentrumspolitiker und Finanzminister der Weimarer Republik schuf zwar 1919/1920 für die junge Demokratie eine grundlegende Steuerverfassung auf den Ruinen des untergegangenen Kaiserreiches, die bis heute als epochale Leistung gilt. Doch den Großreformer – 1921 einem Attentat zum Opfer gefallen – kennen die wenigsten, sofern sie sich nicht gerade mit Steuerpolitik oder Fiskalgeschichte befassen.

Schade eigentlich.

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Eine Bundesregierung mit steuerpolitischen Ambitionen hätte keinen besseren Fixpunkt finden können als den 100. Jahrestag der Erzbergerschen Reformen. Aber wir haben nun einmal keine Regierung mit steuerpolitischen Ambitionen. Und der Fairness halber sei gesagt: Wir hatten lange keine mehr. Alles, was wir haben, ist ein pflichtschuldig erinnernder Matthias-Erzberger-Saal im Bundesfinanzministerium.

Aber halt! Wenn in der Neujahrsnacht hier und dort ein paar traurige Raketen in den Himmel steigen, ab und an ein Böller wummert, wird doch auch der Soli Geschichte sein, jedenfalls für mehr als 90 Prozent der Steuerzahler. Zusammen mit einigen anderen Anpassungen, etwa bei den Steuerfreibeträgen oder dem Kindergeld, wird es für viele Deutsche im neuen Jahr endlich einmal wieder spürbare Entlastungen geben. Mehr netto vom brutto - ist das denn nichts?

Nun, nicht so viel. Die Teilabschaffung des ewig-umstrittenen Solidaritätszuschlags steht drei Jahrzehnte nach der Deutschen Einheit in einem historischen Licht, das schon, aber sie steht eben nicht für Reformehrgeiz – sondern markiert eher dessen Gegenteil. Den Zeitläuften wurde sie mühsam abgerungen, Widerständen abgetrotzt; dem einen geht sie nicht weit genug, den anderen schon zu weit. Das Ende des Soli, es klingt nicht wie ein letzter Tusch, eher nach Platzpatronen.

Nennen wir es das Soli-Syndrom: Inmitten von paragrafen-eifriger fiskalischer Kleinklein-Stellschrauberei ist der deutschen Politik jedweder Wille, jeder Ehrgeiz für eine Steuerreform verloren gegangen, die den Zusatz „große“ verdiente. Es war - hört, hört! - die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder, die sich als vorerst letzte rühmen darf, eine solche hinbekommen zu haben. Bald zwei Jahrzehnte ist das nun schon wieder her.

Die ungeschriebene Geschichte angekündigter Steuerreformen ist gepflastert mit großen Namen, Anekdoten und gescheiterten Konzepten. Mit dem von Friedrich Merz zum Beispiel. Hermann Otto Solms. Paul Kirchhof. Bierdeckel. 14, 25 und 35 Prozent. Der „Professor aus Heidelberg“. Ja, schade eigentlich.

Und nur wenig deutet darauf hin, dass sich daran etwas ändern könnte. Die SPD liebäugelt schon wieder mit der schlechten, alten Vermögensteuer. Sogar der Lastenausgleich der Nachkriegszeit feiert in der Corona-Ära eine kommunikative Wiederauferstehung. In der Union rütteln vielleicht gerade ein paar Mutige am Dogma, keine Steuern für Niemanden zu erhöhen, weil sie verstanden haben, dass das nichts anderem gleicht als einer politischen Selbstfesselung – doch ob sie damit durchdringen können? Denn nicht einmal bei der Erbschaftsteuer gibt es nennenswerte Bewegung, obwohl seit Jahren ein beachtenswertes Konzept der Wirtschaftsweisen vorliegt - und der Status quo niemanden wirklich glücklich machen kann.

Die Realität ist solange diese: Steuerpolitik wird entweder zuerst in Karlsruhe gemacht, wenn die Richter am Bundesverfassungsgericht urteilen. Oder in Berlin hingedäumelt und zusammengeschustert. Die Bundesregierung hatte in diesem zu Ende gehenden, in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Krisenjahr zum Beispiel mehr als 20 Milliarden übrig, um für ein paar Monate die Mehrwertsteuer zu senken. Selten zuvor dürfte derart viel Geld so wirkungsarm verpufft sein. Gleichzeitig rühmte sich übrigens SPD-Finanzminister Olaf Scholz gerade erst für mehr als sechs Milliarden an ausgeschüttetem Baukindergeld; eine ebenfalls mehr als zweifelhafte Linke-Tasche-rechte-Tasche-Subvention für die Mittelschicht, die sich ursprünglich mal die Konkurrenz von der Union ausgedacht hatte. Eigenartige Zeiten.

Aber was soll‘s?! Es geht leider schon lange nicht mehr darum, ein kompliziertes System ein wenig schlanker, zugänglicher, klarer und, ja, vielleicht auch etwas weniger belastend zu gestalten. Sondern leider in erster Linie darum, politische Handlungsfähigkeit mit immer neuen Programmen und Initiativen beweisen zu können. Vielleicht auch nur: simulieren zu wollen.

Dabei wird es in Zukunft auf eine ebenso kluge wie breit getragene Steuerpolitik mehr denn je ankommen. Denn die Sozialversicherungen werden in zunehmendem Maße aus Haushaltsmitteln gestützt: die Rente mittlerweile mit rund hundert Milliarden jährlich, die Grundsicherung hängt daran, das Gesundheitssystem, die Pflege. Wenn die Obergrenze von 40 Prozent bei den Sozialabgaben tatsächlich Bestand haben soll, wird sich die Finanzierung der sozialen Absicherung immer stärker aus Steuern speisen müssen. Man kann das wollen, sogar anstreben (etwa deshalb, weil das Steuerrecht keine Beitragsbemessungsgrenze kennt). Aber es verändert Statik, Logik und Wesen dessen, was wir Sozialstaat nennen.

Das sollte man wissen. Und darüber diskutieren. Die politische Eleganz einer Steuerreform könnte schließlich auch darin liegen, den Bürgern endlich wieder verständlicher zu machen, dass sie mit ihrer Steuerpflicht keinem Raubrittertum erliegen, sondern als Bürger einen „Preis der Freiheit“ (Paul Kirchhof) bezahlen. Und darüber neu nachdenken, ob es diesen Preis wert ist. Dieser Gedanke droht im Zeitalter der steuerpolitischen Ambitionslosigkeit und Debattenarmut ganz zu verschütten.

Sehr schade, nicht nur eigentlich.

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