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So schaffte es Deutschland, in kurzer Zeit unabhängig von Putins Gas zu werden – und das ist der hohe Preis dafür

Bau der Pipeline vom Wilhelmshavener LNG-Terminal in das Leitungsnetz. - Copyright: Picture Alliance
Bau der Pipeline vom Wilhelmshavener LNG-Terminal in das Leitungsnetz. - Copyright: Picture Alliance

Am Morgen des 24. Februar 2022 blickt Deutschland in einen Abgrund, kalt und düster. Mit Russlands Überfall auf die Ukraine ist Deutschlands Energiepolitik gegenüber Russland krachend gescheitert. Politisch-moralisch ist das schamvoll. Denn an Warnungen aus den USA, Polen und der Ukraine hatte es nicht gefehlt. Doch auch praktisch steht Deutschland vor einer Katastrophe. Es droht ein Gasnotstand.

Bis zuletzt hatten deutsche Politiker sogar noch versucht, die seit Monaten fertiggestellte Ostseepipeline Nord Stream 2 zu retten. Durch die Unterwasserröhren sollte noch mehr Gas aus Russland gen Westen fließen. Erst am Tag vor Russlands Angriff hatte die Bundesregierung Nord Stream 2 gestoppt

Nun präsentieren die Fachleute in Ministerien und Behörden die kalten Fakten: Zu Beginn des Krieges bezieht Deutschland mehr als 50 Prozent seines Gases aus Russland. Im Jahr 2021 waren das rund 860 Terawattstunden. Deutschland zahlte für Öl und Gas fast 20 Milliarden Euro an Russland.

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Sofort türmen sich die Fragen so hoch auf, dass sie einen großen, dunklen Schatten werfen. Soll Deutschland überhaupt noch Gas beim Kriegstreiber Russland kaufen? Wird Russland uns von sich aus den Gashahn zudrehen? Kann Deutschland russisches Gas ersetzen, und wenn ja: wie schnell – und wodurch? Kommen wir durch den nächsten Winter? Und wenn nicht: Welche Folgen hat das?

Schritt 1: Debatte über ein deutsches Embargo gegen russisches Gas

Als einer der ersten Politiker fordert CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen Anfang März den sofortigen Verzicht auf russisches Gas. Deutschland müsse alles tun, um der Ukraine zur Seite zu stehen. All jenen, die ähnlich denken, gibt Alt-Bundespräsident Joachim Gauck eine Stimme: „Wir können auch einmal frieren für die Freiheit. Und wir können auch einmal ein paar Jahre ertragen, dass wir weniger an Lebensglück und Lebensfreude haben“, predigt Gauck.

Frieren für die Ukraine? Verzicht für Jahre? Befeuert wird die Debatte von einer Gruppe renommierter Ökonomen. Sie legen schon im März Berechnungen vor, nach denen ein Verzicht auf russisches Gas die deutsche Wirtschaftsleistung nur um 0,5 bis drei Prozent schrumpfen lassen würde. Das sei zwar eine ernste Rezession, aber weniger schlimm als die Corona-Krise mit minus 4,5 Prozent und beherrschbar. Tenor: „Die Lichter würden nicht ausgehen.“

Die Bundesregierung sieht das von Anfang an anders. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kanzelt Ökonomen brüsk ab. Es sei verantwortungslos, „irgendwelche mathematischen Berechnungen“ aufzustellen. Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) lehnt ein Ad hoc-Embargo ab. Er könne nur Maßnahmen verantworten, die Deutschland auch durchhalten könne, sagte Habeck. Ein sofortiger Gas-Verzicht hätte aber „schwerste wirtschaftliche und damit auch gesellschaftliche Folgen“.

Schritt 2: „Wir werden uns schnell aus der Klammer russischer Importe befreien“

Wichtiger ist aber, was Habeck in dem gleichen Interview im ZDF am 10. März ankündigt. „Wir werden uns schnell aus der Klammer russischer Importe befreien.“ Er brauche dafür einige Monate, sagt Habeck. Später machten Regierungsprognosen die Runde, nach denen es möglich sei, die Abhängigkeit von Gas aus Russland bis zum Jahresende auf 30 Prozent und bis April 2023 auf zehn Prozent zu senken.

Kurz zuvor, am 1. März, tritt Klaus Müller, ein Vertrauter Habecks, das Amt des Präsidenten der Bundesnetzagentur an. Eigentlich soll er dort den Ausbau der Erneuerbaren Energien einschließlich der nötigen Stromleitungen vorantreiben. Nun finden sich Habeck und Müller als Oberkommandierende einer Mission wieder, die kaum weiter von ihren eigenen Ambitionen hätte entfernt sein können. Sie müssen eine Kriegswirtschaft organisieren – und vieles dem einen Ziel unterordnen, einen Gasmangel und damit eine Rationierung von Gas zu verhindern.

Im März scheint sich die Lage etwas zu beruhigen. Der Gaspreis auf den internationalen Märkten ist nach einem Sprung zu Kriegsbeginn etwas gesunken. Russland erfüllt seine Verträge und liefert Gas. Deutschland zahlt täglich Million um Million in Putins Kriegskasse.

Schritt 3: Die Erkenntnis, dass Russland sein Gas als Waffe einsetzt

Doch bald mehren sich die Zeichen, dass Russlands Präsident Wladimir Putin nicht darauf warten will, dass Deutschland sich peu à peu von Russland unabhängig macht. Putin hat begonnen, sein Gas als Waffe im eiskalten Krieg mit dem Westen einzusetzen.

Das Signal zur Attacke kommt nicht von sibirischen Erdgasfeldern, sondern aus dem niedersächsischen Rehden.

Dort steht Deutschlands größter Gasspeicher – im Besitz der Gazprom Germania, der deutschen Tochter des russischen Gaskonzerns. Gazprom hatte den unterirdischen Riesenspeicher leerlaufen lassen. Füllstand 0,2 Prozent. Ein zweiter Gazprom-Speicher im ostfriesischen Jemgum ist ebenfalls fast leer. Insgesamt ist der Füllstand in Deutschlands Speichern auf dem historisch niedrigen Stand von 24 Prozent. Im Frühjahr entspricht der Gasvorrat von 60 Terawattstunden gerade noch dem Verbrauch von zwei Winterwochen.

Habeck greift zum großen Besteck, entzieht Gazprom Germania dem Zugriff Moskaus und stellt das Unternehmen unter die Treuhandschaft der Netzagentur. Gleichzeitig bringt die Bundesregierung ein Gesetz auf den Weg, dass allen Speicherbetreibern vorschreibt, die Speicher bis um 1. November zu 90 Prozent zu füllen. Später erhöht er die gesetzlichen Vorgaben über eine Verordnung auf 95 Prozent.

Schritt 4: Rubel-Ultimatum und Notfallplan Gas

Ende März eröffnet Putin die nächste Front im Wirtschaftskrieg um das Gas. Moskau verlangt, dass „unfreundliche Länder“ – und dazu zählt der Kreml nun Deutschland – Gas in Rubel bezahlen müssen. Vereinbart ist die Bezahlung in US-Dollar. Russland will seine Währung stärken und Sanktionen gegen seine Devisen umgehen. Wer nicht in Rubel bezahlt, bekommt kein Gas. Punkt. Die G-7 Staaten lehnen ab. Punkt. Es beginnt ein wochenlanger Poker. Am Ende steht als heikler Kompromiss die Abwicklung der Geschäfte über Sonderkonten bei der Gazprombank. Der Rubel steigt.

Das Rubel-Ultimatum lässt im Kanzleramt, Wirtschaftsministerium und bei der Netzagentur die Erkenntnis reifen: Russland wird die Gaslieferung verringern, wenn nicht sogar stoppen. Deutschland wird weniger Zeit haben, vom russischen Erdgas loszukommen. Und das Tempo dafür gibt erst einmal nicht Deutschland vor, sondern Russland.

Am 30. März ruft Habeck erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Frühwarnstufe des Notfallplans Gas aus. Täglich tagt nun ein Krisenstab aus Regierung, Netzagentur und Gaswirtschaft.

Der Fokus der deutschen Politik verändert sich noch einmal radikal: Es geht nicht mehr nur darum, Schritt für Schritt weniger abhängig von russischem Gas zu werden. Es geht jetzt darum, einen Gasmangel im Winter zu vermeiden.

„Kommen wir durch den Winter?“, wird zur Frage des Sommers. Modellrechnungen zum Beispiel der Deutschen Bank sehen die Chancen dafür skeptisch. Ein Gasmangel zum ausgehenden Winter ist jetzt die wahrscheinlichste Variante.

Schritt 5: Die Strategie mit fünf Säulen steht

Immerhin: Im Frühjahr steht auch die Strategie der Regierung, was nötig wäre, um diesen Gasnotstand zu vermeiden. Sie steht auf fünf Säulen:

  • Senken des Verbrauches um mindestens 20 Prozent

  • Mehr Einfuhren von Pipelinegas aus Norwegen

  • Mehr Einfuhren von Flüssiggas (LNG) über Belgien und die Niederlande

  • Bau eigener LNG-Terminals an Nord- und Ostsee, die noch im Winter in Betrieb gehen müssen

  • Verringerung der Gasexporte im europäischen Gasverbund

Habeck muss über manchen Schatten springen. Der Minister kann für sich in Anspruch nehmen, früher als andere zu den Gegnern von Nord Stream 2 gehört zu haben. Für den Grünen ist das fossile Erdgas ohnehin nur eine Übergangslösung, um den Ausstieg aus der noch klimaschädlicheren Kohle zu ermöglichen. Nun reist Habeck Mitte März als Handlungsreisender in das autokratisch regierte, energiereiche Katar. Habecks Diener vor Katars Energieminister geht als Sinnbild des deutschen Dilemmas um die Welt. Erst Monate später kommt eine Vereinbarung zustande, nach der Katar ab 2026 für mehrere Jahre Flüssiggas (LNG) liefert. Katar hatte auf langfristige Verträge bestanden und deutlich gemacht, dass es sein LNG auch an andere Kunden verkaufen könne.

Wirtschaftsminister Robert Habeck und Katars Energieminister Saad Sharida al-Kaabi - Copyright: Bernd von Jutrczenka/picture alliance
Wirtschaftsminister Robert Habeck und Katars Energieminister Saad Sharida al-Kaabi - Copyright: Bernd von Jutrczenka/picture alliance

In diesen Zusammenhang fällt auch die Vereinbarung mit dem RWE zur Braunkohle. Der Energiekonzern sichert zu, deutlich früher als bisher geplant aus der Braunkohleverstromung auszusteigen. Fünf noch bewohnt Dörfer bleiben erhalten. Die Landesregierung in NRW und damit die Grünen stimmen zu, dass das Abbaugebiet Garzweiler II um das Gebiet erweitert wird, indem das bereits verlassene Dort Lützerath steht.

Weitere Kohlekraftwerke sollen auch Spitzen in der Stromproduktion abfedern, für die bis dahin Gas verwendet wurde. Es soll gespart werden. Den Weiterbetrieb der letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland verweigert Habeck. SPD-Kanzler Scholz verfügt ihn schließlich mit dem Machtwort seiner „Richtlinienkompetenz“.

Schritt 6: Gas kaufen, koste es, was es wolle

Für das Wohl und Wehe in der Gasfrage sind das Randschauplätze. Deutschland braucht Gas und setzt alle Hebel in Bewegung, es auf dem Weltmarkt zu beschaffen. Eine zentrale Rolle übernimmt dabei ein Unternehmen, das bisher kaum jemand kannte: Die Trading Hub Europe GmbH (THE), erst im Oktober 2021 aus einer Fusion entstanden. Das Gemeinschaftsunternehmen der deutschen Gasbranche ist als sogenannter „Marktgebietsverantwortlicher“ auf Unternehmensseite für die 40.000 Kilometer Gasnetz verantwortlich und für die Beschaffung der Regelenergie. THE erhält von der Bundesregierung den Auftrag, Gas zu beschaffen, um die Speicher wieder füllen zu können.

Koste es, was es wolle.

THE legt los und sichert Deutschland auf dem Weltmark Gaskontrakte – indem es andere Interessenten überbietet. Ab April beginnt der Füllstand der deutschen Gasspeicher schnell zu steigen. Und mit den Füllständen steigen in Europa die Großhandelspreise für Gas.

Schritt 7: Der kalte Gaskrieg in der heißen Phase

Es beginnt die heißeste Phase im Gaskrieg. Die Preise schießen durch die Decke. In Europas Gasverbund knirscht es vernehmlich. Habeck beklagt sich, auch Verbündete wie die USA oder Norwegen würden Deutschlands Notlage ausnutzen und „Mondpreise“ verlangen. Erste Versorger kündigen drastische Preiserhöhungen für Verbraucher an. In seltener Einigkeit fordern CSU und Linke die Verstaatlichung aller Speicher, damit deutsches Gas auch deutsche Stuben wärmt und nicht exportiert wird. Die Konjunktur schmiert ab. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag veröffentlicht einen Alarmruf: „Uns fliegen hier die Fetzen um die Ohren“. Die Aussichten verdüstern sich Woche für Woche. Gasnotlage, Inflation, Rezession und sogar Deindustrialisierung sind die Worte der Saison.

 - Copyright: Bundesnetzagentur
- Copyright: Bundesnetzagentur

Schritt 8: Putins unmoralisches Angebot

In diese Gemengelage wittert Putin seine Chance für die nächste Schlacht.

Er nutzt dazu eine turnusgemäße Wartung der Pipeline Nord Stream 1. Putin behauptet, die Lieferung durch die Pipeline müsse reduziert werden, weil Russland aufgrund der westlichen Sanktionen eine Turbine aus der Reparatur in Kanada nicht zurückerhalte. Am 11. Juni reduziert Russland die Gaslieferung auf 40 Prozent.

Gleichzeitig testet Putin Deutschland und bietet an, mehr Gas über die schließlich betriebsbereite Pipeline Nord Stream 2 zu liefern. Doch Putins Doppelbeschluss verfängt kaum. Demonstrationen gegen die Sanktionen bleiben ebenso Randerscheinungen wie Zeitungsanzeigen bedrängter Firmen, die eine Ende der Sanktionen gegen Russland fordern. Alle Umfragen zeigen eine große und stabile Unterstützung für die Sanktionen in der deutschen Bevölkerung – auch seit die Risiken und Nebenwirkungen deutlicher werden.

Ab dem Sommer geht der Krisenstab davon aus, dass Russland seine Gaslieferungen an Deutschland komplett einstellen wird. „Wir sind auf alle Szenarien vorbereitet“, sagt Habeck. Was er meint: Deutschland ist dabei, sich auf alle Szenarien vorzubereiten. Als direkte Reaktion auf die Reduzierung der russischen Gaslieferung ruft Habeck die „Alarmstufe“ des Notfallplans Gas aus.

Den Sommer über mobilisiert Deutschland, was es hat. Wie oft in Krisen ist dies erst einmal viel Geld. Die Kritik wird lauter, dass die THE mit ihren Gaskäufen für Deutschland die Preise auf dem Weltmarkt in die Höhe treibt. In der EU werden Forderungen nach einem Preisdeckel laut. Deutschland wehrt sich, weil es fürchtet, dass die LNG-Lieferanten dann an andere Kunden verkaufen. Noch sind die Speicher nicht voll. Teilweise liegen LNG-Tanker vor Europa Häfen auf Reede und warten höhere Preise ab.

Schritt 9: LNG-Terminals und eine Pipeline im Rekordzeit


Deutschland mobilisiert aber noch eine andere, nicht so offenkundige, sondern eher verloren geglaubte Kraft. Schon in seiner „Zeitenwende“-Rede hatte Kanzler Scholz den Bau eigener LNG-Terminals angekündigt. Am 24. Mai tritt das LNG-Beschleunigungsgesetz in Kraft. Im Eiltempo wird an der Infrastruktur gebaut, mehrere der weltweit wenigen Schiffe zur Umwandlung von Flüssiggas in pipelinefähiges Gas geordert. Schon am 4. August beginnt der Bau einer 26 Kilometer langen Pipeline, die das geplante Terminal in Wilhelmshaven mit dem Pipeline-Netz verbinden soll. Was sonst Monate und Jahre dauert, geht plötzlich in Tagen und Wochen.

Auch, weil Geld wieder keine Rolle spielt. Auch, weil der Umweltschutz zurückgestellt wird. Das für Wilhelmshaven vorgesehene Umwandlungsschiff „Hoegh Esperanza“ reinigt seine System mit Chlor, das in das sensible Ökosystem der küstennahen Nordsee eingeleitet wird. Es gibt Proteste, sie bleiben aber verhalten und finden – anders als zum Braunkohlentagebaus in Nordrhein-Westfalen – nur wenig Resonanz.

Schritt 10: Putin dreht den Gashahn zu, aber Deutschland ist vorbereitet

Als Putin am 30. August die Pipeline Nord Stream 1 komplett schließt und Deutschland damit den Gashahn abdreht, ist das Land vorbereitet. Der Optimismus bleibt aber vorsichtig und enthält viel Wenn und Aber: „Wenn beim Gassparen alles gut geht und wir Glück mit dem Wetter haben, dann haben wir eine Chance, gut durch den Winter zu kommen“, sagt Habeck Anfang September.

Da sind die Gasspeicher schon zu Dreiviertel voll. Da beginnen die Preise auf dem europäischen Markt bereits zu sinken – auch weil THE nicht mehr jeden Preise zahlt. Da hat Norwegen seine Liefermenge erhöht und leitet längst mehr Gas nach Deutschland als Russland. Da kommt Flüssiggas über die Terminals in Belgien und die Niederlande ins deutsche Netz. Da liefert sogar Frankreich Gas, und erhält dafür Strom aus Deutschland, weil Frankreichs Atomkraftwerke schwächeln. Da leitet Deutschland längst viel weniger Gas nach Polen und Tschechien weiter.

Schritt 11: Sparen, sparen, sparen

Und die Deutschen sparen Gas. Bis an die Nervgrenze hat Netzagentur-Chef Müller sein Mantra wiederholt: Nur wenn es gelinge, den Gasverbrauch im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent zu senken, könne ein Gasmangel vermieden werden. Als erstes regiert die Industrie. Viele Großabnehmer stellen ihre Anlagen von Gas auf Öl um. Die hohen Gaspreise führen zur Verringerung der Produktion in energieintensiven Branchen wie Chemie, Metall, Keramik, Papier und Ölverarbeitung. Insgesamt aber ist die deutsche Industrie erstaunlich robust. Statt des erwarteten Einbruchs überrascht die gesamte Wirtschaft im dritten Quartal mit einem kleinen Wachstum. Die Konjunktur hellt sich auf, die Prognosen werden freundlicher.

Auch die Haushalte sparen Gas. Insgesamt fällt der Gasverbrauch in Deutschland 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 14 Prozent. Allein das schließt ein Drittel der Lieferlücke aus Russland. Viele verschieben den Beginn der Heizperiode, drosseln die Raumtemperatur, sparen Warmwasser und auch Strom. Die Motive sind vielfältig und reichen vom Geldsparen, über den Wunsch einen Beitrag gegen den Gasmangel zu leisten, Putin zu trotzen oder das Klima weniger zu belasten. Begünstigt wird all dies durch einen milden Herbst. Insgesamt liegen die Temperaturen 2022 um 1,1 Grad Celsius über dem Mittel der Vorjahre.

Schritt 12: Entwarnung, aber offene Fragen

Im Oktober sind die Gasspeicher früher als gefordert zu 95 Prozent gefüllt, im November zu 100 Prozent. Am 21. Dezember nimmt das erste schwimmende LNG-Terminal in Wilhelmshaven den Betrieb auf. Am 14. Februar folgt das erste Terminal in Lubmin an der Ostsee.

Vor dem Krieg hat Deutschland 52 Prozent seines Erdgases aus Russland bezogen. 2021 waren es rund 850 Terawattstunden. 2022 kamen nur noch gut 300 Terawattstunden aus Russland. Deutschland hat diese Lücke mehr als nur geschlossen. Aus anderen Ländern kamen 340 TWh Gas mehr. Es wurden 180 TWh weniger verbraucht und mindestens 200 TWh weniger exportiert. Darum konnte Deutschland sogar noch seine Vorräte in den Gasspeichern seit dem tiefsten Stand im Frühjahr um mehr als 160 TWh erhöhen.

Anfang Januar gab die Bundesnetzagentur Entwarnung. Ein Gasmangel sei „zunehmend unwahrscheinlich“. Der Verband der Speicherbetreiber geht davon aus, dass die Speicher auch am Ende des Winters zu rund 60 Prozent gefüllt sein werden. Auch ohne russisches Gas werde es gelingen, sie bis zum nächsten Winter wieder randvoll zu kriegen.

Deutschland hat es geschafft, sich in wenigen Monaten komplett unabhängig von russischem Gas zu machen. Mit schnellen und harten Entscheidungen, mit viel Geld und mit etwas Glück beim Wetter. Der Erfolg hat seinen Preis: Mit seinen Gaskäufen hat Deutschland den Gaspreis vorübergehend noch stärker in die Höhe getrieben. Auch dauerhaft wird Deutschland mehr Geld für seine Energie zahlen müssen. Die LNG-Terminals wurden schnell ans Netz gebracht, das Tempo neben viel Geld auch Abstriche beim Umweltschutz. So, wie es gelungen ist, einen Gasnotstand zu vermeiden, geht es nun darum, die Versorgung wirtschaftlich und ökologisch zu optimieren.

Dieser Artikel erschien zuerst am 16. Januar 2023. Er wurde am 21. Januar 2023 aktualisiert.