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So geht es Migranten in der Türkei wirklich

Flüchtlinge in Edirne, Türkei. (Bild: Onur Coban/Anadolu Agency via Getty Images)
Flüchtlinge in Edirne, Türkei. (Bild: Onur Coban/Anadolu Agency via Getty Images)

Kein Status, keine Arbeit, Angst vor Abschiebung: Viele Migranten sehen die Türkei als Transitland und wollen schnell nach Europa. Die EU verschärft die Situation.

Masood könnte ein Jugendlicher aus Europa sein. Der 25-Jährige spricht vier Sprachen, trägt Jeans und Lederjacke, seine hellblauen Augen kontrastieren mit den schwarzen Haaren. Es gibt einen entscheidenden Unterschied: Masood ist kein Deutscher, Franzose oder Niederländer, sondern Afghane und lebt in der Türkei.

„Ich will ein normales Leben führen”
„Ich kenne meine Heimat nur als Kriegsland“, sagt er. „Ich will ein normales Leben führen, deswegen bin ich geflohen.“ Doch in der Türkei besitzt Masood so gut wie keine Rechte. „Alles, was ich versuchen kann, ist, in die EU einzureisen und dort Asyl zu beantragen.“

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Viele glauben, es seien syrische Flüchtlinge aus der Rebellenhochburg Idlib, die nun von der türkischen Regierung an die griechische Grenze geschleust wurden. Doch es handelt sich hauptsächlich um Migranten aus anderen Ländern, die nun aus der Türkei in die EU drängen.

Sie leben dort als Bürger zweiter – oder dritter Klasse. Das liegt auch am sogenannten Flüchtlingspakt der Europäischen Union (EU) mit der Türkei – und damit an den Regeln der EU, mit Menschen umzugehen, die nach Europa wollen.

Vor einer Woche erklärte der türkische Staatschef Erdogan, Migranten im Land nicht mehr an einer Ausreise in die EU zu hindern. In Windeseile machten sich Tausende Menschen auf den Weg zur griechischen Grenze und lösten in Europa Debatten darüber aus, wie mit ihnen umgegangen werden soll.

Grund für die ungleiche Behandlung von Migranten in der Türkei ist auch die Flüchtlingspolitik der EU, insbesondere das EU-Türkei-Abkommen vom März 2016, besser bekannt als Flüchtlingspakt. Er behandelt Migranten in der Türkei unterschiedlich: Während vor allem syrische Flüchtlinge dadurch gut versorgt werden, steigt für Migranten aus anderen Ländern der Druck weiterzuziehen. Durch den Flüchtlingspakt ist unter den Migranten in der Türkei eine Zweiklassengesellschaft entstanden.

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Das Abkommen sieht vor, dass die Türkei bis 2019 sechs Milliarden Euro erhalten soll, um Migranten in der Türkei zu versorgen. Im Gegenzug sollte die Türkei die illegale Migration in die EU aufhalten. Anders formuliert: Die Türkei muss laut Abkommen alle Migranten an einer illegalen Ausreise hindern, erhält allerdings vorrangig für die Versorgung syrischer Flüchtlinge Geld aus Brüssel.

In der rechtlichen Grauzone

„Der Erfolg des Flüchtlingspakts wird vor allem an den gesunkenen illegalen Grenzübertritten gemessen“, schreibt Secil Elitok von der Istanbuler Koc-Universität in einer Analyse aus dem Jahr 2019, drei Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens. In der Tat seien die täglichen Übertritte an der türkisch-griechischen Grenze nach Inkrafttreten des Abkommens von rund 1800 täglich auf 80 gesunken.

Doch mit der Situation der Menschen, die in der Türkei ausharren müssen, hat sich in Europa offenbar niemand beschäftigt. So können syrische Flüchtlinge in der Türkei kostenlos zum Arzt. Migranten aus anderen Ländern leben entweder illegal oder in einer diffusen rechtlichen Grauzone im Land.

Diejenigen, die offiziell gemeldet sind, müssen für die staatliche Krankenversicherung 380 US-Dollar pro Jahr bezahlen. Wer ins Krankenhaus muss, zahlt noch mal drauf. Das ist viel Geld für Menschen, die auf der Flucht oder der Durchreise sind.

Syrische Schulkinder dürfen außerdem am Unterricht teilnehmen, andere nur mit einer speziellen Genehmigung. Der Flüchtlingspakt gewährt Kindern aus dem benachbarten Kriegsland sogar eine spezielle Zahlung von rund 35 Lira (rund fünf Euro) pro Schulkind und Monat für den Kauf von Schulheften und Pausenbroten – bezahlt von der EU. Kinder von Migranten aus anderen Ländern erhalten diesen Obolus nicht.

In der Türkei ist daher niemand überrascht, dass Menschen wie Masood fliehen wollen – weil er keinen Cent vom Flüchtlingspakt erhält. Der junge Mann ist vor zwei Jahren in die Türkei gekommen. Er arbeitet schwarz in einer Försterei in Izmir an der türkischen Ägäisküste. Als er von der Grenzöffnung gehört hatte, setzte er sich sofort in einen Bus nach Istanbul, von wo aus er weiter nach Edirne an die griechische Grenze fuhr, erzählt er. „Ich hatte nichts zu verlieren, aber die Aussicht, in die EU zu gelangen“, erklärt er seine Aktion.

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Anderen geht es kaum besser. Und der Unmut in der türkischen Bevölkerung steigt ob der vielen Zuwanderer. Laut einer Umfrage sind zwei Drittel aller Türken überzeugt, dass Migranten ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen. „Besonders die Türken, die im Niedriglohnsektor arbeiten, sehen in den Flüchtlingen Konkurrenten, weil die in ihrer Not bereit sind, für noch weniger Lohn zu arbeiten“, sagt Nigar Göksel von der NGO Crisis Group.

Dabei ist die Türkei ein Migrationsland, und das schon seit Jahrhunderten. Im Jahr 1492 nahm das Osmanische Reich rund 200.000 Juden aus Spanien auf, die in dem Königreich nicht erwünscht waren. 1783 waren es 80.000 Krimtataren, die nach einem verlorenen Krieg gegen Russland in Anatolien Schutz gesucht hatten.

Als Russland bis in die 1850er-Jahre weitere Feldzüge im Kaukasus unternahm, flohen noch mehr Menschen – hauptsächlich Muslime – in Richtung Türkei. Ab dem Jahr 1933 waren es viele deutsche Intellektuelle, die vor Hitler flohen und Zuflucht in der Türkei fanden. Allein an der Universität Istanbul lehrten zwischen 1933 und 1945 insgesamt 98 deutsche Professoren.

Flüchtlingspakt nur aus EU-Sicht ein Erfolg

Die Türkei ist Vertragspartei der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und eines Zusatzprotokolls von 1967, wobei es eine geografische Beschränkung gibt: Die Türkei erkennt nur Flüchtlinge aus Europa als solche an. Alle anderen wurden bis dahin wie irreguläre Migranten behandelt, erhielten in der Türkei also keinen Status.

Das war bis 2013 so. Unter dem damaligen Ministerpräsidenten Erdogan brachte die türkische Regierung ein Gesetz für ein nationales Asylsystem in Übereinstimmung mit den internationalen Standards ins Parlament. Am 11. April 2014 trat damit das erste Asylgesetz der Türkei in Kraft. Das Gesetz legte die Hauptpfeiler des nationalen Asylsystems der Türkei fest und richtete die Generaldirektion Migrationsmanagement (DGMM) als Behörde für Verfahren aller Ausländer in der Türkei ein.

Die Türkei hat am 22. Oktober 2014 auch eine „Verordnung über temporären Schutz“ verabschiedet, in der die Rechte und Pflichten sowie die Verfahren für diejenigen festgelegt sind, denen in der Türkei vorübergehender Schutz gewährt wird.

Die Gesetzesänderungen kamen vor allem auf Wunsch der EU zustande. Im Rahmen des Beitrittsprozesses der Türkei hatte Brüssel gefordert, dass die Türkei ihr Asylsystem reformiere. Keine 18 Monate später stand der Flüchtlingspakt.

In der Tat sank die illegale Migration aus der Türkei in die EU durch den Flüchtlingspakt um über 90 Prozent. Der Pakt funktionierte im Großen und Ganzen, Europa blieb von einer wirklichen Krise verschont. Aus Sicht der EU ein Erfolg. Doch in der Türkei verblieb eine wachsende Masse Menschen, die zunehmend wie Aussätzige behandelt wurden.

Mit der türkischen Wirtschaftskrise wuchsen außerdem die gesellschaftlichen Probleme. Die Arbeitslosigkeit legte zu, die Inflation stieg auf empfindliche Niveaus. Die Flüchtlinge werden zunehmend als Konkurrenz empfunden, und das schon seit über einem Jahr.

Während Deutschland 2016 ein kleines Wirtschaftswunder erlebte und jede helfende syrische Hand hätte gebrauchen können, hatte die Türkei ein Putschversuch erschüttert. Europa hatte sich auf dem zählbaren Erfolg des Flüchtlingspakts ausgeruht, während in der Türkei der Druck weiter anstieg.

Als der neue oppositionelle Oberbürgermeister Istanbuls, Ekrem Imamoglu (CHP), im Sommer 2019 sein Amt antrat, sagte er über die Migranten am Bosporus: „Sie verändern die Demografie unserer Stadt. Das ist nicht gut.“

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