So bereiten sich Airbus und Boeing auf die Zeit nach dem Lockdown vor
In den vergangenen Jahren ging es im Flugzeugbau vor allem um Platzersparnis. Nun, in Zeiten des Mindestabstands, braucht es völlig neue Konzepte.
1,5 Meter bis zum nächsten Menschen lautet die allgemeine Abstandsvorschrift in Corona-Zeiten. Für Flugzeugbauer ist das ein Problem. Denn in der Flugzeugröhre ist ein solcher Mindestabstand nahezu unmöglich umzusetzen, sollen die Flüge betriebswirtschaftlich sinnvoll ausgelastet sein.
Der durchschnittliche Abstand zwischen den einzelnen Sitzreihen ist mit Blick auf eine möglichst hohe Auslastung in den zurückliegenden Jahren stetig geschrumpft. Kurzum: Es braucht komplett neue Konzepte.
Der italienische Hersteller von Flugzeugsitzen, Aviointeriors, etwa hat eine Kabine mitentwickelt, bei der der Mittelsitz in Dreierreihen um 180 Grad gedreht montiert und durch eine transparente Scheibe von den beiden Sitznachbarn getrennt ist. Außerdem hat die Firma eine zweite Variante entwickelt, in der über die bereits eingebauten Sitze eine Art Haube gestülpt werden kann.
Auch bei Airbus wird natürlich längst an einer möglichst „virenfreien“ Zukunft des Luftverkehrs gearbeitet. Die Handgepäckfächer könnten künftig statt von Hand mit kleinen Motoren öffnen und schließen. Videokameras könnten Bilder vom Bereich vor den Toiletten übertragen, um dort Warteschlangen zu vermeiden. Hinzu kommen neue Reinigungsmethoden mit Vernebelungstechnik oder UV-Strahlen.
Auch an Bordpersonal, das aussieht wie Ärzte in einem OP-Saal, werden sich die Passagiere womöglich gewöhnen müssen.
Wie stark die Flugzeuge am Ende umgebaut werden müssen, wissen auch die beiden großen Hersteller Airbus und Boeing noch nicht im Detail. Auch nicht, ob die Kapazitäten dafür ausreichen. Gleichzeitig müssen sich die Flugzeugbauer auf eine veränderte Modellpalette einstellen. Das Virus beschleunigt die schon begonnene Ausmusterung der Superjumbos wie der Boeing 747 oder des Airbus A380.
Weltweit werden die mit vier Motoren ausgestatten Riesenflugzeuge nun vielerorts für immer geparkt. Und das, obwohl manche der Jets gerade erst zehn Jahre alt sind.
Stattdessen werden kleinere Flugzeuge gefragt sein, die auch bei einer zunächst geringeren Nachfrage rentabel betrieben werden können. Dieser Trend erwischt vor allem Boeing zu einem extrem ungünstigen Zeitpunkt.
Der US-Konzern ist nicht nur durch das nach zwei Abstürzen geltende Flugverbot für das einstige Erfolgsmodell 737 Max in einer schweren Krise.
Anders als Airbus mit der A320neo und der A350 hat Boeing aktuell zudem kaum Flugzeuge, die sich für den nun rapide verändernden Markt eignen. Außerdem hat der US-Konzern wegen der Coronakrise gerade die Übernahme der Zivilsparte des brasilianischen Luftfahrtunternehmens Embraer abgesagt.
Damit fehlt den Amerikanern nun am unteren Ende der Produktpalette ein attraktives Angebot für die Fluggesellschaften, wenn diese über Neuinvestitionen nachdenken.
Boeing-Chef Dave Calhoun hat auch die schon länger geplante Entwicklung eines neuen Großraumjets gestoppt. Stattdessen plant er eine Modernisierung des seit 2004 gebauten Modells 757 – als Antwort auf den von Airbus für die Langstrecke ertüchtigten Mittelstreckenjet A321, der als XLR-Variante auf den Markt kommt und schon vor Corona von vielen Airlines bestellt wurde.
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Trotz der insgesamt herausfordernden Situation: Peter Smeets, Gründer und CEO des Flugzeugfinanzierungsspezialisten 360AF, stehen die Flugzeughersteller in der komplexen Wertschöpfungskette der Luftfahrt noch mit am besten da: „Ihre Auftragsbücher sind voll. Das gilt vor allem für Airbus, die mit der A320neo-Familie und der A350 die richtigen Flugzeugmuster hat.“
Doch was nützen die vollen Auftragsbücher, wenn die Airlines die bestellten Jets am Ende doch nicht abnehmen. Erste Kunden wie der malaysische Billiganbieter Air Asia X haben etliche Bestellungen bereits wieder storniert. Auch der Flugzeugfinanzierer Avolon will 75 Boeing 737 Max und vier Airbus A320neo nicht mehr abnehmen.
Die Unsicherheit sei für die Finanzierer ein großes Problem, sagt Smeets von 360AF. „90 Prozent der Airlines bitten aktuell um die Stundung ihrer Leasingraten. Das bringt die Leasinggeber und Banken in eine schwierige Situation. Wer nicht bezahlt, könnte es nach der Krise schwerer haben, Investoren und Leasingpartner zu finden.“
Lange hoffte Airbus, ein geschicktes Orderbuch-Management könnte die Probleme weitgehend lösen. Watchtower nennt sich intern das Programm, in dem sich Experten für die Produktion, das Kunden-Management und die Finanzen zusammengeschlossen haben und sich im Detail darüber abstimmen, wie sich verschiedene Auslieferungsszenarien am besten zu einem Gesamtbild fügen.
Das Kalkül: Während einige Airlines ihre Flugzeuge gerne später abnehmen wollen, gibt es andere, die ihre Flottenmodernisierung vorziehen möchten oder die schon länger als geplant auf neue Flugzeuge warten.
Doch schon bald war auch klar: Watchtower allein würde bei der Lösung der Probleme nicht reichen. Am 23. März kippte das Airbus-Management die Prognose für 2020. Ende April sieht sich Airbus-Chef Guillaume Faury zu einem Brandbrief an die eigene Belegschaft genötigt.
„Wir bluten in einem nie da gewesenen Tempo finanziell aus“, schreibt der Konzernlenker. „Diese Situation kann die Existenz unseres Unternehmens infrage stellen.“
Fast eine halbe Milliarde Euro Verlust muss der Topmanager für das erste Quartal melden. Mitarbeiter gehen in Kurzarbeit, noch weitergehende Maßnahmen wie ein Stellenabbau werden nicht ausgeschlossen.
Beim Rivalen Boeing ist der gar schon beschlossen. 16.000 Mitarbeiter müssen die Firma verlassen. Dennoch will der US-Konzern ohne Staatshilfe auskommen, ebenso wie auch Airbus. Man habe ausreichend Liquidität, heißt es im französischen Toulouse. Und setze darauf, dass das Geldverbrennen spätestens im vierten Quartal beendet werden könne.
Probleme auch in der Zulieferindustrie
Die radikale Kürzung der Produktionsrate bringt daneben auch die Zulieferer in Bedrängnis. Sie sind die Letzten in der langen, fragilen Wertschöpfungskette.
89 Prozent der Betriebe, viele davon mittelständisch geprägt, würden mit weitreichenden, teils sogar existenzbedrohenden Folgen aus der Coronakrise rechnen, heißt es in einer aktuellen Umfrage der H & Z Unternehmensberatung und des Bundesverbands der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie e. V. (BDLI).
Fällt ein Lieferant aus, ist er nur schwer zu ersetzen. Die Teile, die in einem Flugzeug eingebaut werden dürfen, müssen allesamt aufwendig zertifiziert werden. Schon das Wiederhochfahren der Fertigungsrate nach einer längeren Pause ist für die Zulieferer eine gewaltige Herausforderung.
Jetzt aber geht es bei vielen ums Überleben. Und sie müssen überleben. Denn ohne diese Teilbranche würde es auf absehbare Zeit keine neuen Flugzeuge mehr geben.
Damit nicht genug: Trotz schwindender Liquidität und drohender Stornierungen müssen die Hersteller und ihre Lieferanten mehr denn je in die Entwicklung neuer Flugzeuge investieren. „Der niedrige Ölpreis mag der Investition in neue und effizientere Flugzeuge aktuell entgegenstehen“, sagt Branchenkenner Smeets: „Doch der Druck, Innovationen zu treiben, kommt von den Investoren. Immer mehr schauen bei ihren Investments auf Faktoren wie Ökologie und Nachhaltigkeit. Das wird sich durch Corona nicht ändern.“
Mitarbeit: Silke Kersting, Kerstin Leitel