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Die sechste Jahreszeit

Wer zwischen den Kölsch trinkenden und fröhlich schunkelnden Grünen auf dem politischen Aschermittwoch in Nordrhein-Westfalen saß, käme nie auf den Gedanken, dass die Partei wenige Wochen vor der Wahl im größten Bundesland mit den niedrigsten Umfragewerten seit neun Jahren zu kämpfen hat. Stattdessen lobt Spitzenkandidatin und NRW-Bildungsministerin Sylvia Löhrmann sich anlässlich ihres 60. Geburtstages selbst: „Am Nachmittag muss ich zum Anstoßen noch ins Ministerium, die finden nämlich, dass sie eine tolle Chefin haben.“ Der unterstützend herangeeilte Grünen-Chef Cem Özdemir wirkt unterdessen mit seinen platten Witzen eher wie ein Büttenredner als ein Politiker.

Die Grünen reden sich ihre Krise schön, während SPD und CDU sich freuen, dass die Rhetorik der kleinen Parteien, sich als Alternative zu den Großen zu präsentieren, nicht mehr zu funktionieren scheint. Die politische Auseinandersetzung konzentriert sich wieder auf SPD und CDU.

Dessen sind sich die regierenden Sozialdemokraten am Abend in Schwerte durchaus bewusst. Im Festsaal des Gasthofs Freischütz haben sich 700 Gäste zum politischen Schlagabtausch mit ihrer Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und Ehrengast Martin Schulz eingefunden. Anfragen hatte die SPD eigenen Angaben zufolge allerdings dreimal so viele.

Wie bei allen SPD-Veranstaltungen seit Bekanntgabe der Kandidatur von Martin Schulz ist die Stimmung nahezu ekstatisch. Zum Einmarsch des ehemaligen Europaparlamentspräsidenten spielt die Jazz-Band unter lautem Getöse den Gospel-Song „When the Saints Go Marching in“ (zu dt.: Wenn die Heiligen einmarschieren), die SPD macht ihren Kanzlerkandidaten damit wortwörtlich zum „Heilsbringer“.

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Deutlich gediegener geht es bei der CDU im Sauerland zu. Getrunken wird wenig, kaum geschunkelt und eher selten gelacht. In der Schützenhalle von Lennestadt, einem mächtigen Fachwerkhaus mit Holzdecken, versucht eine Marschkapelle für Stimmung zu sorgen. Die kommt erst mit der Rede von Armin Laschet auf und verschwindet ebenso schnell wieder, als sich der nordrhein-westfälische CDU-Chef unmittelbar nach seinem Auftritt schon zum nächsten Termin verabschiedet.

Laschet ist der einzige NRW-Spitzenkandidat ohne Unterstützung von ganz oben. Angela Merkel zog es vor, heute wie gewohnt in ihrem eigenen Wahlkreis Mecklenburg-Vorpommern aufzutreten. Aber Armin Laschet schießt auch ohne seine Parteivorsitzende gegen alles, was Rang und Namen hat. Seien es Innenminister Ralf Jäger, Sylvia Löhrmann oder Martin Schulz.


NRW-Grüne lassen sich „nicht ins Boxhorn jagen“

Der „politische Aschermittwoch“ hat bei den Parteien eine lange Tradition: An diesem Tag kann man den Gegner ins Visier nehmen, sich für Erreichtes feiern lassen und den Anhängern aus der Seele sprechen. Die politische Anspannung in Nordrhein-Westfalen dauert dieses Jahr wegen der aufeinanderfolgenden Land- und Bundestagswahlen besonders lange an.

Als Bundesland mit den meisten Einwohnern hat NRW mit seinem Wahlausgang Signalwirkung für die Bundestagswahlen im September. Wer in NRW verliert, wird erfahrungsgemäß auch auf Bundesebene kaum besser abschneiden – und umgekehrt.

Die Voraussetzungen für die CDU in NRW sind eigentlich günstig, da die Bilanz der Regierungszeit von Rot-Grün seit dem Jahr 2010 alles andere als rosig ausfällt. NRW rangiert in vielen Rankings ganz hinten. Doch der Landes-CDU fehlt Rückenwind aus Berlin.

Merkel hat nach der forcierten Aufnahme von Hunderttausenden Flüchtlingen in Deutschland ein Akzeptanzproblem in Teilen der CDU. Dagegen genießt die NRW-SPD mit dem designierten Parteichef und Kanzlerkandidaten Martin Schulz eine lange vermisste Aufbruchsstimmung. Nur die Grünen kommen nicht so recht in Fahrt. Im jüngsten „Politbarometer“ ist die Partei erstmals hinter die FDP zurückgefallen. In den Umfragen käme die aktuelle Regierung aus Rot-Grün so auf keine Mehrheit.

Die Grünen-Basis in NRW nimmt's gelassen. Dort sieht man die schlechten Umfragewerte eher als „Ansporn“. Die Inhalte seien schließlich da, nur mit der Präsentation habe man eben manchmal ein Problem. Deswegen stehe man auch weiter zum Thema Inklusion. Genau dafür hatte Ministerin Löhrmann viel Kritik einstecken müssen. Die Spitzenkandidatin der Grünen in NRW hatte bereits vor einem Jahr gesagt, dass es ein „harter“ Wahlkampf werde. „Jetzt sehe ich mich herausgefordert“, sagt sie kampfeslustig. Von den Umfragen lasse sie sich „nicht ins Boxhorn jagen“.

Und weil am politischen Aschermittwoch traditionell besonders hart gegen die gegnerischen Parteien geschossen wird, teilten auch Löhrmann und Özdemir ordentlich aus. Ihnen zufolge fischt „Schnarchnase“ Lindner mit seinem „miesem Populismus am rechten Rand“, unterstützt von Armin Laschet, der mit seiner „Schwarz-Weiß-Rhetorik“ ebenfalls den Populismus stärke.

Wohingegen die Grünen nach eigener Aussage der Alternative für Deutschland, der „natürliche Gegenspieler der AfD“ seien. „Den Fehdehandschuh nehmen wir gerne auf“, ruft Löhrmann. Mit Kritik an Koalitionspartnerin Hannelore Kraft hielten sich die Grünen dann aber doch zurück. Da schoss Özdemir lieber gegen Martin Schulz. Der sei zwar ein „Sozialdemokrat wie er im Buche steht“, aber eben auch dementsprechend „altbacken“.


NRW-CDU versucht, Schulz zu entzaubern

Das sehen die größtenteils unter 35-jährigen Neumitglieder der SPD mit Sicherheit anders. Allein in Nordrhein-Westfalen gab es seit Jahresbeginn 2300 Neueintritte, erklärt Fraktionsvorsitzender Norbert Römer am Abend in Schwerte. „Wir brennen vor Kampfeswillen“, kündigt er seine Parteichefin Hannelore Kraft an. Diese werde natürlich Ministerpräsidentin bleiben – und Martin Schulz der nächste Bundeskanzler.

Schulz sagte auf die Frage, ob die SPD in NRW vom „Schulz-Effekt“ profitiere, dann auch zustimmend: „Nicht ich bin Rückenwind für Hannelore Kraft, sondern ihr fulminanter Wahlsieg wird Rückenwind für mich.“

In einem leidenschaftlichen Plädoyer versprach Schulz auch am Aschermittwoch soziale Gerechtigkeit. Daher müsse unter anderem die Agenda 2010 reformiert werden. Ein Konzept hat er aber noch nicht vorgelegt.

Spagat zwischen Bundes- und Landespolitik

Inhaltlich ist der Auftritt des neuen Hoffnungsträgers wenig überraschend, kaum mehr als die Wiederholung bereits bekannter Positionen und Schwerpunkte. Konkret wird Schulz selten. Er wirbt eher für sich, als dass er die Konkurrenz attackiert. „Persönliche Verunglimpfung hat in einem Wahlkampf nichts verloren“, betont er, nachdem er aber noch einmal seinen Machtanspruch untermauert hat, schließlich trete er an, „ um Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden.“

Auch für Armin Laschet ist der Auftritt ein Spagat zwischen Bundes- und Landespolitik. Er findet deutliche Worte für den SPD-Kanzlerkandidaten Schulz, NRW-Innenminister Ralf Jäger und Bildungsministerin Löhrmann. Jäger sei für eine jahrelange Politik verantwortlich, „die da, wo Rechtsbruch stattgefunden hat, nicht durchgegriffen hat“. Deshalb müsse es einen Richtungswechsel bei der inneren Sicherheit geben. Und nirgendwo seien die Aufstiegschancen von Kindern so von der Herkunft abhängig wie in NRW. Der Unterrichtsausfall an den Schulen sei ein „Anschlag auf die Bildungschancen der Kinder“.

Ministerpräsidenten Hannelore Kraft hingegen, kommt vergleichsweise glimpflich davon. Ihr wirft Laschet vor allem vor, sich zu häufig wegzuducken und die Verantwortung nach Berlin weiterzuschieben.

Den Bezug zu Schulz sucht Laschet gleich mehrfach. Er will den Kanzlerkandidaten als Teil der Brüsseler Elite entzaubern, der in den vergangenen Jahren die Politik in Deutschland und Europa mitgestaltet hat – und eben nicht gleich aus dem beschaulichen Würselen und der Mitte der Provinz in die Bundespolitik gebeamt wurde.

Schulz' Ankündigungen um die Agenda 2010 kritisiert Laschet scharf. Diese sei der Garant für die deutsche Wirtschaftskraft. „Jetzt stehen wir so stark da wie kein anderes Land in Europa. Wie kann ein Land, das so erfolgreich ist, von diesem Kurs Abstand nehmen?“, fragt er und erntet eifriges Kopfnicken.

Auch der FDP-Vorsitzende Christian Lindner hat sich an diesem politischen Aschermittwoch Martin Schulz zum Hauptgegner auserkoren. „Schulz geht es nicht um soziale Gerechtigkeit, sondern was ihn treibt, ist soziale Heuchelei“, sagte Lindner in Dingolfing.


Einigkeit beim Thema Deniz Yücel

Während die Grünen so tun, als hätten sie kein Problem, versucht die CDU der SPD durch Seitenhiebe auf Innenminister Jäger zu schaden, ohne einen möglichen Koalitionspartner zu verprellen. Und die SPD feiert sich lieber selbst, als sich um die anderen zu sorgen. Gegen die amtierende Ministerpräsidentin wollte sowieso niemand so richtig austeilen. Denn eins ist klar: sollte es im Mai tatsächlich keine Mehrheit für Rot-Grün geben, könnten die Karten in Nordrhein-Westfalen komplett neu gemischt werden.

Bei einem Thema waren sich dann aber doch alle Parteien heute einig: Sie forderten die Freilassung des in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel. Cem Özdemir und Sylvia Löhrmann hielten Schilder mit der Aufschrift „#freedeniz“ hoch. Es könne „nicht folgenlos bleiben, wie der türkische Staat mit Deniz Yücel und all den anderen kritischen Journalisten und Andersdenkenden umgeht, sie drangsaliert, verfolgt und einsperrt“, sagte Löhrmann.

Welt-Korrespondent Yücel, der einen deutschen und einen türkischen Pass hat, war am Montag in der Türkei in Untersuchungshaft genommen worden. Ihm wird Propaganda für eine terroristische Vereinigung und Aufwiegelung der Bevölkerung vorgeworfen.

Einen Wahlkampfbesuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Deutschland halten sowohl Laschet als auch Kraft unter diesen Voraussetzungen als undenkbar. Mit Verweis auf Yücel sagt Laschet voller Entschlossenheit: „So lange Journalisten in der Türkei in Haft sitzen, so lange ist Präsident Erdogan bei Kundgebungen in Deutschland unerwünscht.“ Auch Hannelore Kraft betonte, wer deutsche Grundrechte in Anspruch nehmen wolle, der müsse es erst einmal in seinem eigenen Land zur Anwendung bringen.

KONTEXT

Dafür steht SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz

Präsenz

Schulz verdankt seinen Aufstieg in Brüssel Eigenschaften, die ihm Freunde und Gegner gleichermaßen zuschreiben: Ehrgeiz, Arbeitseifer, klare Sprache, Machtbewusstsein. Vor allem als EU-Parlamentspräsident und als Spitzenkandidat der Sozialdemokraten bei der Europawahl 2014 schärfte er nicht nur sein eigenes Profil, sondern gab Europa eine starke Stimme. Der Christsoziale Manfred Weber würdigte Schulz zum Abschied aus Brüssel als kraftvollen und durchsetzungsstarken Europäer.

Klare Botschaften

Der designierte SPD-Kanzlerkandidat gilt als Politiker, der Streit nicht aus dem Weg geht. Zuletzt übte er zum Beispiel heftige Kritik am EU-Mitgliedsland Ungarn und dessen Referendum zur Flüchtlingspolitik. Wachsenden Nationalismus und Rechtspopulismus verurteilte er scharf und verlangte Einsatz für das europäische Gesellschaftsmodell gegen die "Feinde der Freiheit". Seine eigene Partei mahnt er, normalen Menschen zuzuhören und auf ihre Nöte einzugehen. Die Krise der EU trieb ihn um - wobei er gerne die Brüsseler Perspektive einnahm und vor allem den Streit der Mitgliedsstaaten kritisierte.

Anpacken

Obwohl das Amt als EU-Parlamentspräsident eher zeremoniell angelegt ist, präsentierte sich Schulz als Macher. Ein Beispiel: der Handelspakt Ceta mit Kanada. Im Herbst überzeugte er die vom Streit mit der Wallonie völlig entnervte kanadische Ministerin Chrystia Freeland, ihre Abreise zu verschieben und sich noch ein letztes Mal mit ihm zu treffen. Fernsehkameras standen bereit, das Überraschungsgespräch im Morgengrauen zu dokumentieren. Letztlich wartete Kanada die europäischen Kapriolen dann geduldig ab, und das Abkommen kam doch noch zustande.

Allianzen

In Brüssel und Straßburg stand Schulz für die informelle große Koalition mit der Europäischen Volkspartei und deren Vorsitzendem Weber. 2014 unterzeichneten beide einen Pakt, der Schulz bei der Wiederwahl zum Parlamentspräsidenten EVP-Stimmen sicherte. Dafür sollte er im Januar 2017 seinen Posten für einen EVP-Kandidaten räumen. Es ging aber nicht nur um Personal: Die beiden größten Fraktionen sahen den Pakt als Mittel, in Europa stabil und effizient Politik zu machen und der EU-Kommission zu Mehrheiten zu verhelfen.

Machtanspruch

Kleinere Parlamentsfraktionen wie die Grünen oder Linken fühlten sich in der Ära Schulz an den Rand gedrängt und ignoriert. Auch wurden Schulz Eigenmächtigkeiten vorgeworfen - sowohl inhaltlich, wenn er für das Parlament sprach, als auch bei der Besetzung von Spitzenposten im Haus. Etliche Abgeordnete zeigen sich nun erleichtert, dass neue Zeiten anbrechen.