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„Dem Schutz von Leben in der Coronakrise kann nicht alles untergeordnet werden“

Der Bundestagespräsident positioniert sich in der Debatte um Einschränkungen der Grundrechte. Das Recht auf Leben könne nicht über allem stehen.

Der Bundestagspräsident bezieht in der Debatte um die Einschränkung der Grundrechte in der Coronavirus-Pandemie Stellung. Foto: dpa
Der Bundestagspräsident bezieht in der Debatte um die Einschränkung der Grundrechte in der Coronavirus-Pandemie Stellung. Foto: dpa

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat angesichts der Einschränkungen vieler Grundrechte durch die Corona-Maßnahmen davor gewarnt, dem Schutz von Leben alles unterzuordnen. „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig“, sagte der CDU-Politiker dem „Tagesspiegel“.

Wenn es überhaupt einen absoluten Wert im Grundgesetz gebe, dann sei das die Würde des Menschen. „Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“ Der Staat müsse für alle die bestmögliche gesundheitliche Versorgung gewährleisten. „Aber Menschen werden weiter auch an Corona sterben.“

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Der Parlamentspräsident rief dazu auf, die Coronakrise als Chance zu nutzen, um in den Hintergrund getretenen Krisen zu bekämpfen. „Noch immer ist nicht nur die Pandemie das größte Problem, sondern der Klimawandel, der Verlust an Artenvielfalt - all die Schäden, die wir Menschen und vor allem wir Europäer durch Übermaß der Natur antun“, betonte Schäuble und warnte: „Hoffentlich werden uns nicht wieder nur Abwrackprämien einfallen, die es der Industrie ermöglichen, weiter zu machen wie bisher.“

Der Bundestagspräsident äußerte auch die Sorge vor einem Kippen der Stimmung in der Bevölkerung. „Es wird schwieriger, je länger es dauert.“ Der Weg zurück aus dem Stillstand sei viel schwieriger. Man müsse vorsichtig Schritt für Schritt vorgehen und bereit sein, zu lernen. „Wir dürfen nicht allein den Virologen die Entscheidungen überlassen, sondern müssen auch die gewaltigen ökonomischen, sozialen, psychologischen und sonstigen Auswirkungen abwägen“, mahnte Schäuble.

Strukturelle Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik

Schäuble warnte angesichts der massiven Hilfen in der Corona-Krise auch vor einer Überforderung des Staates. Es gebe im Moment ein verbreitetes Gefühl, „wir könnten jedes Problem mit unbegrenzten staatlichen Mitteln lösen, und die Wirtschaft kriegen wir hinterher wieder mit einem Konjunkturprogramm in Gang“, sagte der CDU-Politiker. „Der Staat kann aber nicht auf Dauer den Umsatz ersetzen“, betonte Schäuble. Es werde zu strukturellen Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik kommen.

Auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet sprach sich dafür aus, alle Seiten der derzeitigen Krise zu betrachten. „Ich werbe seit Wochen dafür, dass man ganzheitlich an das Problem herangeht. Dass man auch mal denkt, welche Schäden richten wir eigentlich an durch den Lockdown“, sagte er der ARD. „Wir müssen, so wie Wolfgang Schäuble das sagt, viel umfassender diskutieren und nicht jeden Tag nur auf die Infektionszahlen gucken.“

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht machte deutlich, dass sie die Sorgen von Bundeskanzlerin Angela Merkel um eine zu starke Lockerung der Corona Maßnahmen nicht nachvollziehen kann. „Je länger die Einschränkungen andauern, umso gründlicher und ausführlicher müssen sie begründet werden. Es geht um Nachvollziehbarkeit und um Transparenz“, sagte die SPD-Politikerin der „Welt am Sonntag“. Dies sei auch für die Akzeptanz in der Bevölkerung entscheidend.“

Demonstrationen und Klagen gegen Corona-Beschränkungen

In Berlin nahmen am Samstag derweil erneut mehrere Hundert Menschen an einer Demonstration teil, für die es keine Ausnahmegenehmigung wegen der derzeitigen Corona-Maßnahmen gab. Auf dem Rosa-Luxemburg-Platz versammelten sich demnach mehrere 300 Menschen, mehrere Hundert weitere Demonstranten versuchten dorthin zu kommen. Auch in anderen Städten, darunter Görlitz, Chemnitz, Dresden, Greifswald und Bremerhaven, wurde gegen die Corona-Auflagen demonstriert.

Möglicherweise werden kommende Woche auch Gerichte für Veränderungen sorgen. Bereits vergangenen Mittwoch hatte das Verwaltungsgericht Hamburg einem Kläger gegen die 800-Quadratmeter-Begrenzung recht gegeben. Das Gericht sah keine gesicherten Belege dafür, dass von größeren Verkaufsflächen allein eine höhere Anzie­hungs­kraft auf Kunden ausgehe. Nun muss das Oberverwaltungsgericht ein Urteil fällen. Entscheidungen werden etwa auch in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Sachsen und Niedersachsen erwartet.