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Schicksalstage für Wirecard – der einstige Riese ist angezählt

Die Finanzaufsicht wollte eine Insolvenzverschleppung verhindern. Für Teile des Wirecard-Konzerns stehen die ersten Interessenten bereit.

Die Krise und Insolvenz des Zahlungsdienstleisters Wirecard, bei denen über zwölf Milliarden Euro an Börsenwert vernichtet wurden, stehen für den größten Wirtschaftsskandal der Dax-Geschichte. Nun beginnt die komplexe Aufarbeitung. Eine Übersicht über die wichtigsten Fragen und Antworten in der Woche nach dem Absturz.

Bereits seit dem vorletzten Freitag hatten der neue Vorstandschef James Freis und Aufsichtsratschef Thomas Eichelmann mit den rund 15 Gläubigerbanken verhandelt. Unter Führung der Commerzbank, der Landesbank Baden-Württemberg und der beiden niederländischen Großbanken ABN Amro und ING haben sie Wirecard vor etwa zwei Jahren eine Kreditlinie über 1,75 Milliarden Euro gewährt. Ausgeschöpft waren hiervon 800 Millionen Euro, die die Banken am 30. Juni hätten fällig stellen können, und 500 Millionen Euro mit der Frist 1. Juli.

Die Banken wurden von der Insolvenzmeldung am vergangenen Donnerstag überrascht. Bis zuletzt habe es konstruktive Verhandlungen mit dem Konzern gegeben, hieß es aus Kreisen des Konsortiums. Jetzt hat der designierte Insolvenzverwalter Michael Jaffé das Sagen. Noch am Mittwochabend hatten Insider auf einen sogenannten Waiver, eine Verlängerung des Kreditrahmens bis zum Jahresende, gehofft. Das hätte der neuen Führung die Chance gegeben, den Konzern im laufenden Betrieb zu restrukturieren.

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Neben der Schwierigkeit, die werthaltigen Teile Wirecards zu identifizieren, insbesondere die Profitabilität des Europa- und Amerikageschäfts, hat nach Informationen des Handelsblatts vor allem eine Intervention der Finanzaufsicht Bafin von Mittwoch auf Donnerstag den Ausschlag für die Insolvenzmeldung gegeben.

Die Bafin habe Freis und Eichelmann nachdrücklich zu verstehen gegeben, dass man nicht das Risiko einer Insolvenzverschleppung oder des Abflusses weiterer Gelder eingehen könnte, heißt es von mehreren mit dem Vorgang vertrauten Personen. Gerade dem Compliance-Experten Freis, den Wirecard gerade erst von der Deutschen Börse abgeworben hatte, seien die verbundenen Haftungsfragen und möglichen strafrechtlichen Konsequenzen genau bewusst gewesen. Die Aufsichtsbehörde wollte den Vorgang auf Anfrage nicht kommentieren.

Welche Zukunftschancen gibt es?

Auch wenn an der Insolvenzmeldung für die Holding – die Wirecard Bank AG und die Landesgesellschaften sind davon nicht betroffen – am Ende wohl kein Weg vorbei führte, war die Außenwirkung für den Konzern verheerend. Die Bafin und die britische Aufsicht FCA, die der dortigen Tochter das Einfrieren des Geschäftsbetriebs auferlegt hatte, hätten die Restrukturierungsbemühungen torpediert, lautet eine Sicht in Aschheim. An einer Zerschlagung des Konzerns führe nun kein Weg vorbei, glauben mehrere Insider.

Kurz vor der Insolvenz hatte die Konzernführung noch verschiedene Möglichkeiten durchgespielt. So habe es einen profitablen Business Case etwa für das europäische Kerngeschäft gegeben, heißt es. Die ersten Interessenten klopfen Insidern zufolge bereits bei Wirecard an, darunter Private-Equity-Häuser, Konkurrenten und Investmentbanken im Auftrag ungenannter Dritter. Viele seien jedoch auf Informationen oder Kundenportfolios aus, weniger an der Technik Wirecards interessiert, was ein schlechtes Signal für die rund 5000 Mitarbeiter wäre.

Nach Informationen des Handelsblatts zählen zu den Interessenten unter anderem der französische Zahlungsabwickler Worldline. Worldline wollte das nicht kommentieren. Wie ernsthaft das Interesse ist, ist offen. Worldline muss aktuell eine große Übernahme stemmen, übernimmt den Wettbewerber Ingenico für fast acht Milliarden Euro. Die beiden Unternehmen werden damit zu einem der größten Zahlungsdienstleister weltweit. Ingenico ist über ein Gemeinschaftsunternehmen mit den deutschen Sparkassen in Deutschland aktiv. Auch der Konkurrent Nets aus Singapur gilt als ein möglicher Interessent.

Nicht interessiert zeigt sich der niederländische Wettbewerber Adyen. Er betont stets, dass er grundsätzlich keine Zukäufe tätigt und vielmehr aus eigener Kraft wachsen will. Seine Aktie erklomm vergangene Woche ein weiteres Rekordhoch.

Auch ein Management-Buy-out einzelner Tochtergesellschaften wird derzeit erwogen. Darüber hinaus kursiert im Netz bereits eine wachsende Liste mit den Daten von über 400 Wirecard-Angestellten, die auf der Suche nach einem neuen Arbeitgeber sind.

Wie reagieren die Kunden?

Wirecards Kunden zeigen sich aufgrund der schwierigen Lage zunehmend verunsichert. Die ersten Partner, darunter der Fahrdienst Grab und die Smart‧phone-Bank Revolut, sind bereits von der Fahne gegangen.

Entscheidend dürfte nun sein, wie die beiden großen Kreditkartennetzwerke Visa und Mastercard reagieren. Sollten diese Wirecard die Lizenzen für die Herausgabe und Akzeptanz ihrer Kreditkarten entziehen, hätte der Konzern ein großes Problem. Im Falle der Kündigung oder Aufhebung dieser Lizenzverträge würde die Geschäftstätigkeit von Wirecard beziehungsweise der Wirecard Bank „erheblich beeinträchtig werden“, hieß es bereits im Geschäftsbericht 2018.

Laut Bloomberg haben Visa und Mastercard bereits begonnen, Wirecard-Kunden zu kontaktieren, um sie auf die Möglichkeit vorzubereiten, dass Wirecards Zugang zu ihren Netzwerken entzogen werden könnte. Die Nachrichtenagentur beruft sich hierbei auf mit der Angelegenheit vertraute Personen.

Wie läuft die interne Aufklärung?

Das infrage gestellte Drittpartner-Geschäft werde geprüft, erklärte der Konzern am Samstag: „Der neu eingesetzte CEO der Wirecard AG, James H. Freis, Jr., hat sofort mit Amtsantritt einen neuen Ansatz zur Aufklärung der bekannten Vorwürfe eingeleitet.“ Neben anderen Maßnahmen, die nicht näher erläutert wurden, seien neue Beraterfirmen beauftragt worden, „um die Neutralität und insbesondere Unabhängigkeit von den früheren Vorständen der Wirecard AG zu gewährleisten“.

Dabei wurde der erst vor wenigen Wochen eingeschalteten Kanzlei Ufer Knauer das Mandat entzogen – die Staatsanwaltschaft war indes mit der bisherigen Zusammenarbeit durchaus zufrieden. Stattdessen übernahm nun die Kanzlei Luther.

Nur eingeschränkt wurde laut dem Branchendienst Juve indes die Zusammenarbeit mit der Sozietät Gibson Dunn. Sie war seit Längerem in zentraler Position bei Wirecard engagiert, beriet seit Jahren in Fragen des Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts sowie zu Compliancethemen. Einen Großteil der Aufgaben sollen nun die Anwälte von Gleiss Lutz übernommen haben. Die Kanzlei ist derzeit auch in einem anderen großen Skandal tätig: Sie berät den Aufsichtsrat von Volkswagen im Dieselskandal.

Im Wirecard-Skandal verdichten sich unterdessen die Hinweise, dass auch reale Gelder in hoher Millionensumme in unbekannte Kanäle abgeflossen sein könnten. Nach Handelsblatt-Informationen haben Ermittler, Anwälte und Prüfer in den vergangenen Tagen immer mehr Ungereimtheiten gefunden. Konkret soll es dabei unter anderem um einen Zukauf zu einem überhöhten Kaufpreis in Indien gehen. Dieser Zukauf war im Oktober 2015 der größte der Firmengeschichte. Darüber hinaus verfolgen die Ermittler den Fluss unbesicherter Kredite, die gewährt worden sind und deren tatsächliche Empfänger unklar sind.

Was sind die politischen Konsequenzen?

Angesichts des Skandals will die Bundesregierung den Vertrag mit der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) kündigen. Finanzstaatssekretär Jörg Kukies bestätigte in der "Financial Times", dass künftig die Bafin direkt selbst ermittle anstatt die DPR zu beauftragen. Bislang kontrollierte der privatrechtlich organisierte Verein DPR im Staatsauftrag die Bilanzen. Kukies nannte die Wirecard-Affäre einen Weckruf, um schon lange bestehende Probleme anzugehen. Es müssten radikale Lösungen gefunden werden. Wie die neuen Strukturen genau aussehen sollen, darüber wird derzeit in der Bundesregierung diskutiert.

Die Bafin selbst bleibt in der Kritik. Am Montag tagt der Bafin-Verwaltungsrat, der sich mit der Frage beschäftigen muss, warum die Behörde nicht früher eingeschritten ist. Die Behörde hatte bereits Anfang 2019 Insiderinformationen auf Unregelmäßigkeiten erhalten.

„Es gab ein Totalversagen sämtlicher Kontrollmechanismen. Aufsichtsrat, Interne Revision, Wirtschaftsprüfer und Bankenaufsicht – niemand ist seiner Verantwortung gerecht geworden“, kritisierte der Grünen-Finanzexperte Sven Giegold. „Es ist völlig unverständlich, dass intern und extern niemand den groben Unstimmigkeiten auf den Grund gegangen ist“, sagte der Europaparlamentarier weiter.

Am Mittwoch muss Bafin-Präsident Felix Hufeld im Finanzausschuss Rede und Antwort stehen. Er hatte bereits Fehler seiner Behörde eingeräumt. Auch strukturelle Probleme spielten eine Rolle: So hat sich die Bafin zwar um die Wirecard Bank gekümmert, war aber für den Restkonzern nicht zuständig. Die Bafin verweist auf Anfrage auf die Deutsche Prüfstelle: „Zuständig für die Bilanzprüfung ist auf erster Stufe allein die DPR. Und die haben wir umgehend beauftragt. Dort hat die Prüfung so lange gedauert“, erklärte die Bafin auf Anfrage.

Laut der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ soll in der DPR in den vergangenen 16 Monaten im Wesentlichen nur ein Mitarbeiter mit der Prüfung der Vorwürfe betraut gewesen sein. „Bei der Bafin waren und sind eine Vielzahl von Mitarbeitern mit dem Fall Wirecard befasst, über verschiedene Geschäftsbereiche hinweg“, betont die Bafin dagegen.

Der Bafin und der DPR drohen nun Klagen: Die Berliner Rechtsanwälte Marc Liebscher und Wolfgang Schirp haben angekündigt, Sammelklagen wegen „Staatshaftung“ vorzubereiten. Grund sei das Versagen der Aufsichtsbehörden im Fall Wirecard. „Aus den Presseberichten und Aussagen der Verantwortlichen wird deutlich, dass Bafin und DPR krasse Fehler gemacht haben. Dafür werden wir die Bundesrepublik für unsere Mandanten auf Schadensersatz verklagen“, erklärte Liebscher.

Wo ist Jan Marsalek?

Wirecards langjähriger Konzernchef Markus Braun hatte sich am vergangenen Montag der Staatsanwaltschaft München gestellt und war gegen Zahlung von fünf Millionen Euro Kaution am Dienstag aus der Haft entlassen worden.

Weiter auf freiem Fuß ist der gekündigte ehemalige Organisationsvorstand und Asien-Manager Jan Marsalek. Gegen ihn liegt ein Haftbefehl vor. Zuletzt wurde Marsalek auf den Philippinen vermutet. Angeblich soll er von dort in Richtung China ausgereist sein, entsprechende Videoaufnahmen des Flughafens zeigen ihn jedoch nicht beim Verlassen des Landes. Marsaleks Anwalt wollte sich auf Nachfrage zu den Vorwürfen und seinem Verbleib nicht äußern.

Zuletzt war vermutet worden, dass sich Marsalek Anfang der Woche den Fahndern rund um die Münchener Oberstaatsanwältin Hildegard Bäumler-Hösl, einer Expertin für schwierige Wirtschaftsstraffälle, stellen könnte. Nun sei man sich da nicht mehr sicher, heißt es aus seinem Umfeld.

Hinweis: In einer früheren Version des Textes schrieben wir, dass Nets aus Singapur den Vorgang auf Anfrage nicht kommentieren wollte. Konfrontiert mit dem Kaufinteresse hat das Handelsblatt jedoch den gleichnamigen Zahlungsdienstleister aus Dänemark. Wir haben die entsprechende Passage angepasst.