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Scheitert Bolsonaro in Brasilien, droht Südamerika das Chaos

Die tägliche Agenda des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro ist überschaubar. Fast jeden Tag besucht der ehemalige Hauptmann Kasernen, Truppenübungsplätze oder Polizeistationen im Land. Er verteilt Orden, lässt sich von seinen Kameraden ehren oder nimmt Truppenübungen ab.

Seit dem 1. Januar regiert Bolsonaro Brasilien – oder besser: Er sollte regieren. Denn um die eigentlichen Regierungsgeschäfte kümmert sich der Rechtspopulist eher wenig. Sie scheinen ihn nicht zu interessieren. Vor der weltweiten Wirtschaftselite in Davos sprach er gerade mal sechs Minuten.

Dabei waren 45 Minuten Redezeit für ihn vorgesehen. Zum Glück – meinen viele in Brasilien. Denn wenn sich Bolsonaro wenig kenntnisreich zur anstehenden Rentenreform äußert, den Karneval mit obszönen Twitter-Videos verunglimpft oder seinen Präsidialamtsleiter auf Druck seiner Söhne entlässt – dann werden die Finanzmärkte nervös: Der Real ist in den vergangenen Wochen eine der am stärksten schwankenden Währungen der Schwellenländer.

Die Nervosität hat einen guten Grund: Investoren und Unternehmer weltweit blicken derzeit gespannt auf Brasilien – und das Experiment, das der neue Präsident mit den Startschwierigkeiten dort eigentlich vorhat. Das Amazonasland ist nicht nur die mit Abstand größte Volkswirtschaft Südamerikas.

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Brasilien ist auch so etwas wie ein Frühindikator für das ökonomische Wohlergehen eines ganzen Kontinents. Ob Brasilien wieder abrutscht in Hochinflation, Rezession und wirtschaftliche Isolation oder ob der ewige „Hoffnungsträger“ aus Südamerika endlich sein großes Potenzial nutzen kann, hängt von Bolsonaro ab.

Die entscheidende Frage ist: Hat der Rechtspopulist die Durchsetzungskraft und den politischen Willen, endlich die Wirtschaftsreformen umzusetzen, die Brasilien unbedingt braucht? Oder erliegt der im In- und Ausland höchst umstrittene Staatschef der Versuchung, seine Klientel zu bedienen – mit seinen reaktionären, homophoben, demokratiefeindlichen, frauenverachtenden Tweets?

Der Prüfstein für Bolsonaros Präsidentschaft ist die geplante Rentenreform. Gelingt sie nicht oder nur halbherzig, droht dem leidgeplagten Land die nächste Finanzkrise. Eine neue Krisenspirale wäre dann unvermeidbar. Der Grund: die prekäre finanzielle Lage des Staats.

Ein riesiges Haushaltsdefizit

Das Haushaltsdefizit beträgt mehr als acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Das ist eines der größten Budgetdefizite weltweit. Die Staatsschulden betragen zwar knapp 90 Prozent des BIP. Das scheint aus der Perspektive von Industriestaaten kein ganz schlechter Wert zu sein. Aus Sicht eines Schwellenlandes ist es eine bedrohliche Höhe. Und vor allem: Die Staatsverschuldung wächst rasant.

Nur mit einer Rentenreform, Privatisierungen und starken Einschnitten kann die Regierung das Haushaltsdefizit reduzieren und wieder Vertrauen schaffen. Scheitert die Regierung mit der Rentenreform und dem damit verbundenen Sparkurs, wird Brasilien in kurzer Zeit wieder abrutschen in einen Zustand, den das Land in seiner ereignisreichen Geschichte so häufig erleben musste: Hochinflation und Rezession. Dann müsste der Staat wieder die Notenpresse anwerfen, um das Defizit zu finanzieren.

„Für ausländische Investoren ist die erfolgreiche Reform des Pensionssystems so etwas wie der fehlende Beweis, dass diese Regierung funktioniert“, sagt Fabio Ramos, Chefökonom von der Schweizer Privatbank UBS in Brasilien. Auch die brasilianischen Unternehmer und Konsumenten warten ab, ob die Regierung die Privilegien der Beamten, Richter und Militärs bei ihren Pensionen beschneiden wird – bevor sie investieren oder ein Auto kaufen, beobachtet Ramos.

Der unerledigte Reformstau ist der Grund dafür, dass sich die Wirtschaft auch nur so langsam erholt nach der dreijährigen Rezession. Zwischen 2014 und 2016 schrumpfte die Wirtschaftskraft Brasiliens um 8,2 Prozent. Das Pro-Kopf-Einkommen der 208 Millionen Brasilianer ist seit 2011 zeitweise um fast ein Drittel gesunken und seitdem kaum gestiegen.

Auch die Arbeitslosigkeit von rund zwölf Prozent hält sich hartnäckig. „Es ist der langsamste Aufschwung nach einer Rezession in Brasiliens Geschichte“, sagt Alberto Ramos, Chefökonom für Lateinamerika von Goldman Sachs. In den zwei Jahren nach der Rezession ist das brasilianische Bruttoinlandsprodukt nur 3,4 Prozent gewachsen.

Bolsonaro konnte in seinen 100 Regierungstagen nicht die Zweifel zerstreuen, ob er die Reformen tatsächlich durchsetzen will – oder kann. „Eine Rentenreform ist in jedem Land kompliziert“, sagt Mario Mesquita, Chefökonom von Itaú Unibanco. „Aber sie wird schwieriger, wenn die Regierung nicht geschlossen dahintersteht.“ Bisher fiel die Unterstützung durch den Präsidenten nur halbherzig aus.

Eine Regierung der Technokraten

Bolsonaro ist in seinem Element, wenn er Paraguays Ex-Diktator Stroessner als Staatsmann loben oder über den schädlichen Einfluss von Sexualkundeunterricht auf die Ehe und Familie schimpfen kann. Doch wenn er die Rentenreform verteidigen soll, von der seine Zukunft als Präsident abhängt – dann wird er einsilbig, als würde er vom Teleprompter ablesen. „Ich wäre nicht überrascht, wenn die Reformanstrengungen für das Rentensystem nur stark reduziert und verzögert verabschiedet werden“, fürchtet Per Hammarlund, Chefstratege für Emerging Markets der Skandinavischen Privatbank SEB.

Andererseits könnte die Regierung schnell die Früchte der Reform ernten, so sie denn gelingt. Trotz der dramatischen Verschuldungsdynamik des Staates steht Brasilien im Vergleich zu den meisten Emerging Markets weltweit relativ solide da: Die Landwirtschaft und der Bergbau gleichen mit ihren Dollar-Einnahmen aus den Exporten die Leistungsbilanz weitgehend aus und sorgen für volle Devisenkassen.

Die Auslandsverschuldung Brasiliens ist relativ gering. Mit Devisenreserven von 400 Milliarden Dollar ist Brasilien sogar Dollar-Gläubiger des Weltfinanzsystems. Es besteht kein Risiko eines Defaults, also eines Zahlungsstopps auf die ausländischen Verpflichtungen – wie im Fall von Argentinien oder der Türkei.

Die Zentralbank kann die Zinsen bei 6,5 Prozent historisch niedrig halten und hat wegen der wirtschaftlichen Stagnation trotzdem die Inflation im Griff. Mit 4,4 Prozent Inflation in den letzten zwölf Monaten ist Brasiliens Entwertung so niedrig wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. „Die Zuversicht war schon lange nicht mehr so groß, wie derzeit“, sagt Ramos von der UBS in Brasilien.

Der Grund für diese Zuversicht ist nicht Bolsonaro selbst, der Grund liegt vor allem in der Wirtschaftskompetenz seines Kabinetts: Einerseits hat der Investmentbanker Paulo Guedes dort als Superminister für Wirtschaft, Finanzen und Planung alle relevanten Stellen für die Wirtschaft mit Spitzenpersonal aus der Wirtschaft, Verwaltung und Finanzindustrie besetzt. Für die Führungen der Staatsunternehmen wie Petrobras, Banco do Brasil genauso wie der Zentralbank oder der Förderbank BNDES suchte er erfahrenen Experten aus. Das Parteibuch war kein Auswahlkriterium. Entscheidender waren für den neoliberalen Guedes Erfahrungen des neuen Personals mit staatlicher Bürokratie sowie eine Promotion an einer ausländischen Wirtschaftsfakultät – bevorzugt an der Chicago University. „Es sind hochkarätige Wirtschaftsexperten, die auch zuhören können“, sagt André Clark, Brasilienchef von Siemens. „Sie arbeiten gemeinsam als Team an den Reformen und sind überzeugt, dass die notwendig sind für die Wirtschaft.“

Deutsche Firmen stark engagiert

Der Siemens-Chef ist wie die meisten Unternehmer derzeit optimistisch: „Im Gegensatz zum Rest der Welt erscheint Brasilien derzeit wie eine Insel der Stabilität.“ Zwar haben die Investmentbanken nach der Umfrage der Zentralbank gerade die Wachstumserwartungen für 2019 auf 2,3 Prozent reduziert. Doch das ist immer noch mehr als doppelt so viel wie im vergangenen Jahr. „Die Welt stellt sich auf Rezession ein, Brasilien beginnt zu wachsen“, sagt Clark. Als kurzfristigen Wachstumstreiber sieht er vor allem den Energiesektor, besonders die Stromverteilung, wo sich zunehmen ausländische Konzerne engagieren. Auch bei Öl und Gas sind die Multis bei den Auktionen der Förderlizenzen eingestiegen.

Bei der Versteigerung der Flughafenlizenzen vor zwei Wochen zahlten ausländische Investoren wie die Flughafen Zürich AG oder der spanische Betreiber Aena Aufschläge von rund 1.000 Prozent auf den Mindestpreis für zwölf Flughäfen. In der Landwirtschaft erweitern die Konzerne die Wertschöpfungsketten in Richtung Lebensmittel.

Deswegen hat die Koelnmesse nun mit Anufood in São Paulo einen Ableger der Anuga eröffnet. „Auch das Thema Industrie 4.0 gehen die Brasilianer im Hochtempo an“, sagt Clark. Die anziehende Konjunktur beschert einigen Firmen bereits jetzt starke Umsatzzuwächse. So verbuchte die VW-Nutzfahrzeugtochter Traton (MAN, Scania) 2018 einen Absatzrekord – vor allem wegen der Erholung in Brasilien. 40 Prozent wuchs dort im vergangenen Jahr der Umsatz mit Bussen und Trucks.

Deutschland ist im vergangenen Jahr nach den USA und den Niederlanden zur Nummer drei aufgestiegen, was die Direktinvestitionen angeht. Die größten Engagements stemmten der Flughafenbetreiber Fraport, der Treibstoffhändler Oiltanking sowie der Energiekonzern RWE. In den vergangenen zwölf Monaten investierten mehrere deutsche Fonds in brasilianische Fintechs, Bertelsmann investierte in ein Bildungsunternehmen und Fresenius in eine Laborkette. Seit 2016 – also inmitten der schweren politischen Krise Brasiliens nach dem Impeachment und Korruptionsskandalen – steigerten deutsche Unternehmen ihre Direktinvestitionen von 1,8 auf zuletzt 3,8 Milliarden Dollar. Der Grund, beobachtet Marcelo Mansur, zuständig für deutsche Investoren bei Mattos Filho, einer der führenden Wirtschaftskanzleien Brasiliens: „Brasilien ist trotz aller Krisen im Vergleich zu vielen Emerging Markets politisch stabil.“

Der Anwalt rät: „Man sollte die politischen Kommentare Bolsonaros am besten ignorieren.“ Entscheidend sei, dass Bolsonaros Wirtschaftsteam darauf fokussiert sei, das Wachstum voranzutreiben und die Produktivität der brasilianischen Wirtschaft zu steigern. Das Risiko bleibt, dass der Präsident das so nicht sieht.