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„Schatz, ich glaub, ich hab‘ zu viel bestellt“

Dank der Corona-Beschränkungen profitieren Lieferdienste, so auch der Tiefkühlkost-Bringdienst Eismann. Unterwegs mit einem Eismann-Fahrer im rheinischen Erftstadt – zwischen Einfamilienhäusern und Homeoffice-Managern.

Um kurz vor elf an einem trüben Novemberdonnerstag klingelt Nicola Staiti an der Tür eines Eckhauses in Erftstadt-Liblar, 25 Kilometer südwestlich von Köln. Er trägt Jeans, einen grauen Pullover, darüber eine rote Weste mit dem Schriftzug „eismann“, sowie einen schwarzen Mund-Nasen-Schutz. Eine Frau mittleren Alters öffnet und entschwindet sogleich wieder, weil gleichzeitig das Telefon klingelt. Ihr Mann erscheint in der Tür. Typ Manager im Homeoffice. Er trägt eine blaue Leggins, als komme er gerade vom Yoga. „Guten Morgen!“, eröffnet Staiti fröhlich. „Sie haben ja fleißig vorbestellt.“ „Ja, hab‘ ich“, antwortet der Mann, direkt im kumpelhaften Plaudermodus. „Hör mal, das eine Eis, dieses…“
- „Amarena-Eisbecher?“, fragt Staiti.
- „Das ist okay…“
- „Malaga-Eis?“
- „Das ist auch okay. Und das dritte lässt Du weg.“
- „Belgische Schokolade?“
- „Ja! Das macht einfach zu fett das Zeug.“

Der Mann lacht und hält sich den Bauch. Staiti tippt etwas in ein graues, handygroßes Gerät, was mit den vielen bunten Knöpfen und dem schwarz-weiß-Bildschirm an einen alten Game-Boy erinnert. Der Mann nimmt dann noch den Rotkohl, den Rosenkohl und, ja, warum nicht, auch das Cordon Bleu, denn dazu gibt es diesmal die Erbsen gratis. Und die Nudel-Rindfleisch-Pfanne „Stroganoff“? Nein, keine Fertiggerichte. Staiti tippt und tippt. Dann läuft er schnell ums Grundstück zu seinem roten Lieferwagen, streift sich blaue Engelbert-Strauss-Handschuhe über, öffnet die einzelnen Fächer des Tiefkühlschranks auf seiner Ladefläche und fischt nacheinander Rotkohl, Rosenkohl, Erbsen, Cordon Bleu und zum Schluss die Eiscremes heraus, und stapelt alles in einer roten Klappbox. Diese stellt er anschließend seinem Kunden vor die Tür und packt alles in eine zweite Box, die der Mann dort abgestellt hat. Bezahlung per Paypal; am 10.12. komme er dann wieder. Während der Mann die Tür schließt, ruft er ins Haus: „Schatz, ich glaub ich hab‘ zu viel bestellt.“

Nicola Staiti (gesprochen: Sta-iti) ist 33 Jahre alt und Eismann. So nennen zumindest die Mitarbeiter der Firma Eismann sich selbst. Das passt auch: Der Frauenanteil unter den „Eismännern“ beträgt im Bundesdurchschnitt rund fünf Prozent. Der 1974 gegründete Tiefkühlkost-Lieferdienst mit Sitz im rheinischen Mettmann hat viel zu tun in dieser Corona-Zeit – wie fast alle anderen Lieferdienste verzeichnen auch die Eismänner eine steigende Nachfrage. Bis Ende Oktober liegt der Eismann-Umsatz mehr als 20 Prozent über dem Vorjahresniveau. Die Umsätze, die über Vorbestellungen mit der neuen App generiert wurden, haben sich verdoppelt.

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Fast alle Kunden trifft er nun zu Hause an

Wenn man Nicola Staiti auf einer seiner Touren begleitet, fällt der Corona-Effekt jedoch kleiner, unscheinbarer aus, als man angesichts dieser Zahlen erwarten könnte. Ein großer wie zugleich praktischer Unterschied zur Vor-Corona-Zeit, sagt Staiti, sei der Umstand, dass er nun fast alle Kunden zu Hause antreffe – egal zu welcher Uhrzeit. Das erhöht natürlich den Umsatz. Staiti hat rund 750 Kunden, verteilt auf 15 verschiedene Touren. Auf seinem heutigen Routenzettel stehen 54 Namen. Die Tour dauert etwa von 9 bis 18 Uhr. Hinter jedem Namen steht, seit wann jemand Eismann-Kunde ist und für wie viel er beim letzten Besuch gekauft hat. Bei einigen, wie dem eisliebenden Manager im Homeoffice, hat Staiti sich zusätzliche Notizen gemacht: „Paypal“ und „08:30 Uhr Telko“. „Hier darf ich erst nach 10 Uhr klingeln“, erklärt Staiti.

Sein Arbeitstag beginnt an diesem Tag gegen 7 Uhr: Staiti fährt von seiner Wohnung in Köln zur Eismann-Niederlassung in Troisdorf-Spich; ein graues Gewerbegebiet nahe des Köln-Bonner Flughafens. In einer braunen Lagerhalle steht sein Eismann-Transporter, das Starkstromkabel steckt noch im Tiefkühler auf der Ladefläche. Minus 40 Grad zeigt das Thermometer. Im Laufe einer Tour darf die Temperatur minus 20 Grad nicht überschreiten. Heute ist nicht viel los in der Niederlassung: Die neue Tiefkühlware kommt erst morgen. Staiti holt sich vor der Abfahrt noch einen Kaffee in der Küche.

In einem zweckmäßig eingerichteten Besprechungsraum sitzt Robert Evers (34). Er leitet die Eismann-Niederlassung Köln/Bonn. Neben der Eingangstür hängen ausgedruckte, engbeschriebene Listen an der Wand, darauf: die Zahlen vom gestrigen Tag. 40,47 Euro pro Bestellung im Schnitt. Knapp unter dem bisherigen Monats-Durchschnitt von 43 Euro, sagt Evers. Der Herr Staiti habe beim letzten Mal auf seiner Tour durch Erftstadt-Liblar, vor drei Wochen, knapp über 1.200 Euro gemacht. „Heute dürfte er mehr machen“, sagt Evers. Er ist guter Dinge. Vor wenigen Tagen erst hat er eine Runde Neukundenakquise gemacht, hat Eismann-Kataloge verteilt und zwei Tage später nachgefragt, ob die Leute etwas bestellen wollen. Normalerweise, also vor Corona, sagt Evers, bestellte einer von zehn. „Gestern lag die Quote bei eins zu fünf.“

Evers‘ Gebiet umfasst eine Region von Bad-Neuenahr im Norden von Rheinland-Pfalz bis zum Düsseldorfer Süden; im Osten geht es bis Bergisch-Gladbach, im Westen bis Euskirchen. 20 Fahrer und eine Fahrerin kümmern sich in diesem Gebiet um die rund 14.000 Eismann-Kunden. Frage: Ist eine Millionenstadt wie Köln gut für das Eismann-Business? Einerseits, antwortet Evers, bedeuteten die vielen Haushalte auf teils dichtem Raum mit einer relativ hohen Kaufkraft zunächst viele potenzielle Kunden. Andererseits, sagt er, sei in der Großstadt auch das Angebot von Supermärkten sehr hoch; und die vielen Studierenden zählen auch nicht zur Eismann-Kernkundschaft. Ideal seien Städte wie Bergisch-Gladbach plus Umland, erklärt Evers: überdurchschnittliche Kaufkraft, aber mit vielen ländlichen Gebieten.

Bei Eismann steht man untereinander im Wettbewerb

Der Standort Köln/Bonn gehört zu einer von 16 Niederlassungen in einem sogenannten Großdistrikt: Eismann-Chef Elmar Westermeyer hat zu Beginn des Jahres, als er den Job angetreten hat, die Deutschland-Karte neu unterteilt in fünf Großdistrikte. Jener, in dem Evers und Staiti arbeiten, reicht von Düsseldorf bis Karlsruhe. Man sei natürlich eine Familie, sagt Evers. Aber im Eismann-Universum betrachtet man das Geschäft auch untereinander als Wettbewerb: zwischen den fünf Deutschland-Distrikten, zwischen den 62 Niederlassungen und auch in den Niederlassungen zwischen den einzelnen Fahrern.

Mehrere Tabellen, die im Troisdorfer Büro an den Wänden hängen, zeugen davon. Da wird ermittelt, welcher Fahrer dieser Niederlassung in der Vorweihnachtszeit die meisten Backwaren verkauft, wer übers Jahr den meisten Umsatz macht – und welche der 62 Eismann-Filialen den Titel „Niederlassung des Jahres“ gewinnen wird. Im Moment, zeigt Evers an einer weiteren Tabelle, liegt sein Team im Jahresvergleich auf Platz drei, hinter Erlangen und Hannover. „Hannover kriegen wir noch“, sagt er. Aber Erlangen dürfte schwierig werden: sehr hohe Kaufkraft in der Region.


Ausgerechnet die Vorweihnachtszeit ist nun nicht stärker nachgefragt als sonst

Bis Mittag hat Nicola Staiti bereits mehr verkauft als im Vergleichszeitraum auf seiner letzten Tour durch Erftstadt-Liblar. Er hat einer Mutter in einer Doppelhaushälfte mit Tortellini „den Tag gerettet“, hat einen Neukunden zum ersten Mal beliefert und auch bei den wenigen Spontankäufen alle zufrieden gestellt. Eine Kundin droht, ohne den Brokkoli-Salat dürfe Staiti nicht mehr wiederkommen: „Der geilste Salat auf der Welt!“ Sie nimmt vier Packungen. Nur bei der Asia-Hähnchen-Pfanne „Teriyaki“ muss er einmal passen. Und dann ist da noch das große Drama mit der Ente: Die ist bereits ausverkauft. Dabei sind es doch noch sechs Wochen bis Weihnachten! Eine Kundin erzählt, an Weihnachten werde sie sich „einigeln“, wisse aber noch nicht, mit wem aus der Familie sie sich wann treffe: „Wir sind drei Haushalte. Mal schauen, was da noch kommt.“

Nur zwei Kundinnen bitten den Fahrer ins Haus

Staitis Kunden wohnen fast ausnahmslos in großen Einfamilienhäusern. Oft freistehend und mit Gärten. Man schaut in gepflegte, teilweise glänzende Dielen. Eine Kundin beschwert sich, Eismann-Produkte seien „zu teuer“, das solle man ruhig mal schreiben. „Aber so lange ich es mir leisten kann, mache ich das.“ Es bleibt unklar, ob sie es ernst meint. Als sie außer Hörweite ist, murmelt Staiti: Die bestellt auch bei Bofrost. Bis auf zwei Ausnahmen sind alle Kunden im Rentenalter. Nur eine Minderheit zahlt in bar. Auffällig: Nur zwei Kundinnen bitten ihn ins Haus; einer Frau, über 80 Jahre alt, trägt er die Tüten in den Gefrierschrank im Keller und bringt ihr anschließend den Kellerschlüssel wieder hoch.

Um 14 Uhr, als Staiti gerade aus dem Haus einer Kundin kommt, parkt ein gelber DHL-Wagen auf der anderen Straßenseite. Staiti bleibt stehen und wartet, bis der DHL-Fahrer ausgestiegen ist, dann hebt er die Hand. „Wie viele Pakete hast Du?“, ruft er. „217“, antwortet der Post-Mann auf der anderen Straßenseite. „217?“, fragt Staiti mit gespielter Ungläubigkeit, „das ist ne Hausnummer.“ Er lacht. „Gut, dass ich gewechselt bin. Willst Du ein Eis?“

Bevor Nicola Staiti 2017 selbständiger Eismann-Fahrer wurde, arbeitete er auch bei der Post: rund sechs Jahre fuhr er Pakete aus in Köln-Hahnwald, einem Villenviertel im Süden Kölns. Als die Post ihm wegen angeblich zu vieler Krankheitstage seine Route wegnahm, ging Staiti. Ein Ex-Kollege war da schon zu Eismann gewechselt und hatte Gutes erzählt. Staiti sagt, er verdiene nun mehr als bei der Post. „Jetzt bin ich sehr zufrieden.“ Ihm gefalle, dass er es selbst in der Hand habe: „Je mehr ich mich anstrenge, desto mehr lohnt es sich.“ Geboren und aufgewachsen ist Staiti in Köln. Seine Eltern sind Sizilianer, genauso wie der Vater seiner Freundin. Staiti hat zwei Kinder. In den Sommerferien fliegt die Familie fast immer nach Catania. Nach der Schule jobbte er in italienischen Restaurants in Köln, zapfte Kölsch, backte Pizzen. Ein Jahr baute er als Leiharbeiter bei Rimowa die Koffer zusammen, bis ihn seine Freundin auf ein Stellengesuch der Post aufmerksam machte.

In diesem Jahr schon 70 neue Eismann Fahrer – viele aus der Gastronomie

Und nun, seit dreieinhalb Jahren, selbständig – für Eismann. Den aktuellen Corona-Aufschwung kann Eismann gut gebrauchen. Denn eigentlich befindet sich das Geschäft im Niedergang. Lag der Deutschland-Umsatz 2014 noch bei 196 Euro, war er zuletzt, vor Corona, auf 163 Millionen Euro gesunken. Und zu allem Überfluss ist der Konkurrent Bofrost, wenngleich vor Corona ebenfalls mit leicht sinkenden Umsätzen kämpfend, immer noch deutlich größer: 2018 erwirtschaftete die Firma allein in Deutschland knapp 713 Millionen Euro. Dank Corona kann Eismann endlich mal wieder steigende Zahlen verkünden. In diesem Jahr, teilt das Unternehmen mit, verzeichne man schon 70 neue Fahrer; und „durch die hohe Nachfrage ist noch Potenzial für mindestens genauso viele Handelsvertreter.“ Gerade aus der Gastronomie habe man zahlreiche „gute Leute“ für das Geschäftsmodell gewinnen können. Und um noch mehr Fahrer überzeugen zu können habe Eismann „das Provisionsmodell verändert und insbesondere in der Startphase deutlich mehr Geld draufgepackt“. Dank der hohen Nachfrage zahle man in diesem Jahr „die höchsten Provisionen der Firmengeschichte“.

Nach rund fünf Stunden gönnt Staiti sich eine Zigarette. Es ist seine erste Pause – wobei er das Fahren zwischen den Kunden auch als indirekte Pause versteht. Was ist anders in diesem Jahr? Viel Kundenzuwachs, mehr Umsatz, sagt er. „März, April und Mai waren drei sehr gute Monate.“ Dann sei es im Sommer wieder etwas runtergegangen, aber auf höherem Niveau als in den Vorjahren. Und die aktuelle Vorweihnachtszeit sei ohnehin mit die stärkste Zeit des Jahres für Eismann, aber ausgerechnet diese Zeit, mit dem zweiten Teil-Lockdown, sei nun kaum stärker als sonst. Warum? „Die Leute können ja nicht planen.“ Man könne schließlich nicht drei Enten bestellen – und dann stelle sich heraus, die Familie dürfe an den Weihnachtstagen nicht kommen: „Was machen die denn dann?“

Um 19 Uhr kommt Staiti wieder in der Niederlassung in Troisdorf-Spich an. Er steckt den Starkstromstecker in den Gefrierschrank seines Transporters und setzt sich in sein Auto, um nach Köln zu seiner Familie fahren. Sein Tagesumsatz: 1.437 Euro. Fast derselbe Betrag wie am Tag zuvor – und mehr, als er beim letzten Mal in Erftstadt-Liblar verkauft hat. Staiti ist zufrieden. Jetzt hat er Hunger. Eigentlich, sagt er noch, esse er gar nicht so viele Eismann-Produkte selber. Er sei es gewohnt, Pasta zu essen, die koche er selbst. Aber heute macht er sich zum Abendessen ein Kräuterlachsfilet von Eismann. Artikel-Nummer 2929.

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