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Daimler will zwei Milliarden beim Personal sparen – Wie der Konzern wieder auf Kurs kommen soll

Rote Zahlen und Kurseinbruch: Daimler ist Deutschlands schwächster Autobauer. Nun will Konzernchef Ola Källenius das Unternehmen wieder auf Rendite trimmen.

  • Kein anderer deutscher Autobauer kränkelt so stark wie Daimler – und das nicht nur wegen der Corona-Pandemie.

  • Um den Konzern zu retten, setzt Vorstandschef Ola Källenius nun nicht mehr auf einen integrierten Technologiekonzern und vernetzte Mobilität, sondern auf die Stärkung des Luxusprofils und hohe Margen.

  • Im Interview mit dem Handelsblatt verteidigt der Daimler-Chef den verschärften Sparkurs und sagt: „Wenn wir uns auf Luxus als unseren Kern besinnen, sind wir auf dem richtigen Weg.“

  • Während der Krise standen die Bänder auch bei BMW und Volkswagen still. Dabei war der Druck auf die Autoindustrie bereits vor Corona enorm.

Champagner, Diamantringe und Koffer aus Edelleder – Luxusprodukte genießen bei Daimler gerade eine besondere Bedeutung. Wenn Konzernchef Ola Källenius in diesen Tagen mit Topmanagern über die Zukunft des Autokonzerns spricht, fällt immer wieder der Name LVMH.

Källenius ist fasziniert von dem französischen Luxusgüterkonzern, dessen Produkte begehrt sind – obwohl sie teuer sind. An solche Produkte denkt auch der Daimler-Boss: mehr teure S-Klasse, weniger A-Klasse, am liebsten elektrisch, Marge statt Menge. Das ist der Kern der neuen Daimler-Strategie.

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Was Källenius plant, ist für Daimler-Verhältnisse eine kleine Revolution: Schluss mit Welt AG, integriertem Technologiekonzern und voll vernetztem Mobilitätsanbieter. Die Zukunft ist eine Abkehr von der Dieter-Zetsche-Vision, dem langjährigen Daimler-Chef und Ziehvater von Källenius. „Wenn wir uns auf Luxus als unseren Kern besinnen, sind wir auf dem richtigen Weg“, sagt Källenius.

Der Druck ist groß: Der Konzern ist das Sorgenkind der deutschen Autobranche. Daimler muss mehr Geld erwirtschaften. Für das zweite Quartal weist Daimler indes tiefrote Zahlen aus. Der operative Verlust erhöhte sich auf 1,68 Milliarden Euro. Er lag damit über dem Minus des Vorjahresquartals von 1,56 Milliarden Euro, das von hohen Rückstellungen für die Abgasaffäre geprägt war. Allerdings sieht sich das Unternehmen selbst auf Kurs. Analysten, so erklärten die Daimler-Finanzer, hätten im Durchschnitt mit einem noch größeren Verlust gerechnet.

Kein anderer deutscher Autobauer kränkelt so stark – und das nicht nur wegen der Corona-Pandemie. Egal ob bei Elektromobilität, Digitalisierung oder Restrukturierung: Die Schwaben sind im Kriechgang unterwegs. Es rächt sich, dass Daimler die schon vor Corona strukturellen Schwächen unangetastet ließ. Der Konzern sei ein „Sanierungsfall“, rügt Janne Werning von Union Investment. Wohin man auch schaue, Daimler gebe ein „schwaches Bild ab“.

Zwar kündigte Ex-Vorstandschef Zetsche bereits im Februar 2019 „umfassende Gegenmaßnahmen“ infolge wegbrechender Gewinne an. Doch bis Daimler die ersten Mitarbeiter zu Personalgesprächen lud, vergingen volle 16 Monate. Die Verantwortung trägt Ola Källenius, der den schleichenden Niedergang der deutschen Edelmarke verhindern will. Jetzt kommt alles auf den Prüfstand: Werke, Jobs, Modelle, Strukturen, Partner und Investitionen.

Das schon vor Corona beschlossene Effizienzpaket verschärft Daimler wohl drastisch. Statt 15.000 sollen nun mehr als 20.000 der insgesamt fast 300.000 Mitarbeiter gehen, heißt es in Konzernkreisen. Statt der zuvor angekündigten 1,4 sollen nun zwei Milliarden Euro an Personalkosten jährlich eingespart werden. Betriebsbedingte Kündigungen sind anders als früher nicht mehr ausgeschlossen.

„Ein Tabubruch“, meint der Betriebsrat. Der Umbau wird nicht einfach, der Widerstand ist groß. Daimlers Betriebsrat ist mächtig, dessen Chef Michael Brecht ein kluger Kopf.

Schwieriger Personalabbau

Lange Zeit war Sindelfingen die reichste Stadt Deutschlands – dank der Millionen von Daimler, der Autokonzern baut dort die hochpreisigen Modelle der E- und S-Klasse. Mit den Gewerbesteuern baute die Bürgerschaft Gebäude und eine Infrastruktur, die einer Großstadt würdig ist. Als dann noch Geld in der Kasse lag, pflasterten sie die Zebrastreifen mit feinstem Carrara-Marmor.

Als nach der Finanzkrise im Jahr 2008 die Steuereinnahmen einbrachen, konnte Sindelfingen seine Bauten kaum mehr unterhalten. Das Finanzgebaren der Sindelfinger ähnelt dem von Daimler: In guten Zeiten wurde das Geld ganz unschwäbisch mit vollen Händen ausgegeben, in schlechten war die Kostenbasis zu hoch, um das zu unterhalten, was aufgebaut worden war.

Das Anspruchsdenken im Konzern spiegelt sich in vielen Details wider. Ein 47-Jähriger, der seit 17 Jahren bei dem Mercedes-Hersteller in der Verwaltung arbeitet und 9136 Euro brutto pro Monat verdient, kann mit einer Abfindung von bis zu 418.502 Euro rechnen. Für den Abgang eines 35-Jährigen mit neunjähriger Betriebszugehörigkeit, der 7027 Euro brutto im Monat erhält, bietet Daimler immerhin noch eine Prämie von 111.828 Euro an.

Trotz des vielen Geldes will allerdings kaum einer gehen. Nicht einmal 800 Mitarbeiter haben bis dato eines der Angebote zu Abfindung, Vorruhestand oder Altersteilzeit angenommen. „Wer jetzt von Bord geht, muss reichlich lebensmüde sein“, begründet ein Mercedes-Manager die Zurückhaltung. Die Lage am Arbeitsmarkt sei einfach zu unsicher seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie.

Der achtköpfige Daimler-Vorstand um Källenius steht vor einigen Problemen. Aber lockerlassen wird der Vorstandschef nicht. Weggefährten beschreiben ihn unisono als freundlich, integer und durchsetzungsstark. Der 1,95 Meter große Skandinavier duzt seine Kollegen und behandelt auch Mitarbeiter, die weit unter ihm auf der Hierarchieleiter angesiedelt sind, mit Respekt.

Geht etwas schief, wird er anders als sein Mentor Dieter Zetsche nie laut. Källenius reagiert selbst auf schlechte Nachrichten ruhig und kontrolliert. Doch die gewinnbringende Art des Managers sollte niemanden täuschen: Bei Bedarf kann Källenius eiskalt sein. „Er setzt seine Ziele durch“, heißt es in seinem Umfeld.

Neuerdings thematisiert Källenius die „überproportionale Präsenz“ von Daimler in Deutschland. Der Konzern beschäftigt hierzulande mehr als 170.000 Mitarbeiter. Das entspricht einem Anteil von 58 Prozent an der Gesamtbelegschaft. Dabei steht der Heimatmarkt des Unternehmens nur für etwa 15 Prozent des Jahresumsatzes von 173 Milliarden Euro. Die Diskrepanz offenbart eine branchenweit ungewöhnlich hohe Fertigungstiefe.

Anders als BMW fertigt Daimler beispielsweise seine Getriebe und viele Gussteile noch selbst. Die Folge: Bei vergleichbarem Absatz beschäftigt die Pkw-Division Mercedes fast 25.000 Mitarbeiter mehr als der Erzrivale aus München. „Das kann nicht so bleiben“, heißt es im Führungskader mit Blick auf die Elektromobilität. Denn Stromer brauchen kein klassisches Getriebe.

Im Stammwerk in Stuttgart-Untertürkheim ist schon jetzt ein Personalüberhang absehbar, ebenso in Berlin-Marienfelde. In der Hauptstadt steht Daimlers älteste Fabrik. Doch schon im kommenden Jahr könnte dort die Fertigung von V6-Dieselmotoren auslaufen, heißt es in Konzernkreisen. In deutschen Traditionswerken Stellen abzubauen gestaltet sich für Daimler allerdings besonders schwierig.

Källenius hat es mit einem starken Widersacher zu tun. Michael Brecht macht auf den ersten Blick einen eher harmlosen Eindruck: starker badischer Akzent, nettes Lächeln. Der gelernte Schlosser ist allerdings ein harter Verhandlungspartner. 2011 schloss Brecht ein berufsbegleitendes Betriebswirtschaftsstudium an der Eliteuniversität St. Gallen ab, seit 2012 sitzt der 55-Jährige im Aufsichtsrat, und er kennt den Konzern bestens. „Wir als Betriebsrat fordern seit Jahren, die Komplexität bei unseren Prozessen zu reduzieren“, sagt Brecht. „Es ist richtig, dass der Vorstand das Thema jetzt angeht.“

Brecht pocht auf eine Vereinbarung von Vorstand und Betriebsrat vom Oktober 2017. Damals kündigte Daimler einen groß angelegten Konzernumbau an. Das Industriekonglomerat sollte drei wendigen und rechtlich selbstständigen Einheiten (Auto, Lastwagen, Mobilitätsdienste) unter dem Dach der Daimler-Holding weichen. Das Management erhoffte sich davon mehr Kundennähe, eine bessere Fokussierung in bestimmten Märkten und letztlich insgesamt bessere Wachstumsperspektiven.

Die Arbeitnehmervertreter fürchteten eine Zerschlagung des Konzerns und erwirkten als Gegenleistung für ihre Zustimmung eine generöse Beschäftigungssicherung. Demnach sind bei Daimler bis Ende 2029 betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen. Doch für den Fall, dass sich die einst unterstellten Wirtschafts-, Markt-, Programm-, Ertrags- und Aufwandsprognosen „schwerwiegend verändern“, können Vorstand und Betriebsrat „auf Antrag einer Seite mit dem Ziel einer einvernehmlichen Anpassung dieser Zusagen beraten“, heißt es in der Vereinbarung.

Genau diese Wind-und-Wetter-Klausel könnte Daimler um Frontmann Källenius nun infolge der Coronakrise in Anspruch nehmen. Die Arbeitnehmervertreter wollen eine Aufweichung der Jobgarantie aber unbedingt verhindern.

Betriebsratschef Brecht plädiert für eine groß angelegte Arbeitszeitverkürzung. Das Instrument wurde bei Daimler zuletzt in der Finanzkrise angewendet. Personalchef Wilfried Porth hält eine pauschale Arbeitszeitreduktion von 8,75 Prozent wie 2007 und 2008 aber für wenig zielführend. Man befinde sich anders als damals nicht ausschließlich in einer Wirtschaftskrise, sondern zugleich in einer Restrukturierungsphase der Autoindustrie.

Themen wie Elektromobilität, Branchenkonsolidierung und Corona würden sich überlappen. Am Ende würden in der Industrie und bei Daimler schlichtweg weniger Arbeitskräfte benötigt. Es nütze daher nichts, wenn die Gewerkschaft die 30-Stunden-Wochen fordere. „Das verzögert unser Problem“, konstatiert Porth.

Von einer Einigung sind Vorstand und Betriebsrat weit entfernt. Die Tonlage der Kontrahenten verschärft sich zusehends. Gekämpft wird um Pausenregeln, Spätschichtzulagen, Urlaubs- und Weihnachtsgeld oder um die Auslagerung von 2000 IT-Mitarbeitern an Fremdfirmen. Die erst Ende 2019 implementierte Holding mit ihren 6000 Beschäftigten wird zurechtgestutzt. Dabei wird etwa die Finanzorganisation der Dachgesellschaft mit jener der Autosparte Mercedes zusammengeführt.

Der Betriebsrat spricht von gebrochenen Versprechen. Aber auch im Führungskader wird Kritik an dem 700 Millionen Euro teuren Konzernumbau laut. „Wir haben den Vorstand damals gewarnt: Lasst das! Zu diesem Zeitpunkt macht das keinen Sinn. Das Geld wird uns an anderer Stelle fehlen. Genau das ist jetzt eingetreten“, klagt ein konsternierter Manager.

Investoren ärgern sich zudem bis heute über das „Posten-Festival“, das mit der neuen Struktur einherging. Sowohl für die Autosparte Mercedes als auch für die Nutzfahrzeugdivision Trucks wurde ein Aufsichtsrat aus jeweils 20 Mitgliedern gebildet. Doch neben Konzernchef Källenius gibt es noch eine ganze Fraktion an Führungskräften, die weiterhin vom Konzept der organisatorischen Dreiteilung des Unternehmens überzeugt sind. Denn die einzelnen Sparten könnten nun leichter Partnerschaften eingehen und Kapital aufnehmen.

Die Struktur schaffe insgesamt mehr Flexibilität, etwa für den Fall, dass Daimler irgendwann dringend Geld benötigen sollte. Dann könnte die Trucksparte zügig an die Börse gebracht werden. Auch so ließe sich womöglich eine Attacke von außen besser abwehren, so der Tenor der Befürworter. Und diese Gefahr ist im Konzern durchaus ein Thema.

Werksschließungen in Vorbereitung

Eine kleine, aber umso gewichtigere Satzungsänderung kam auf der Hauptversammlung von Daimler zur Abstimmung. Demnach sollen Daimler-Aufsichtsräte künftig nur noch mit mindestens drei Viertel der Stimmen von den Anlegern abberufen werden können. Bisher reichte eine einfache Mehrheit.

Hinter dem Tagesordnungspunkt TOP 12 b) steht die Angst vor Angriffen von Aktivisten. „Daimler hat diese Satzungsänderung nicht aus Versehen auf die Tagesordnung gesetzt“, sagt Marc Tüngler, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW). „Das Unternehmen ahnt offenbar, dass sich etwas zusammenbraut, und will vorbereitet sein.“ Eine kalte Übernahme würde über den Aufsichtsrat laufen, erklärt Tüngler. Das Szenario habe Daimler nun „vorsorglich erschwert“.

Offiziell will Daimler nichts davon wissen. Aber intern heißt es, man verstärke seine „Firewall“ und wappne sich ein Stück weit für den Ernstfall. Das Unternehmen wird aktuell an der Börse mit nur 40 Milliarden Euro bewertet. Der Konzern aus Stuttgart ist damit nur ein Sechstel so viel wert wie der Elektroautohersteller Tesla.

Anders als BMW (Familie Quandt) und Volkswagen (Porsche- und Piëch-Clan) fehlt den Schwaben ein schützender Ankeraktionär. Zusammengerechnet kommen Geely-Gründer Li Shufu (9,7 Prozent) und der Pekinger Staatskonzern BAIC (fünf Prozent) bereits auf einen beachtlichen Anteil. Der könnte bei der üblichen Aktionärspräsenz auf einer Daimler-Hauptversammlung von etwa 55 Prozent des Grundkapitals einer Sperrminorität gefährlich nahekommen.

Aber bis dato gibt es keine Hinweise, dass die beiden chinesischen Investoren wirklich gemeinsame Absichten verfolgen. Ein Geely-Sprecher betont zudem, dass Li Shufu weder daran interessiert sei, seinen Anteil an Daimler zu erhöhen, noch ein Aufsichtsratsmandat anstrebe. Dieser Satz gilt, bis er nicht mehr gilt.

Eines weiß Källenius: Den besten Schutz vor etwaigen Angriffen von außen bieten solide Finanzen, die Perspektive auf nachhaltig hohe Renditen und eine hohe Marktbewertung. Die Wünsche der Aktionäre kennt natürlich auch der Vorstandschef, mit Hochdruck arbeitet Källenius deshalb an einem höheren Aktienkurs – und scheut dabei nicht vor Konflikten zurück.

Beispiel Hambach. In Frankreich sind viele Menschen schockiert. Anfang April kündigte Daimler an, sein Werk in Lothringen nahe der deutschen Grenze zu verkaufen. Ein echtes Politikum. Bruno Le Maire, Frankreichs Wirtschafts- und Finanzminister, reagierte postwendend. Der Standort Hambach sei ein Symbol für die deutsch-französischen industriellen Beziehungen. „Mit seiner Ankündigung hat sich Daimler bewusst oder ungewollt in einen Konflikt begeben, der gerade erst begonnen hat.“

Für Källenius ist die Sache dagegen weitgehend abgehakt. Käufer soll der britische Konzern Ineos Automotive sein. Anstelle von Daimlers Kleinwagen Smart könnten in Hambach künftig Geländewagen der Marke Ineos vom Band rollen. „Wir sind uns weitgehend handelseinig“, hieß es aus dem Umfeld der Verhandlungen.

Källenius denkt schon weiter. Daimler erwägt, sich von einem zweiten Auslandswerk zu trennen, heißt es in Konzernkreisen. Noch gibt es keinen finalen Beschluss dazu. Intern wird aber hart über weitere Kapazitätskürzungen gerungen. „So eine Entscheidung fällen wir nicht leichtfertig“, sagt ein Manager.

Treffen könnte es die Pkw-Montage im brasilianischen Iracemápolis, verlautet aus Konzernkreisen. Daimler hat 2016 in dem südamerikanischen Land etwa 145 Millionen Euro investiert und 600 Arbeitsplätze geschaffen. Doch das Werk sei schon vor Corona „betriebswirtschaftlich grenzwertig“ gewesen, meint ein Daimler-Veteran.

Iracemápolis ist ein Symbol für Daimlers frühere Wachstumsträume. Die politische Lage in Brasilien ist aber instabil; die Autoverkäufe schwanken stark, und die Währung stürzt regelmäßig ab. Weil das Werk in Iracemápolis darüber hinaus nur auf 20.000 Einheiten von GLA und C-Klasse pro Jahr ausgelegt ist, hielte sich der Schaden bei einem Rückzug in Grenzen, heißt es in Konzernkreisen. Ob es wirklich so kommt, ist aber keineswegs sicher.

Auch über andere Werke wird diskutiert, etwa über die Gemeinschaftsproduktion mit Nissan in Mexiko oder die Pkw-Fabrik in Südafrika. Als unrealistisch gilt intern zudem, dass die im vergangenen Jahr auf Eis gelegte Erweiterung der Produktion im ungarischen Kecskemét in naher Zukunft umgesetzt wird.

Teure Kooperationen wie jene mit BMW beim autonomen Fahren hat Källenius mit seiner Truppe ohnehin gestoppt. Das verlustreiche Car‧sharing-Geschäft in Nordamerika wurde eingestellt. Für die Innovationsschmiede Lab 1886 sucht der Konzern einen neuen Mehrheitseigner.

Die Modellpalette bei Verbrennern wird komprimiert. Erst flog der gefloppte Pritschenwagen X-Klasse aus dem Programm, nun widmen sich die Mercedes-Strategen der Frage, welche Fabrikate mittelfristig Wachstum versprechen und welche nicht.

Modelle werden ausgesiebt

Bei allen Überlegungen steht die Profitabilität der Modellpalette im Zentrum. „Marge geht vor“, lautet das Mantra von Källenius. Vorbild ist dabei ebenjene Luxusindustrie, in der die Preise mit aller Kraft hoch gehalten werden, ohne die Käufer zu verschrecken.

Die Zeit, in der Daimler nach immer neuen Absatzrekorden strebte, ist vorbei. Die Schwaben wollen sich stärker in der Spitze der einzelnen Segmente positionieren, anstatt unten gegen Massenhersteller um dünne Margen zu konkurrieren. Källenius steht für mehr Maybach, G-Klasse und AMG und weniger für Kleinwagen. Sein Mentor Zetsche hatte in seiner Zeit als Vorstandschef das untere Preissegment ins Visier genommen. Die A-Klasse ließ er mit dem Ziel runderneuern, jüngere Kunden für die Marke zu gewinnen.

Doch um den gleichen Gewinn wie mit einer voll ausgestatteten S-Klasse zu erzielen, muss Daimler eine Lkw-Ladung an A-Klasse-Fahrzeugen verkaufen.

Die Folge der neuen Fokussierung: Selbst für prominente Modelle könnten nach dem Auslaufen ihrer aktuellen Generation in einigen Jahren keinen Nachfolger mehr auf den Markt kommen. Einer dieser Wackelkandidaten ist die B-Klasse. Der Mini-Van wurde 2019 neu aufgelegt und wird zweifellos noch bis zum Ende seines Lebenszyklus bis Mitte der Dekade weiter produziert und verkauft werden.

Eine vierte Auflage des Kompaktklassikers dürfte es dann aber nicht mehr geben, heißt es in Konzernkreisen. Daimler bestätigt diese Überlegungen offiziell nicht. Gleichwohl hat der Konzern bereits im November 2019 angekündigt, die Anzahl seiner Plattformen und Architekturen zu reduzieren.

Bei den Kompaktwagen dürfte folglich die Vielfalt von acht Modellen auf fünf bis maximal sechs schrumpfen. Neben der Zukunft der B-Klasse ist auch jene des CLA Shooting Brake und der einfachen A-Klasse Limousine offen. Fest eingeplant auf der künftigen modularen Frontantriebsplattform MMA sind bisher: A-Klasse, CLA Coupé, GLA, GLB und die A-Klasse Limousine in ihrer Langversion für China.

Auch Modelle, die sich nur in einzelnen Regionen gut verkaufen lassen, werden es schwer haben. Beispiel Dream Cars. Heute bieten die Stuttgarter sowohl bei C- und E-Klasse als auch bei der S-Klasse eigene Cabrio- und Coupé-Varianten an. Künftig dürfte es abgeleitet von den drei Edellimousinen aber nur noch ein Cabrio und ein Coupé geben, das zwischen C- und E-Klasse positioniert wird, sowie den Sportwagen SL.

Auf das Wesentliche konzentrieren, so lautet das neue Motto. Als Wachstumssegmente haben die Mercedes-Strategen Geländewagen und neu integrierte Limousinen identifiziert. Sie sollen künftig eine noch stärkere Rolle im Portfolio einnehmen – und elektrisch fahren. Bei dem Thema hat Daimler Großes vor.

Für Källenius ist Elektromobilität mehr als eine neue Antriebsart, sie ist eine persönliche Sache – eine Kehrtwende von seinem Förderer Zetsche.

Warum E-Autos so lange dauern

Dieter Zetsche hatte den Schweden schon früh als Nachfolger auserkoren und seinen Aufstieg von langer Hand vorbereitet. Källenius wurde Vorstand für Vertrieb, dann für Entwicklung und letztlich für das große Ganze.

Zetsche ist für Källenius mehr als ein Förderer, er ist Ratgeber und Freund. Kritik hat Källenius nie an ihm geübt. Im Gegenteil. Selbst als Zetsche in seiner aktiven Zeit massiv gegen Pläne für eine eigene Batteriefertigung wetterte, hielt sich der damalige Chef in spe zurück. Er hielt loyal zu Zetsche. Källenius muss indes bewusst gewesen sein, dass Daimler bei der Entwicklung neuer E-Modelle hinter der Konkurrenz zurückfiel.

Källenius war in den entscheidenden Jahren schließlich in Sindelfingen und leitete die Entwicklung. Ihm fiel es zu, Daimler auf einen neuen Kurs zu setzen. Die Ingenieure, die mit Inbrunst an Verbrennungsmotoren getüftelt hatten, musste er auf die Zeit der Elektromobilität einstimmen. Källenius ist anders als Zetsche technologieoffen, begeistert sich für Autos an sich. Die Zukunft des Automobils riecht für ihn nicht nach Benzin.

Wie offen der Daimler-Chef für Elektromobilität ist, wird schon vor ein paar Jahren deutlich. An einem Donnerstag im September 2014 stellt Källenius in Kopenhagen das erste Hybridmodell der S-Klasse vor. Källenius genießt die Fahrt durch den dichten Stadtverkehr der dänischen Hauptstadt. Ein Tritt von ihm auf das Gaspedal – und der tonnenschwere Bolide fährt geräuschlos davon. Zu der Zeit ist er noch Vertriebsvorstand der Pkw-Sparte Mercedes-Benz, eigentlich ist die Präsentation eines so wichtigen Fahrzeugs zu groß für seinen Posten.

Zwei der wichtigsten Themen adressiert er im Anschluss im Gespräch mit Journalisten: die Elektrifizierung und das Problem mit dem Spritverbrauch. Der Ausstoß an Kohlendioxid sei zu hoch, sagt er. „Diesen Wert nach unten zu bringen ist ein Muss.“

In Sindelfingen bekommt er dazu die Gelegenheit, als Chef der Entwicklung. Die Arbeit aber gestaltet sich zäh. Sein Vorgänger Thomas Weber hat ihm eine Mannschaft hinterlassen, die als unregierbar gilt. Trotz aller Appelle der obersten Führungsebene steckt die Entwicklung von E-Autos in den Anfängen. Stück für Stück baut Källenius seine Abteilung um. Geräuschlos, wie es seine Art ist.

Der Umbau und auch der Abgasskandal, der Daimler in der Folgezeit hart trifft, halten Källenius und die Techniker aber von ihrer Arbeit ab. Die Last der Vergangenheit bekommt er nicht abgeschüttelt. Die Entwicklung wichtiger E-Modelle verzögert sich – bis heute.

Teil des Problems war Mentor Zetsche. Für ihn schien die Stromrevolution immer in weiter Ferne. Man verschlafe „nichts“, bekundete der Manager regelmäßig. In launigen Stunden scherzte Zetsche gar, außer den Schwaben habe überhaupt noch kein Konzern mit Elektroautos wirklich Geld verdient. Hintergrund seines Bonmots: Daimler stieg einst mit 50 Millionen Euro bei Tesla ein und verkaufte seinen Anteil an dem kalifornischen E-Auto-Pionier 2014 wieder für fast 800 Millionen Dollar.

Das hörte sich damals gut an. Heute zeigt sich die Konsequenz dieser Einstellung: In der Coronakrise ziehen die Verkäufe von E-Autos sprunghaft an; die Tesla-Papiere sind heute ein Vielfaches von damals wert, und Mercedes hat nach wie vor keinen einzigen wettbewerbsfähigen Stromer im Angebot. Die Folge: „Tesla wird der absolute Gewinner der Nach-Corona-Ära sein“, prophezeit NordLB-Analyst Frank Schwope.

Die US-Firma um den schillernden Unternehmer Elon Musk musste von April bis Juni nur einen Absatzrückgang von fünf Prozent verkraften. Daimler setzte dagegen im gleichen Zeitraum fast ein Fünftel weniger Pkws ab.

Schlimmer noch: Auch der EQC, das erste Strom-SUV von Mercedes unter der neuen Submarke EQ, verkauft sich nur schleppend. Das Fahrzeug gilt intern als „Krücke“ auf dem Weg ins Elektrozeitalter, basiert es doch anders als etwa die Modelle von Tesla nicht auf einer eigens konzipierten Elektroplattform, sondern auf der Verbrennerarchitektur des GLC. Im Realbetrieb schafft der EQC laut ADAC nur eine Reichweite von 335 Kilometern. Zu wenig, um es mit Konkurrenzmodellen wie Audis e-tron oder gar den Tesla-Boliden aufnehmen zu können.

Das lahmende Geschäft mit E-Autos hat für Daimler unangenehme Folgen. Der Autohersteller droht die Umweltvorgaben der EU zu verfehlen. Im vergangenen Jahr stieß die Flotte von Mercedes im Schnitt 137 Gramm klimaschädliches Kohlendioxid aus. Bis 2021 muss der Konzern seinen CO2-Wert allerdings mithilfe alternativer Antriebe auf etwa 105 Gramm drücken, sonst drohen Bußgelder. Stand heute dürften es einige Hundert Millionen Euro an Strafe werden. Nach dem Dieselskandal droht Daimler damit ein weiterer Reputationsschaden.

Geschäftseinbruch, Jobabbau, Werksschließungen, Umweltstrafen – die Lage von Källenius und Daimler sieht alles andere als erfreulich aus. Aber doch gibt es Anlass zur Hoffnung, zeigen sich Lichtblicke am Horizont.

Reichweite von 700 Kilometern

Von der A-Klasse bis zur S-Klasse bietet der Konzern bis Ende des Jahres 20 Fabrikate an, die teilelektrisch zwischen 70 und mehr als 100 Kilometer weit kommen. In Deutschland zieht der Absatz der Plug-in-Hybride bereits merklich an. Das hilft der Klimabilanz. Wichtiger aber noch: Ab 2021 startet Mercedes den Großangriff auf Tesla. Die Speerspitze dabei bilden vier Modelle auf der eigens für Stromer konzipierten Elektroarchitektur.

Den Anfang auf der neuen Plattform, die intern „EVA II“ genannt, machen die beiden Edellimousinen EQS und EQE, dann folgen zwei Elektro-SUVs. Daimler verspricht für seine Top-Stromer Reichweiten jenseits von 700 Kilometern. „Mit diesen Modellen kommen wir auf ein absolut wettbewerbsfähiges Niveau“, sagt ein Mercedes-Manager.

Design, Interieur, technische Daten: Der Sprung vom Ladenhüter EQC zum Hoffnungsträger EQS soll gewaltig werden. Beginnend mit dem neuen Flaggschiff will Konzernchef Källenius endlich beweisen: Daimler kann auch Elektromobilität – und zwar besser und luxuriöser als alle Konkurrenten, Tesla inklusive. Die schwäbischen Top-Stromer kommen spät, aber umso wirkmächtiger, so das Kalkül. Doch die Wette muss aufgehen.

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Intern ist bereits von „Schicksalsmodellen“ für Källenius die Rede. Im Wettstreit gegen Tesla sei es „kriegsentscheidend“, dass EQS, EQE und Co. bei der noblen Kundschaft einschlagen. Einige im Führungskader sind noch skeptisch, bei anderen kommt Zuversicht auf. „Ich glaube an die Company“, sagt einer. Auch wenn die aktuelle Finanzlage etwas anderes nahelege, der künftige Portfoliomix bei Mercedes spiele Källenius in die Karten, nicht nur bei reinen Stromern, so der Manager.

Tatsächlich steht dem Schweden ab Ende des Jahres mit der neuen S-Klasse wieder ein Renditegarant zur Verfügung. Hinzu kommt ab 2021 die nächste Generation des Bestsellers C-Klasse. Alle wichtigen SUVs wie der GLE sind darüber hinaus nach hartnäckigen Produktionsproblemen im vergangenen Jahr wieder voll verfügbar. Der Anteil der schweren Modelle mit hohen Margen am Gesamtabsatz der Marke mit dem Stern dürfte folglich zunehmen. Mit den Gewinnen will Källenius alle Baureihen unter Strom setzen. Auch Maybach und AMG sollen elektrisch werden.

Eines wird der Daimler-Boss wahrscheinlich nicht erreichen: LVMH zu übertreffen. Der Luxuskonzern erzielt mit Marken wie Louis Vuitton oder Tiffany’s zweistellige Renditen in Milliardenhöhe. Källenius ahnt, dass diese Dimension mit dem Verkauf von Autos kaum zu erreichen sein wird. Aber wenigstens ist jetzt das Ziel klar, das für die nächsten Jahre gilt. Für den Chefsanierer der Daimler AG wird es keine einfache Zeit.