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Wie Rupert Stadler die Welt jahrelang mit „dem saubersten Diesel der Welt“ narrte

Fast zehn Jahre trickste Audi bei den Diesel-Abgaswerten. Dabei nutzte Vorstandschef Stadler nicht nur Gesetzeslücken. Die Chronik einer großen Täuschung.

Im Nachhinein klingen Rupert Stadlers Worte fast höhnisch. Montag, der 31. Januar 2012. Der derzeit beurlaubte Audi-Chef fand sich zu Höherem berufen. Seit fünf Jahren stand er nun schon an der Spitze Autokonzerns. 2007 auf Martin Winterkorn gefolgt, saß Stadler inzwischen auch im Vorstand der Konzernmutter Volkswagen AG und im Aufsichtsrat der Porsche Holding. Als ehemaliger Büroleiter von VW-Patriarch Ferdinand Piëch galt Stadler als Vertrauter der Gesellschafterfamilien. Nun verfasste er ein moralisches Schriftstück an die Nation.

Ein „Plädoyer für einen ökonomischen und ethischen Neuanfang“ nannte Stadler seinen Aufsatz. „Unersättlichkeit und immer kurzfristigeres Agieren dürfen nicht dominierendes Prinzip unserer Zeit werden“, warnte der Audi-Chef. Es gelte, sich an die guten alten Tugenden zu erinnern.

Seriosität, Fairness, Worthalten und Verantwortung: „Der ehrbare Kaufmann muss in Wirtschaft und Gesellschaft wieder zum Leitbild für ein Miteinander im Zeichen von Moral und Vertrauen werden“, schrieb Stadler. Denn „wenn wir uns gegenseitig wieder vertrauen können, werden wir auch das – uns Deutschen oft fehlende – Zutrauen in die Zukunft finden“.

Was soll man heute von diesen Worten halten? Die Volkswagen AG windet sich in einem Abwehrkampf. Zweistellige Milliardenbeträge sind schon verlustig gegangen. Schuld ist keine Wirtschaftskrise und auch kein Weltbeben an den Finanzmärkten, sondern ein selbst verursachter systematischer und jahrelanger Vertrauensbruch, der den Konzern mit mehr als 600.000 Arbeitsplätzen in seinen Grundfesten erschüttert hat.

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Autokunden, Autohändler, Umweltbehörden, Zulassungsstellen – es gibt kaum noch eine Gruppe oder Institution in der Autowelt, die der Konzern nicht getäuscht hätte. Und Stadler, Chef der Vorzeigetochter Audi und Vertrauter der Familie Porsche, wurde diese Woche verhaftet.

Montag, der 24. März 2008, ein Wintermorgen in einem US-Vorort. Pressetermin. Ein Mann in Jeans und offener Jacke steht neben einem silbergrauen Audi A5. Er bekommt sein Einsatzzeichen. „Mein Name ist Giovanni Pamio. Ich bin verantwortlich für die Entwicklung der Dieseltechnik von Audi in Deutschland.“

Dann unterbricht ihn eine schwärmerische Reporterin. „Also, Giovanni, wir fahren hier den saubersten Diesel der Welt“, frohlockt Lou Ann Hammond vom Autoportal Driving The Nation. „Das hier ist der A5?“ Die Kamera zoomt das Auto heran.

Da hat es der Zuschauer auch schriftlich. Schwarz auf grau steht auf dem Audi geschrieben: „Der sauberste Diesel der Welt.“ Die Reporterin fragt: „Dieses Auto hat Adblue?“
Pamio nickt. „Ja, genau.“ Dann öffnet der Dieselspezialist von Audi die Tankklappe und erklärt, was den „saubersten Diesel der Welt“ so sauber mache. „Wir haben hier zwei Tanks. Den Dieseltank und gleich daneben die Öffnung für den Adblue-Tank.“

Wie auf Stichwort wirft die Reporterin ein: „Also, dieser Tank muss nicht bei jedem Tanken aufgefüllt werden?“ Pamio antwortet: „Nein, nein, so haben wir das nicht geplant und entwickelt.“ Das Nachfüllen von Adblue sei frühestens nach 10.000 Meilen nötig, also mehr als 16.000 sauber gefahrenen Kilometern. Pamio: „Das passiert zusammen mit dem Ölwechsel.“

Schön wär’s gewesen. Und die Geschichte vom saubersten Diesel der Welt war so schön, dass Pamio sie weltweit und jahrelang erzählte. „Die Revolution der Effizienz. Mit innovativen Technikideen geht Audi in die Klimaoffensive“, lautete im Audi-Geschäftsbericht 2008 das Kapitel, in dem Pamio als einer der Entwickler des „Ultra Low Emission System“ gepriesen wurde. Damit setze Audi „weltweit eine neue Benchmark“. Und weiter: „Roh- und Stickoxidemissionen werden auf ein Niveau abgesenkt, das jeden aktuellen Grenzwert der Welt deutlich unterschreitet.“

Auf Konferenzen, Autosalons und in Werbebroschüren blieb die Botschaft für Jahre: Die Audi-Technik war für die Umwelt geradezu ein Segen. Noch im Oktober 2010 schrieb Pamio gemeinsam mit dem späteren Audi-Vorstand Stefan Knirsch, dem deutschen Dieselleiter Ulrich Weiß und einem weiteren hochrangigen Ingenieur einen Fachaufsatz, in dem sie sich für die „optimale Abgasnachbehandlung auf niedrigem CO2-Niveau“ in ihrem Konzern auf die Schulter klopften.

Heute ist das Team zerborsten. Knirsch musste 2017 einen Aufhebungsvertrag unterschreiben. Weiß wurde entlassen, klagte auf Wiedereinstellung und einigte sich schließlich auf einen Vergleich. Die Amerikaner erließen einen internationalen Haftbefehl gegen Pamio, deutsche Ermittlungen führten dazu, dass er 2017 in die Justizvollzugsanstalt Stadelheim gesperrt wurde.

Inzwischen ist er wieder frei, packte aber so umfangreich bei der Staatsanwaltschaft München aus, dass sie anschließend den ehemaligen Audi-Motorenentwickler und Porsche-Entwicklungsvorstand Wolfgang Hatz einbuchtete. Mit Audi stritt Pamio vor dem Arbeitsgericht in Heilbronn, einigte sich aber schließlich außergerichtlich.

Stadler ficht all das lange nicht an. Größtmögliche Transparenz hat sein Konzern versprochen, doch wie seine Gegenüber im Mutterkonzern VW schafft auch Stadler nur die größtmögliche Ignoranz. Selbst als die Staatsanwaltschaft München am 15. März 2017, dem Tag der Jahrespressekonferenz, zur Razzia in die Audi-Zentrale einfällt, zeigt sich Stadler unbeeindruckt.

100 Journalisten stehen vor dem Audi-Chef, aber gleich nebenan stehen fast genauso viele Polizisten und Staatsanwälte. Einige wollen ins Gebäude A50, dort sind die Vorstandsbüros. Und was sagt Stadler? „Mir ist um die Zukunft nicht bang.“

So macht der Audi-Chef auch weiter, und man lässt ihn. Stadler, sagen Konzerninsider, ist vielleicht die wichtigste Person im ganzen Konzern. Nicht weil er ein genialer Ingenieur wäre; der Betriebswirt kokettiert damit, der erste Mann an der Audi-Spitze zu sein, der vom Ingenieurwesen keine Ahnung hat. Doch Stadler war lange Jahre Büroleiter von Piëch und ist Vertrauter der Familie. Das verleiht ihm Bedeutung.

„Der Mann ist die letzte Brandmauer“, sagt ein Anwalt, der einen großen Investor gegen VW vertritt. Er meint das nicht freundlich. Stadler sei die Verbindung zwischen all dem, was im Konzern geschieht, und dem, was die Eigentümerfamilien davon wissen. Wenn Stadler verschwindet, seien auch die Großaktionäre nicht länger geschützt vor möglichen Ansprüchen von Geschädigten. Fällt Stadler, fällt alles.

Noch steht er. Stadler leugnet seit Jahren, was längst bewiesen ist. Audi ist mittendrin im Dieselskandal. Hier wurden die Motoren erfunden, die Manager wie Giovanni Pamio als „sauberste Diesel der Welt“ lobten, die aber gar nicht sauber waren.

Als Adblue wegfiel, musste eine Alternative her

Eine Scharade, von Anfang an. Adblue, die Flüssigkeit, die Pamio in seinem Gespräch mit der treuseligen Autoreporterin pries, funktionierte nur in rauen Mengen. Spritzte man sie in den Abgasprozess ein, reduzierte sie tatsächlich die Schadstoffe auf ein Minimum. Nur: Um die immer strengeren Grenzwerte einzuhalten, gab es zwei Alternativen. Entweder die Kunden mussten Adblue häufig nachtanken, oder die Adblue-Tanks mussten viel größer ausfallen.

Nachtanken ging nicht, entschied das Management. So nützlich Adblue auch sein mochte, das Zeug war klebrig und ätzend. Nicht auszudenken, dass Audi seinen Kunden zumutete, das Gebräu alle paar Wochen in ihre Autos zu kippen. Ein Techniker erinnert sich an die Weisung Stadlers: „Geh mir weg mit deinem Pipi.“

Also größere Tanks? Auch unerwünscht. Platz ist eine der wichtigsten Ressourcen in einem Auto. Überall müssen Kabel verlegt werden, jeder Kubikzentimeter ist umkämpft. Der eine Marketingmanager verlangt größere Kofferräume, der andere mehr Platz für Stereoanlagen. Argumente eben, mit denen die Verkäufer Kunden überzeugen können.

So begann die große Schummelei. Streng genommen, argumentierte man offenbar bei Audi, mussten die Dieselmotoren die Grenzwerte doch nur auf dem Teststand einhalten. Welche Giftstoffe auf der Straße aus dem Auspuff strömten, prüfte niemand. Könnte man da nicht eine Lösung einkaufen?

Man konnte. „Defeat Device“ nannten die Spezialisten vom Stuttgarter Zulieferer Bosch ihre Erfindung. Die Technik ließ die Dieselmotoren im Testmodus traumhaft sauber laufen, anderswo setzte die Abgasreinigung einfach aus. Die Software stellte mit Sensoren fest, ob sich das Fahrzeug gerade auf einem Prüfstand oder auf der Straße im Regelbetrieb befand.

All das ist nachzulesen und zugegeben. Volkswagen einigte sich schon im Frühjahr 2017 mit dem US-Ministerium auf einen Vergleich. Der Konzern erkannte seine Schuld an und zahlte Entschädigungen und Strafen von mehr als 20 Milliarden Dollar.

Die US-Unterlagen sind außerordentlich detailliert, nennen jeden Namen. Sie berichten von einem Treffen am 3. Oktober 2006 zwischen der kalifornischen Umweltbehörde Carb und Vertretern von VW und Audi, darunter Giovanni Pamio und sein Kollege James Liang.

Fragen der Beamten, warum sie bei eigenen Tests der Dieselmotoren bis zu 40-mal mehr Schadstoffe maßen, als die Deutschen angaben, wurden mit einem Gemisch aus Lügen und Ausflüchten beantwortet. Liang gab dies später zu und wurde zu drei Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt.

Wer wusste davon? Alle, steht in den US-Unterlagen. Die hat auch Fabian Reuschle gelesen. Der Richter am Landgericht Stuttgart bereitet seit Monaten einen Prozess von Aktionären gegen die Volkswagen AG und deren Eigentümerin, die Porsche SE, vor. 33 Zeugen sollen aussagen. Ihre Vorladung spricht Bände.

Bereits am zweiten Verhandlungstag, so die Prozessplanung, soll Bosch-Geschäftsführer Volkmar Denner erklären, was es mit den „Warnungen der Bosch GmbH vor der Rechtswidrigkeit der Motorsteuerungssoftware EA 189 in den USA gegenüber der VW AG in den Jahren 2007 und 2008“ auf sich hatte. Außerdem möge Denner ausführen, warum Bosch am 2. Juni 2008 ein Schreiben „an die VW AG zwecks Haftungsfreistellung von Volkswagen in Bezug auf die Entwicklung und Verwendung der Defeat Device“ richtete.

Gleich anschließend will der Richter dazu auch Franz Fehrenbach befragen. Er war Geschäftsführer von Bosch, als seine Mitarbeiter die Software entwickelten. Heute ist er Aufsichtsratsvorsitzender des größten Autozulieferers der Welt.

Es könnte sein, dass weder Denner noch Fehrenbach auch nur ein einziges Wort vor Gericht zum Thema sagen werden. Anfragen des Handelsblatts zum bevorstehenden Verfahren wurden inhaltlich nicht beantwortet.

Unabhängig vom Aufklärungswillen der beiden Bosch-Manager folgt eine Woche später ein Zeuge, der nichts mehr zu verlieren hat: Audis ehemaliger Dieselentwickler Giovanni Pamio soll den Antrag erklären, mit dem sein Arbeitgeber am 8. April 2008 um „die Zertifizierung des mit einer Abschalteinrichtung ausgestatteten Diesel-EA-189-Motors“ bat, und zwar „in Kenntnis des Vorstands der VW AG um die Nichterreichbarkeit der Emissionsvorgaben“.

Sodann möchte sich Richter Reuschle mit dem Dieselspezialisten über die „Warnung von Audi-Mitarbeitern im Jahr 2010 in einer Präsentation vor einer potenziellen Aufdeckung der mittels Abschaltungsvorrichtung ausgestatteten Motorsteuerungssoftware“ unterhalten.

Er hat auch Fragen zur „Unterrichtung von Herrn Prof. Dr. Winterkorn im November 2013 über die Nichterreichbarkeit der Emissionsvorgaben verschiedener Konzernmodelle“.

Rupert Stadler zeigt sich selbst in U-Haft uneinsichtig

All das wollte Volkswagen verhindern. Dieser Richter sei nicht tragbar, maulten die Konzernjuristen. Er sei voreingenommen, wolle sich medial inszenieren. Doch der Befangenheitsantrag gegen Richter Reuschle scheiterte. So wird öffentlich, was bei Volkswagen und Audi vom Techniker bis zum Vorstandschef jeder wusste.

Auch Rupert Stadler. Der Audi-Chef saß seit Jahren in den Arbeitskreisen und Steuerungsausschüssen, in denen nicht nur die Methodik des Dieselbetrugs besprochen wurde, sondern auch die Gefahr seiner Entdeckung. Und dennoch: Als Stadler am 9. Mai 2018 im Audi Forum in Ingolstadt die Aktionäre zur Hauptversammlung begrüßte, war von Dramatik nichts zu spüren.

Dabei hatte das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) nur 24 Stunden zuvor gemeldet, dass Autos der aktuellen Modellreihen A6 und A7 Betrugssoftware an Bord hatten. Wieder musste Audi Fahrzeuge auf Druck von außen zurückrufen. Und wieder einmal stellte Stadler die Tatsachen auf den Kopf: „Rückrufe sind das Ergebnis unserer konsequenten Aufklärung“, sagte er den Aktionären. „Seien Sie versichert: Wir haben aus den Ereignissen gelernt. Integres Handeln steht für uns mehr denn je im Fokus und ist Grundlage all unserer Entscheidungen.“

Sechs Wochen später sitzt Stadler im Gefängnis, wegen Verdunkelungsgefahr, argumentieren die Staatsanwälte. Der Audi-Chef habe versucht, Zeugen zu beeinflussen. Woher sie das wissen? Die Beamten hörten Stadlers Telefon ab.

Es sind Vorgänge wie aus einem Krimi. Dabei geht es um Deutschlands größtes Unternehmen. Audis Konzernmutter Volkswagen zählte 2017 mehr als 640.000 Mitarbeiter und 230 Milliarden Euro Umsatz. Audi-Chef Stadler sitzt in Untersuchungshaft. Am Dienstag bat er seinen Aufsichtsrat um seine vorläufige Beurlaubung.

Vorläufig. Das ist kein Tippfehler. Stadler scheint zu glauben, er könne eines Tages aus der Gefängniszelle in sein Vorstandsbüro zurückkehren. Der Automanager will ganz offenbar nicht einsehen, dass er gar keine Straße mehr vor sich hat.