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„Boris ist noch der Beste aus diesem Haufen“ – Johnson holt in Labour-Hochburgen auf

Der Norden Englands entscheidet die Parlamentswahl: Premier Johnson tourt durch die Labour-Hochburgen. Ausgerechnet Farages Brexit-Partei könnte ihn den Sieg kosten.

Premierminister Boris Johnson fährt mit seinem Wahlkampfbus durch den Norden Englands. Seine Brexit-Botschaft kommt in den Labour-Hochburgen gut an. Foto: dpa
Premierminister Boris Johnson fährt mit seinem Wahlkampfbus durch den Norden Englands. Seine Brexit-Botschaft kommt in den Labour-Hochburgen gut an. Foto: dpa

Nur einmal in den vergangenen hundert Jahren hatte Workington einen konservativen Unterhausabgeordneten – und das ist vierzig Jahre her. Stolz holt Simon Collins im „Conservative Club“ ein vergilbtes Foto von der Wand. Es zeigt den Tory-Lokalhelden Richard Page mit der damaligen Oppositionsführerin Margaret Thatcher. 1976 war das. Doch das Intermezzo währte nur kurz: 1979 holte Labour sich den Sitz zurück.

Unter Premierminister Boris Johnson nehmen die Tories nun einen neuen Anlauf auf die Labour-Hochburg. Workington ist eines der entscheidenden Schlachtfelder bei der Parlamentswahl am 12. Dezember. Das 30.000-Einwohner-Städtchen in der Grafschaft Cumbria hat eine gewisse nationale Berühmtheit erlangt, seit die konservative Denkfabrik Onward den „Workington Man“ zum Schlüsselwähler erklärt hat.

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Definiert ist er als weißer Brexit-Anhänger, älter als 45 Jahre, mit geringer formaler Bildung und einem ausgeprägten Bedürfnis nach ökonomischer Sicherheit. Diese Menschen müsse Johnson erreichen, wenn er die Wahl gewinnen wolle, sagt Onward-Direktor Will Tanner.

Es sind Männer wie Ron Matthews. Der Rentner ist in der Fußgängerzone von Workington gerade mit seiner Frau Mary einkaufen. 30 Jahre hat er beim Energieversorger British Gas gearbeitet, früher saß er für Labour im Stadtrat.

Doch dieses Mal will er konservativ wählen. Den aktuellen Labour-Chef Jeremy Corbyn hält er für einen Vaterlandsverräter, und zur lokalen Labour-Abgeordneten Sue Hayman fällt ihm nur ein, dass sie im Parlament immer wieder den Brexit verzögert habe.

Den Premierminister nennt jeder beim Vornamen

Dann lieber den blonden Entertainer aus der Oberschicht. „Boris ist noch der Beste aus diesem Haufen“, sagt Matthews. Es ist ein Satz, den man in Workington häufiger hört. Wie selbstverständlich nennt hier jeder den Premierminister beim Vornamen – so wie die englischen Boulevardzeitungen es auch tun.

Und jeder kann Johnsons Wahlkampfslogan herunterbeten. „Er will den Brexit durchziehen“, erklärt Matthews. Das ist alles, was er wissen muss. Es sei „ekelhaft“, dass das Land immer noch in der EU sei, schimpft er. Diese Meinung teilen die meisten hier, beim Referendum 2016 hatten 60 Prozent für den EU-Austritt gestimmt.

Stahl und Kohle haben Workington groß gemacht, der Ort exportierte Eisenbahnschienen in alle Welt. Die Stahlwerke und Kohlegruben sind jedoch längst geschlossen, und neue Branchen sind nicht nachgewachsen. Eine Papierfabrik gibt es noch. Im benachbarten Nationalpark, im Lake District, blüht der Tourismus. Der größte Arbeitgeber ist heute der öffentliche Sektor.

Das Bild ist ähnlich in Barrow and Furness, Teesside, Crewe, Warrington und Wigan. Wo einst die industrielle Revolution begann, wohnt heute der „Workington Man“. Wie eine rote Mauer ziehen sich die Labour-Hochburgen quer durch den Norden Englands.

An dieser Mauer wird sich voraussichtlich entscheiden, ob Johnson eine Mehrheit im Unterhaus erreicht – oder ob er schon nach wenigen Monaten wieder aus der Downing Street ausziehen muss. Die Konservativen müssten hier mindestens 15 Wahlkreise von Labour erobern, um die erwarteten Verluste im Süden Englands und in Schottland auszugleichen, sagt Tanner. „Wenn sie diese Sitze nicht gewinnen, wird eine Mehrheit sehr schwierig.“

Tanner spricht aus Erfahrung, er war Berater von Theresa May. Die frühere Premierministerin hatte bei der Unterhauswahl 2017 vergeblich versucht, die Labour-Hochburgen einzunehmen – und konnte am Ende nur eine Minderheitsregierung bilden.

„Niemand weiß, was der Deal ist“

Johnson verfolgt nun die gleiche Strategie. Laut Tanner hat sich die Ausgangslage verbessert. Damals hätten die Leute nicht verstanden, warum eine Wahl nötig war. Johnson hingegen könne auf seinen mit den Europäern ausgehandelten Brexit-Deal verweisen, dessen Ratifizierung das Parlament blockiert habe. Seine Forderung, das Gezerre zu beenden, entspreche der Stimmung im Land.

Im Wahlkampf setzt der Premierminister wieder einen Bus ein – wie schon vor dem Referendum 2016. Auf beiden Seiten steht seine Kernbotschaft: „Get Brexit done.“ Weitere Erklärungen sind unnötig. Auf der Straße in Workington kennt niemand den Unterschied zwischen Johnsons und Mays Brexit-Deal.

Backstop, Zollunion, Freihandelsabkommen – die Details sind den meisten schlicht egal. „Niemand weiß, was der Deal ist“, sagt Hausmeister Trevor, 60, der gerade seinen Hund spazieren führt. Für ihn zählt nur eins: „Wir sollten draußen sein, und wir sind immer noch drin.“ Seine Mutter sage immer: „Es gab ein Leben vor der EU, und es wird ein Leben nach der EU geben.“

Dabei macht es einen großen Unterschied, wie hart der Bruch mit dem großen Nachbarn ausfällt. Nach dem EU-Austritt im Januar will Johnson bis Ende 2020 ein reines Freihandelsabkommen verhandeln. Das würde es Großbritannien erlauben, von den EU-Standards abzuweichen. Wirtschaftsliberale Parteifreunde hoffen langfristig auf eine radikale Deregulierung und niedrigere Steuern, sie träumen von einem „Singapur an der Themse“.

Abstand zu Labour schrumpft

Um die Wahl zu gewinnen, braucht Johnson jedoch den „Workington Man“, und der hält nichts von Deregulierung. Auf der Jahreskonferenz des Wirtschaftsverbands CBI widerrief Johnson daher gerade die von der Vorgängerregierung geplante Unternehmensteuersenkung.

Auch wird es keine Steuersenkungen für Spitzenverdiener geben. Stattdessen liegt der Fokus auf neuen Milliardenprogrammen für Krankenhäuser, Schulen und Kommunen. Nach zehn Jahren Sparkurs, der besonders im Norden Englands verheerende Folgen hatte, steuern die Konservativen um und wollen die Staatsausgaben wieder ausweiten.

Im „Conservative Club“ in Workington macht man sich daher Hoffnung. Der Abstand auf Labour schrumpft seit Jahren, bei der jüngsten Wahl lagen die Tories nur noch mit knapp viertausend Stimmen hinten. „Dieses Mal wird es klappen“, glaubt Ronnie Bell, ein pensionierter Industriereiniger und Präsident des Vereins. Johnson sei ein besserer Wahlkämpfer als May.

Bells Stellvertreter Collins ist sich nicht so sicher. Die Brexit-Partei von Nigel Farage werde die Tories Stimmen kosten, und am Ende könnte wieder Labour die Nase vorn haben, gibt er zu bedenken. Im britischen Mehrheitswahlrecht bekommt nur die stärkste Partei des Wahlkreises ein Mandat, der Rest der Stimmen verfällt.

Zwar verzichtet die Brexit-Partei darauf, in den 317 konservativen Wahlkreisen anzutreten, um den Sieg der Tories dort nicht zu gefährden. Der Nichtangriffspakt gilt jedoch nicht für die Labour-Wahlkreise. Schon wenn die Brexit-Partei in Workington einige Hundert oder Tausend Stimmen erhält, könnte sie den Sieg der Konservativen über Labour verhindern. „Es ist eine Schande“, sagt Collins. „Nie war die Gelegenheit so gut.“

Der lokale Kandidat der Brexit-Partei sieht das anders: „Die Tories werden hier nie gewinnen“, sagt der pensionierte Zahnarzt David Walker. Der Schritt zu den Konservativen sei für traditionelle Labour-Wähler zu groß, weil die Tories für die Deindustrialisierung verantwortlich gemacht würden.

Zur Brexit-Partei sei der Schritt hingegen nicht ganz so weit. Johnson scheint mit seinen klaren Ansagen allerdings bei den Brexit-Wählern anzukommen: In nationalen Umfragen ist die Brexit-Partei auf unter zehn Prozent gefallen. Doch die Tories machen sich keine Illusionen. „Viele Leute werden für Farage stimmen“, sagt Tanner.

Corbyn ist Johnsons Trumpf

Johnsons größter Trumpf ist ausgerechnet sein Herausforderer. Labour-Chef Corbyn hat in Workington einen schweren Stand. Obwohl sein Wahlprogramm, darunter die Verstaatlichung von Energieversorgern, Post und Bahn, durchaus populär ist, winken die Menschen ab, sobald sie den Namen Corbyn hören.

Pazifist, Atomgegner, Vegetarier, IRA-Sympathisant – die kulturelle Kluft zwischen den Arbeitern und dem Londoner Altlinken ist tief. Seine Ansichten gelten als zu extrem, und sein Brexit-Kurs als unklar.

Sollte er Premier werden, würde er den Ausstiegsvertrag mit den Europäern noch einmal nachverhandeln und dann auch noch ein zweites Referendum abhalten. Das klingt langwierig und kompliziert – und ist damit das genaue Gegenteil dessen, was Johnson verspricht.

Corbyn werde Labour Stimmen kosten, sagt die Kioskbetreiberin Alison Linford. Angesichts der Auswahl zwischen Johnson und Corbyn will sie selbst gar nicht wählen gehen. Auch die Labour-Aktivisten kämpfen beim Haustür-Wahlkampf gegen den Corbyn-Effekt. Sie sage immer, dass Corbyn nicht auf dem Wahlzettel stehe, verrät Celia Tibble. Die langjährige Stadträtin glaubt dennoch, dass Labour den Wahlkreis halten kann.

In landesweiten Umfragen führen die Konservativen zweistellig. Das sind jedoch nur bedingt aussagekräftig, weil die Dynamik in jedem Wahlkreis anders ist. May lag in Umfragen vor der Wahl 2017 noch weiter vorn als Johnson. Am Ende hatte Corbyn sie fast eingeholt.

Ein solches Patt erscheint auch dieses Mal möglich. „Es könnte wieder 50/50 ausgehen“, sagt Collins. „Das wäre das schlimmste Ergebnis.“