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Ist Rosinenpicken ein kluger Schachzug Großbritanniens?

Chaostage in Großbritannien: Zahlreiche Minister warfen das Handtuch und stürzten die Regierung Theresa Mays in die Krise. Doch die Verwerfungen können auch eine Chance für einen Neustart der Brexit-Verhandlungen sein.

In Großbritannien scheint das blanke Chaos zu herrschen. Am ersten Juli-Wochenende hat das Kabinett einen weichen Brexit dergestalt, dass Großbritannien mit der Europäischen Union eine Freihandelszone für Industriegüter und Agrarprodukte bildet, beschlossen; Dienstleistungen bleiben außen vor. Dies ist grundsätzlich eine erfreuliche Nachricht, weil durch eine Freihandelszone die Handelsbeziehungen über den Kanal stabil bleiben und der freie Handel auf der irischen Insel bestehen bleibt, ohne dass Großbritannien Autonomie mit Blick auf das Außenhandelsregime Drittstaaten gegenüber aufgibt. Allerdings widerspricht der Ausschluss von Dienstleistungen den Idealen (nicht unbedingt den Gesetzen) der Welthandelsorganisation (WTO).

Diese Einigung im Kabinett war nicht sehr nachhaltig. Schon am selben Sonntag beziehungsweise am darauffolgenden Montag traten die beiden Minister David Davis und Boris Johnson zurück, die als besondere Brexit-Hardliner gelten. Zur Erinnerung: Es war Johnson, der im Frühjahr 2016 mit haarsträubenden Thesen und falschen Zahlen die Brexit-Kampagne „belebte“. Die Regierung steckt offenkundig in einer ernsten Krise; das Pfund verlor an Wert, die Opposition jubelt.

Diese Krise kann aber auch eine Chance sein. Denn die Stimmung in Großbritannien ist seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 explosiv, das Land in ziemlich genau zwei gleich starke Hälfte dafür und dagegen gespalten. Das Parlament scheint eher mehrheitlich gegen den Brexit zu sein. Und die Kosten des Brexits scheinen ins Astronomische zu gehen. Viele Unternehmen, darunter auch britische Traditionsunternehmen, drohen unverhohlen mit Abwanderung; der Gesundheitsversorgung droht der Kollaps, und der Finanzplatz London steht vor einer ungewissen Zukunft.

Nun besteht die Möglichkeit, mit frischen, unverbrauchten und unideologischen Kräften einen neuen Start bei den Verhandlungen zu wagen – Minister Davis erwies sich als wenig erfolgreich; ständig blitzte er beim europäischen Unterhändler Michel Barnier ab. Davis wirkte aber auch nicht sehr sachorientiert. Neue Kräfte mögen erfolgreicher sein. Premierminister May hat am Montagnachmittag im britischen Unterhaus nochmals klar gemacht, dass sie auf jeden Fall aus dem Europäischen Binnenmarkt und der Zollunion austreten will. Ob hier das letzte Wort gesprochen wurde, ist natürlich noch nicht klar.
Denn bereits am Nachmittag desselben Tages haben europäische Beobachter und britische Unterhausabgeordnete ein neues Referendum über den Brexit vorgeschlagen. Nun sind Vorschläge aus deutschen Oppositionsparteien für die britische Regierung keineswegs bindend, aber es wird in Zukunft neue Diskussionen geben. Der Druck auf Premierministerin Theresa May wird zunehmen, vor allem wenn die britische Wirtschaft sich zu Wort meldet - und das wird definitiv der Fall sein.

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Das Schicksal des Brexits hängt auch von der Reaktion der Europäischen Union (EU) auf diese neue Entwicklung ab. Gerade vor dem Hintergrund der unklaren Beziehung zu den Vereinigten Staaten muss es im Interesse der EU sein, ein sehr gutes Verhältnis zu Großbritannien beizubehalten. Insofern ist der Vorwurf des Rosinenpickens durch Großbritannien, der jetzt gelegentlich zu hören ist, voreilig und unreif. Die EU sollte deshalb der britischen Premierministerin – oder ihrem Nachfolger, falls es doch zur Regierungskrise in Großbritannien kommen sollte – jede Unterstützung bei der Suche nach einem rationalen Brexit geben.

Vielleicht sollte man sogar einen Schritt weiter gehen. Denn es ist wie gesagt nicht klar, ob die britischen Pläne zum Brexit nicht noch einmal aufgeschnürt oder sogar infrage gestellt beziehungsweise ganz zurückgenommen werden. Für diesen Fall sollte die EU vorbereitet und offen sein. Möglicherweise besteht die Chance, den Briten eine Option einer Mitgliedschaft mit einer anderen, also eher langsameren Geschwindigkeit einzuräumen. Vor drei Jahren hat der damalige Premierminister David Cameron versucht, auf dem EU-Gipfel mit Sonderkonditionen den Druck auf die britische Regierung, den Brexit vorzubereiten, zu verringern. Die EU hat ihn in bornierter Weise abblitzen lassen. Diesen Fehler sollte man in Brüssel nicht wiederholen.
Denn nicht nur die Briten wollen sich verändern. Auch die Unzufriedenheit vieler Mitgliedsländer, insbesondere der Osteuropäer, mit der EU ist mit den Händen greifbar. Bislang bestand die Reaktion der europäischen politischen Entscheidungsträger darin, die Osteuropäer zurückzuweisen und den Briten ihre Naivität vorzuhalten. Diese Strategie hat mit Sicherheit nicht zur Europabegeisterung beigetragen. Überhaupt stellt sich die Frage, ob die EU für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts angemessen vorbereitet ist. „Weiter so“ und „Immer mehr“ sind nicht mehr die Losungen der Zeit.

Denkbar, wenn nicht sogar unabdingbar, ist eine alternative Strategie, nämlich die Brexit-Verhandlungen dazu zu nutzen, die europäischen Verträge neu zu gestalten, um eine Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten beziehungsweise ein Europa á la carte zu schaffen. Dazu wäre es notwendig, dass die Europäischen Entscheidungsträger über ihren Schatten springen und einen wirklich ergebnisoffenen Diskussionsprozess starten. Als Start könnte man Frau May anbieten, die Verhandlungen solange wie nötig zu führen und ihre Argumente, Sorgen und Vorschläge ernst zu nehmen.