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Rollender Angriff auf den Supermarkt

Gemüse und Milch im Postfach: Noch experimentieren Lieferdienste für frische Lebensmittel. Mit Amazons Markteintritt müssen sich die etablierten Marken sputen, um den Anschluss nicht zu verlieren.

Wer sich dafür interessiert, wie es um die Zukunft der Lieferdienste von frischen Lebensmitteln steht ist, schaut am besten auf Bewegung im Markt für Gewerbeimmobilien. Die Schlacht um den Kunden, der per App drei Pfund Kartoffeln, sechs Eier und eine Packung Mehl im Netz ordert, ist eine der Lieferwagen, Radtransporter und gekühlten Lagerstätten. Es ist ein Logistikkampf.

Wann immer eine große Fläche angemietet oder ein Bauantrag für ein Logistikzentrum gestellt wird, lohnt es sich, hinzuschauen, wer das tut. Die Anmietung einer Lagerhalle in München Daglfing mit einer maximalen Bauhöhe von 15 Metern und einer guten Anbindung an die A94, beschäftigte die Lokalpolitiker, die örtliche Presse und nun auch die Lebensmittelzeitung.

„Ich fress‘ einen Besen, wenn hier nicht Amazon einzieht“, zitierte schon im September 2015 der Münchener Merkur die Grünen-Politikerin Angelika Pilz-Strasser nach einer Sitzung des Bezirksausschuss Bogenhausen. Mehr als 16 Monate später ist sich die Lebensmittelzeitung sicher: „Der Standort verfügt über zwei Ebenen mit jeweils 7000 Quadratmeter und kann so gleichzeitig als Paket-Verteilungszentrum und Frische-Lager dienen.“

Der amerikanische Versandkonzern Amazon hat still und heimlich im vergangenen Oktober begonnen, in München den Kunden seines Dienstes „Prime“ auch frische Lebensmittel anzubieten.

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Noch firmiert Amazons Angebot gar nicht unter dem Namen „Fresh“ wie in den USA, sondern wird als Zusatzservice in Berlin und München den Kunden angeboten, die die Prime-Mitgliedschaft besitzen. Er gehört zu dem Service "PrimeNow", mit dem sich Kunden binnen Stunden Batterien, Matratzen oder auch einen 130-teiligen Steckschlüsselsatz zusenden lassen können. Obst, Fleisch und Käse sind nur ein Teil des Angebots - einer, mit dem der Versender unter dem Radar operiert und Erfahrungen mit schnell vergänglichen Gütern übt.

Die Angst vor Amazon

So fahren zwar noch keine Laster mit dem Aufdruck Amazon Fresh wie in den USA durch deutsche Städte. Dennoch ist klar: Der Angriff auf den deutschen Lebensmitteleinzelhandel kommt.

Rewe-Chef Alain Caparros fürchtet die Attacke. „Wir müssten uns warm anziehen gegen Amazon Fresh“, sagte er bereits Ende 2016 in einem Interview mit der Rheinischen Post.

Seit Monaten brodelt es in der Branche: Die Sorge vor einem Umbruch wächst, die Unsicherheit, was zu tun ist, auch. Dabei sind Lieferdienste für Lebensmittel im Prinzip nichts Neues. Die sogenannten Obst-Tüten, die Kunden einmal wöchentlich mit frischem Gemüse und Obst versorgen, sind ein alter Hut. Auf der anderen Seite der Skala – im exklusiven Feinkosthandel – ist die Zusendung auch verderblicher Waren längst nötiges Standbein von Anbietern wie Otto-Gourmet, die ihre gereiften Edel-Steaks quer durch die Republik versenden. Selbst Käseaffineure wie Waltmann in Erlangen erreichen per Post eine nationale Klientel.

Allein die Grundversorgung der großen Masse an Kunden – die tritt noch immer auf der Stelle. Etwa 1,3 Milliarden Euro wurden online im deutschen Lebensmitteleinzelhandel umgesetzt - dem stehen 160 bis 170 Millionen Euro gegenüber im stationären Handel.

Doch mit dem Markteintritt von Amazon als Möhren- und Milch-Auslieferer in Deutschland, der sich zunächst auf Berlin und München beschränkt, wird sich das vermutlich ändern, wollen die bisherigen Platzhirsche nicht zusehen, wie der amerikanische Gigant auch diesen Markt im Sturm erobert.

Potenzial ist da: Die Strategieberatung Oliver Wyman rechnet bis 2020 mit einem Umsatz von sechs bis acht Milliarden mit Onlinebestellungen - das wären rund vier bis fünf Prozent statt 0,8 Prozent dieses Jahr. Dass Amazon Chancen hat, sich ein großes Stück vom Kuchen zu holen, bezweifelt niemand. In Deutschland wappnen sich deswegen große Lebensmittelhändler für die Zeiten, in denen nicht der Kunde zur Kühltheke, sondern die Schinkenwurst zum Kunden geht.


Der Angstgegner Amazon

Während reine Online-Supermärkte wie lebensmittel.de Kunden zwar alles zusenden, was verschlossen und ungekühlt lange haltbar ist, wagt sich Rewe mit seinem shop.rewe.de auch an die zeitnahe Auslieferung verderblicher Waren. Mit ihnen steht und fällt das Geschäft. Kunden, die online Fertiggerichte, Konserven und Toilettenpapier ordern, wollen für Butter, Eier, frische Milch oder ein Steak nicht noch extra in den Supermarkt fahren müssen.

„Für die Spezialisten im Lebensmittelhandel ist der Umgang mit frischen Waren gelernt. Dort haben sie Expertise“, sagt Michael Lierow, Partner bei Oliver Wyman. Das trifft zwar auf Edeka auch zu – doch den Mut, diese auch in die Dienstleistung umzusetzen, fehlt derzeit noch. Wer sich das Angebot auf edeka24 aufruft, hat freie Auswahl aus einer vermeintlich unüberschaubaren Warenpalette – von deren Bestandteilen jedoch keiner gekühlt oder gar tiefgefroren zum Kunden gelangen muss.

Zurückhaltend sind deshalb wohl die großen Discounter. Sie schauen dieser Entwicklung derzeit eher zu. Bei Lidl wurden alle Versuche, mit Lidl Express zumindest den halben Weg Richtung Online-Shopping zu gehen, gestoppt. Mit der Entlassung des Chefs Sven Seidl Anfang des Monats wurde das Pilotprojekt "Express" gestoppt, bei dem Kunden zwar online geordert, die Ware aber noch in einer speziellen Filiale hätten abholen müssen – ein Verfahren, das als Click&Collect bezeichnet wird.

Bei der Metro-Tochter Real wiederum laufen derzeit die Vorbereitungen, das Onlinegeschäft zu intensivieren. Zurzeit beschränkt sich der Lebensmittellieferdienst real-drive.de aber noch auf den Raum Berlin. Einen eigenen Namen wählte die Bünting-Gruppe für ihr Lieferdienstgeschäft: mytime.de Die Bünting-Gruppe, hervorgegangen aus einem Tee-Handel, betreibt die Märkte famila, Combi und Jibi.

Bei allen diesen Angeboten lässt sich bequem der Wocheneinkauf erledigen – solange es keine besonderen Wünsche sind, die der Kunde hegt. Die Sortimentstiefe kann mit dem, was ein engagierter Händler in einer Rewe-Filiale auf die Beine stellt, nicht mithalten. Wer sich mit den großen Marken eines Segments begnügt, wird jedoch wenig Lücken finden.

Doch auch Caparros Angstgegner Amazon bietet im Express-Service bereits eine ausreichende Produktpalette, befindet die Beratung Wyman. „Das Angebot hält einem Wettbewerbsangebot durchaus Stand“, sagt Michael Lierow.

Egal ob Online-Angreifer oder etablierter Einzelhändler: Beim Lebensmittelhandel über das Internet stehen die Anbieter vor (fast) den gleichen Herausforderungen.

So verursacht der Transport Zusatzkosten. Die Wege, den Kunden die Dienstleitung bezahlen zu lassen, sind unterschiedlich. Rewe setzt in seinen Liefergebieten auf einen Mindestbestellwert von 40 Euro. Der soll gewährleisten, dass mit der Lieferung auch wirtschaftlich gearbeitet werden. Amazons Lieferung mit Prime Now in Berlin und München ist zwar kostenfrei – allerdings ist der Dienst Prime mit einer jährlichen Summe zu bezahlen. Die wiederum beinhaltet auch weitere Dienstleistungen des Versenders – der Kunde soll nicht allein mit bestellten Waren, sondern auch Filmen oder Musik umgarnt werden.

Die Preise für die Waren sind bei allen Anbietern von mytime bis edeka24 im Rahmen dessen, was auch an Bandbreite im stationären Handel zu finden ist. Eigene Suchfunktionen für runtergesetzte Waren helfen Sparfüchsen, das meiste herauszuholen.

Für preisorientierte Käufer ist die Suche nach dem aktuellen Schnäppchen hingegen problematisch. Wer die Zucchini beim reinen Online-Supermarkt bringmeister.de für 4,99 Euro das Kilo zu teuer findet und lieber bei real-drive für 3,98 Euro das Kilo oder gar nur 2,99 das Kilo bei mytime oder 2,49 bei Rewe investieren möchte, verpasst dafür vielleicht die Chance, etwas beim Nutella zu sparen, das bei bringmeister.de wiederum mit 2,65 am günstigsten ist. Und damit fangen die Probleme erst an.


Diese Probleme gilt es zu lösen

Der schönste Lieferdienst nützt nichts, wenn der Kunde die Ware nicht in Empfang nehmen kann. Insbesondere, wenn die verderblich ist. Das Paket mit Staubsaugerbeuteln, Pulverkaffee, Küchenrolle und fünf Packungen Instantnudelsuppen kann auch stunden- oder tagelang in einer Packstation oder beim Nachbarn stehen. Das geht mit den Hühnchenfilets oder tiefgekühlten Shrimps nicht.

Wer nicht daheim ist, um die Besorgungen in Empfang zu nehmen, geht mit den Trockenwaren kein Risiko ein. Dennoch sind alle Anbieter bestrebt, die Auslieferung mit Wunsch-Zeitfenstern von zwei Stunden für die Besteller berechenbar zu machen. Bei Vollzeitberufstätigen mit normalen Arbeitszeiten könnte es dann aber vor allem in den Abendstunden eng werden – wenn alle den gleichen Zeitraum angeben.

Das ist die Stunde der Logistiker. Bei der Herausforderung einen „temperaturgeführten Transport“, sicher zu stellen, können sie Exzellenz zeigen. In diesem Wettbewerb wirft sich nun auch Paketservice DPD. Mit DPD Food soll ab diesem Sommer der Transport von gekühlten Waren den Anbietern ermöglicht werden.

Bislang ist es hellofresh als Mischform von Lieferdienst und Lebensmittelhändler, das DPDs Dienste nutzt. Wer sich bei der Rocket Internet-Tochter mit den Paketen versorgen lässt, bekommt aufwändig isolierte Ware in großen Kartons. Je größer die Umverpackung, desto höher die Kosten für die Versender.

Kommt es trotz SMS-Ankündigung und dem Angebot soweit, dass DPD eine Box mit Essen nicht zustellen kann, ist sie zumindest kein Fall für den Müll. "Gelangt die Kochbox dennoch nicht rechtzeitig zum Empfänger, leitet DPD das Paket als Spende an eine karitative Einrichtung weiter, die den Zustand der Waren prüft und Lebensmittel in guter Qualität einem gemeinnützigen Zweck zuführt", heißt es bei DPD.

Ein anderer Weg der Zustellung sind Stationen. Für frische Lebensmittel müssten diese gekühlt sein – wenn nicht sogar mit Eisfach. Eine Bestellung, die Käse aus dem Kühlregal, frische Erdbeeren und tiefgefrorene Pizzen und Eiscremebecher enthält, ist der Albtraum jedes Packers.

Mobile Paketstationen sind ein weiterer Weg. Der Autohersteller Smart hat mit „ready to drop“ eine Kooperation mit DHL abgeschlossen. Der Besitzer des Fahrzeugs montiert in seinem Kofferraum eine Box, der DHL-Bote kann das Fahrzeug mittels eines Codes öffnen, die Ware ablegen und den Wagen wieder verschließen. Ob diese Technik auf lange Sicht auch reicht, um verderbliche Lebensmittel sicher zumindest für einige Stunden aufzubewahren, ist unklar.

Um diese Probleme zu lösen, sind hohe Investitionen zu Beginn nötig. Der Lebensmitteleinzelhandel ist grundsätzlich margenschwach.

Der - wenn auch noch kleine - Markteintritt von Amazon wird die Branche dazu zwingen, sich dem Thema zu stellen. „Lebensmittel per Lieferdienste als Grundversorgung ist sicher zunächst in Städten mit mehr als einer Million Einwohnern oder in Ballungsräumen wie dem Rheinland oder Ruhrgebiet wirtschaftlich machbar“, sagt Lierow.

In kleineren Städten mit weniger als 200.000 Einwohnern wird es schwierig, die nötigen Kapazitäten für Lagerung und rasche Auslieferung rentabel zu machen.

„Vor drei Jahren hätte ich auch gesagt, dass der Konsument noch nicht so weit ist. Das ist jetzt anders“, sagt Lierow. Wer das nötige Investment tätige, wird sich nun damit durchsetzen können, da sich die Haltung zur Lieferung bei Kunden gewandelt habe.

Das scheint die Hoffnung von Amazon zu sein. In Bochum, im Herzen des Ruhrpotts mit seinen rund fünf Millionen Einwohnern, so will es die Lebensmittelzeitung erfahren haben, errichtet Amazon auf dem Gelände des ehemaligen Nokia-Werkes ein neues Verteilzentrum. Amazon habe, so die Zeitung weiter, bereits Gespräche mit regionalen Lebensmittelhändlern geführt.

KONTEXT

Das sind Amazons nächste Projekte

Einkaufsliste per Knopfdruck

Unter Amazon Dash versteht der Internetkonzern eine Art Einkaufsliste auf Knopfdruck. Die kleinen Aufkleber mit Taste können die Kunden einfach im Haus an das Waschmittel oder an das Hundefutter kleben - und wenn die Packung leer ist, per Knopfdruck schnell bei Amazon eine neue bestellen. Bisher ist der Service nur für Kunden des Premiumdienstes Amazon Prime in den USA und in Großbritannien erhältlich - für 4,99 US-Dollar je Button.

Marktplatz für Selbstgemachtes

Mit "Amazon Handmade" macht der Online-Händler Anbietern wie Etsy oder DaWanda Konkurrenz. Auf dem Marktplatz will Amazon Künstler und Bastler versammeln, die individualisierbare Produkte verkaufen: Selbstgeschneiderte Kleider und Taschen, Schmuck, Armbänder, Möbel. Die Plattform befindet sich in den USA noch im Aufbau. Wer dort verkaufen will, kann sich jetzt schon bewerben. Allerdings kostet ein professioneller Verkäufer-Account knapp 40 Dollar im Monat, und Amazon will bei jeder Bestellung zwölf Prozent Provision einstreichen. Bei anderen Plattformen sind diese Konditionen weitaus günstiger für die Verkäufer - allerdings erreichen sie dort wahrscheinlich nicht so viele Kunden. Ob und wann Amazon Handmade auch nach Deutschland kommen soll, ist nicht bekannt.

Plattform für Handwerker

Über seine Plattform "Amazon Home Service" vernetzt der Online-Händler in den USA Techniker, Handwerker und Trainer mit seinen Kunden in den Großstädten. Wer bei Amazon einen neuen Fernseher kauft, kann also gleich einen Techniker beauftragen, der den Fernseher anschließt und einrichtet. Auch Yoga-Stunden und Gitarren-Lehrer lassen sich über die Plattform buchen. Bis zum Jahresende will Amazons einen Service in 30 amerikanischen Großstädten anbieten.

Ein Lkw voller Schätze

In der Amazon-Heimatstadt Seattle fährt seit diesem Sommer der "Treasure Truck" - ein Lkw, vollgeladen mit Sonderangeboten. Kunden können die Waren auf dem Truck per App bestellen und direkt liefern lassen - zum Beispiel ein Surfboard für den Preis von 99 Dollar anstatt den üblichen 499 Dollar.

Musik-Streaming

Prime Music ist der Musik-Streamingdienst von Amazon, eine Konkurrenz zu Spotify oder Apple. Wer Mitglied beim Amazon Premiumdienst Prime ist, kann den Service in den USA und auch in Großbritannien ohne Zusatzkosten nutzen. Allerdings verfügt Amazon bisher nur über eine Bibliothek von etwa einer Millionen Songs.

Eigene Serien, Filme und Video-Spiele

Amazon begnügt sich schon lange nicht mehr, Medien zu verkaufen - der Online-Händler produziert sie mittlerweile auch selbst. Über seinen Streamingdienst zum Beispiel hat Amazon die ersten Folgen der Serie "The Man in the High Castle" veröffentlicht. Darin geht es um die Frage: Wie würde die Welt aussehen, wenn die Nazis den zweiten Weltkrieg gewonnen hätten? Auch einen eigenen Kinofilm mit dem Titel "Elvis & Nixon" produziert Amazon. Was danach kommt? Wahrscheinlich ein eigenes Videospiel. Laut Medienberichten hat Amazon Entwickler von bekannten Spielen wie World of Warcraft oder Halo verpflichtet.