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Marsalek soll auf Anwesen bei Moskau leben – Die Rolle der Geheimdienste im Wirecard-Skandal

Die Sondersitzung des Finanzausschusses soll die Rolle der Geheimdienste beleuchten. Die Flucht des früheren Vorstands Marsalek macht die Abgeordneten misstrauisch.

Hat der Zahlungsdienstleister mit Geheimdiensten zusammengearbeitet? Abgeordnete der Opposition sehen Hinweise darauf und fordern Aufklärung. Foto: dpa
Hat der Zahlungsdienstleister mit Geheimdiensten zusammengearbeitet? Abgeordnete der Opposition sehen Hinweise darauf und fordern Aufklärung. Foto: dpa

Jan Marsalek muss gemerkt haben, dass es für ihn eng wird. Vier Tage bevor Wirecard Luftbuchungen über 1,9 Milliarden Euro in der Bilanz zugeben musste, setzte sich das frühere Vorstandsmitglied des Zahlungsdienstleisters ab. Von Klagenfurt flog der österreichische Manager mit einem Privatjet erst nach Tallin, die Hauptstadt Estlands, und dann weiter in die weißrussische Hauptstadt Minsk.

Mittlerweile soll Marsalek auf einem Anwesen westlich von Moskau untergebracht sein. Dort stehe er nicht mehr unter Aufsicht des russischen Militärgeheimdienstes GRU, sondern unter Kontrolle des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR, erfuhr das Handelsblatt von Bekannten des Geflüchteten, die aus Gründen ihrer eigenen Sicherheit nicht namentlich genannt werden wollen.

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Der SWR habe auch darauf bestanden, Marsalek aus Weißrussland wegzubringen, nahe der russischen Hauptstadt sei es für ihn „sicherer als dort“. Marsalek habe die Zusicherung erhalten, nicht ausgeliefert zu werden.

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Wirecard und die Geheimdienste – das ist ein bisher wenig ausgeleuchtetes Kapitel des facettenreichen Wirtschaftskrimis. Am Montag soll es Thema werden in der Sondersitzung des Finanzausschusses im Bundestag. Die Abgeordneten haben Johannes Geismann eingeladen, er ist Staatssekretär im Bundeskanzleramt und Beauftragter für die Nachrichtendienste des Bundes. Ob Geismann selbst kommt oder das Kanzleramt jemanden anderen schickt, war bis zuletzt unklar.

Das Thema Geheimdienste steht jedenfalls auf der Tagesordnung. Bislang ist dazu wenig bekannt. Die Bundesregierung hat in ihren Unterlagen für das Parlament bisher stets auf Nicht-Kenntnis verwiesen: „Dem Bundesnachrichtendienst liegen keine nachrichtendienstlichen Erkenntnisse zur Wirecard AG vor“, heißt es dort.

Und die Antwort auf eine neue Anfrage des Linken-Finanzexperten Fabio De Masi, die dem Handelsblatt vorliegt, erklärt: „Dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst liegen keine nachrichtendienstlichen Erkenntnisse zu Jan Marsalek vor.“

Professionelle Hilfe aus dem Ausland?

Die Opposition überzeugt das nicht. Dass Marsalek so schnell untertauchen konnte, lege die Vermutung nahe, dass er professionelle Hilfe aus dem Ausland gehabt habe. „Das lernt man nicht im BWL-Studium“, sagte FDP-Finanzexperte Florian Toncar. Marsalek, der mit internationalem Haftbefehl gesucht wird, ist nun schon über zwei Monate verschwunden.

Das Bundeskanzleramt müsste erklären, welche Erkenntnisse es zur Flucht Marsaleks nach Russland und über Verbindungen zu den dortigen Geheimdiensten habe, sagte die finanzpolitische Sprecherin der Grünen, Lisa Paus. In Moskau wird der Fall Wirecard längst diskutiert. „Wir sehen nicht das Ende, sondern den Anfang einer großen Spionage-Geschichte, von letztendlich größerer Bedeutung als die Affäre um den NSA-Überläufer Snowden“, ist das den Geheimdiensten nahestehende Blatt „Versija“ überzeugt.

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Auch Roman Dobrochotow, einer der führenden Investigativjournalisten Russlands, ist überzeugt: Marsalek habe zumindest mit dem Geheimdienst in Russland zusammengearbeitet. Und der Geflüchtete könnte „für Russland eine Art Zahlungskurier gewesen“ sein.

Mit Fahndungsplakaten wird nach Jan Marsalek gesucht. Foto: dpa
Mit Fahndungsplakaten wird nach Jan Marsalek gesucht. Foto: dpa

Das Interesse der russischen Geheimdienste an Marsalek und Wirecard liegt auf mehreren Ebenen: Der junge Österreicher, der nach Angaben seiner Bekannten gut Russisch spricht und in Moskau exzellent vernetzt ist, soll geholfen haben, Gelder für pikante russische Auslandsoperationen transferiert zu haben – etwa für getarnte russische Investitionen in „failed states“ wie Libyen sowie zur Bezahlung von Söldnern in Syrien, der Ukraine und afrikanischen Staaten.

Die Tausenden Söldner müssten finanziert, Zahlungswege verschleiert werden, denn Russland bestreite zumeist, diese Söldner einzusetzen, heißt es in diplomatischen Kreisen. Wenn Marsalek dies für die Russen organisiert habe, sei er „besonders wertvoll“ für den Kreml. Dann sei er ein „Geheimnisträger erster Güte“, auch bis in höchste Kreise in Moskau.

Wirecard war für Nachrichtendienste interessant

Auch habe Marsalek über Wirecard für russische Betreiber von Onlinecasinos und Glücksspielseiten Geschäfte angebahnt, heißt es übereinstimmend in russischen Medien. Dieser Sektor ist in Russland gesetzlich verboten, russische Finanzdienstleister dürfen keinen Zahlungsverkehr dafür abwickeln – ergo könnten Wirecards Dienste einen Ausweg geboten haben. Dass über Wirecards Partner in Dubai massenweise Glücksspiel- und Porno-Transaktionen abgewickelt wurden, zeigen Unterlagen, die das Handelsblatt einsehen konnte.

Diese Daten und Informationen könnten Wirecard für zahlreiche Nachrichtendienste interessant gemacht haben. Zudem gibt es Hinweise, dass der Zahlungsdienstleister weitere Leistungen für Geheimdienstmitarbeiter angeboten haben könnte. Gegenüber Vertrauten hatte Marsalek in der Vergangenheit sehr offen über entsprechende Tätigkeiten gesprochen. „Jan sagte, Wirecard stellt für alle möglichen Geheimdienste Kreditkarten her, liefert Informationen über Zahlungsflüsse und zur Frage, welche Personen hinter den Transaktionen stecken“, erinnert sich ein Insider.

Er spreche täglich mit Nachrichtendiensten, brüstete sich Marsalek in seinem Umfeld. Zu seinen Partnern zählten die sogenannten „Five Eyes“, also der Geheimdienstverbund aus US-amerikanischen, britischen, kanadischen, australischen und neuseeländischen Diensten. Außerdem arbeitete Marsalek nach eigener Aussage mit dem israelischen Mossad und dem deutschen BND zusammen. Auch nach Russland habe er beste Kontakte, verwies wiederholt auf befreundete Oligarchen, erzählt ein Vertrauter.

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Das letzte große Geschäftsprojekt, das der flüchtige Vorstand betreut haben soll, war die geplante Übernahme der Zahlungsabwicklung für das türkische Mautsystem durch Wirecard. Marsalek reiste hierzu in den Monaten vor dem Absturz wiederholt in die Türkei, die auch als Finanzdrehscheibe des Nahen Ostens dient.

Noch auf der Flucht schrieb er einem Vertrauten per Textnachricht, er habe „mehrere Pässe, wie jeder gute Geheimagent“. Angesichts der behaupteten Kontakte, etwa zum deutschen BND, wollen die Bundestagsabgeordneten jetzt im Finanzausschuss nachhaken.

„Die bisherige Antwort der Bundesregierung, es lägen keine geheimdienstlichen Erkenntnisse vor, überzeugt uns nicht“, sagte Grünen-Finanzexpertin Paus. „Wir werden das Thema deshalb noch mal von verschiedenen Seiten aufrollen, bis hin zur Frage, ob Wirecard für Geheimdienstmitarbeiter Kreditkarten ausgestellt hat oder nicht.“

Kritik an unklaren Aussagen der Bundesregierung

Der Finanzexperte der Linken-Bundestagsfraktion, De Masi, kritisiert: „Marsalek hat sich mit seinen BND-Kontakten gebrüstet. Dennoch gibt es bis heute keine klare Aussage der Bundesregierung, ob der BND mit dem Skandalkonzern zusammengearbeitet hat. Das ist ein Unding.“

Die Abgeordneten interessieren sich zudem für die Rolle von Klaus-Dieter Fritsche. Er war bis Anfang 2018 Staatssekretär im Bundeskanzleramt und Beauftragter für die Nachrichtendienste des Bundes. Nachdem er in den Ruhestand verabschiedet worden war, arbeitete er zwischenzeitlich für den österreichischen Innenminister und auch für Wirecard.

Nach Unterlagen der Bundesregierung wandte sich Fritsche im August 2019 an das Kanzleramt und bat für Wirecard um einen Gesprächstermin mit Lars-Hendrik Röller, dem Wirtschaftsberater von Kanzlerin Angela Merkel.

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Das Gespräch fand schließlich am 11. September statt. Neben Röller und Fritsche nahmen Alexander von Knoop, Finanzchef von Wirecard, und Burkhard Ley, Berater des Konzerns, teil. Es habe „in erster Linie dem gegenseitigen Kennenlernen“ gedient, heißt es in einer Chronologie des Kanzleramtes.

Zudem habe Wirecard „in allgemeiner Form über ihre Geschäftsaktivitäten in Fernost“ informiert. Linken-Politiker De Masi hält diese Darstellung für zweifelhaft, schließlich habe Merkel schon bei ihrer Chinareise Anfang September für Wirecards Asienexpansion geworben. Zuvor hatte Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) im Kanzleramt für den Konzern lobbyiert.

Für De Masi sind das zu viele Zufälle, er hält eine Zusammenarbeit zwischen Wirecard und BND für wahrscheinlich: „Zu vermuten ist es, schließlich hat Ex-Geheimdienstkoordinator Fritsche für Wirecard lobbyiert und hatte gute Verbindungen zum österreichischen Geheimdienst. Es würde mich sehr überraschen, wenn Dienste in Wien, München und Berlin einen Geheimdienst-Fan wie Marsalek und die Finanzdaten von Wirecard nicht gerne genutzt hätten.“

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Mittlerweile hat das Kanzleramt Fritsches Tätigkeit geprüft. Das Bundesbeamtengesetz schreibt vor, dass Ruhestandsbeamte unter bestimmten Voraussetzungen ihre Tätigkeiten anzeigen, wenn sie mit ihrer früheren Arbeit in Zusammenhang stehen könnten.

„Eine durch das Bundeskanzleramt veranlasste Prüfung der Erfüllung dienstlicher Pflichten von Staatssekretär a. D. Fritsche bezüglich seiner Tätigkeit für die Wirecard AG ergab, dass die Tätigkeit keiner Anzeigepflicht unterlag“, sagte eine Sprecherin der Bundesregierung auf Anfrage.

Bemüht sich die Bundesregierung ausreichend um Aufklärung? Oppositionspolitiker hegen Zweifel. Unklar ist etwa, ob Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) bei seiner Russlandreise am 11. August das Thema Marsalek gegenüber seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow angesprochen hat. Lawrow erklärte auf der anschließenden Pressekonferenz auf die Frage eines Journalisten: „Ich kenne Herrn Jan Marsalek nicht. Ich weiß kaum etwas über seine Aktivitäten, denn er ist kein Gegenstand von außenpolitischen Diskussionen.“

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Das Auswärtige Amt will sich zum Inhalt der vertraulichen diplomatischen Gespräche grundsätzlich nicht äußern. Auf Handelsblatt-Anfrage erklärt es, keine Erkenntnisse über die Umsetzung des internationalen Haftbefehls („Red Notice“) gegen Marsalek durch Russland zu haben.

„Dass das Auswärtige Amt verschweigt, ob Maas in Russland den Fall angesprochen hat, kann ich überhaupt nicht nachvollziehen“, kritisiert De Masi. „Wenn Marsalek wirklich in Russland ist, muss die Bundesregierung das doch thematisieren.“ Der Linken-Finanzexperte kritisiert mangelndes Engagement. Zwar habe das Bundeskriminalamt Fahndungsplakate verteilt. „Aber wenn sich Herr Marsalek tatsächlich in Russland aufhalten sollte, müsste doch eher ein Auslieferungsantrag gestellt werden.“