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Richter gegen Richter: Der Diesel-Streit in Stuttgart eskaliert

Im Dieselstreit geraten zwei Richter zwischen die Fronten: Daimler und VW lehnen einen wegen Befangenheit ab. Den anderen attackieren die Klägeranwälte.

In der baden-württembergischen Landeshauptstadt werden die großen Diesel-Prozesse ausgetragen. Foto: dpa
In der baden-württembergischen Landeshauptstadt werden die großen Diesel-Prozesse ausgetragen. Foto: dpa

Die Diesel-Advokaten kämpfen mit harten Bandagen. Der Richter des Landgerichts Stuttgart handele „rechtswidrig“, er überschreite „deutlich seine richterlichen Kompetenzen“ und setze sich „über die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hinweg“, schreiben die Anwälte.

Sie sind im Auftrag des Autokonzerns Daimler tätig und wollen verhindern, dass sich Fabian Richter Reuschle weiter mit Klagen geschädigter Dieselkunden befasst. Es bestehe die „Besorgnis der Befangenheit“, schrieben sie am 26. November 2019 an das Gericht.

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Für Richter Reuschle ist das nichts Neues. Der Jurist mit dem ungewöhnlichen zweiteiligen Nachnamen Richter Reuschle, der hier abgekürzt nur Reuschle heißt, war bereits mit Verfahren gegen Volkswagen und die Porsche SE befasst. Auch hier ging es um Kläger, die sich als Autokäufer und Aktionäre geschädigt sahen.

Reuschle ist bekannt für zahlreiche Entscheidungen zugunsten der Kläger. In etlichen Urteilen verurteilte er die Hersteller zur Zahlung von Schadensersatz. Einer Aktionärsgruppe der Porsche SE sprach er im Oktober 2018 die Summe von 47 Millionen Euro Schadensersatz zu.

Dann gelang es dem Volkswagen-Konzern, Reuschle wegen Befangenheit aus dem Verkehr zu ziehen. Grund: Seine Frau ist selbst Fahrerin eines VW mit manipuliertem Motor. Ende 2018 klagte sie auf Schadensersatz. Womöglich, so argumentierten die Anwälte, versuche Reuschle mit seinen Urteilen, die Erfolgschancen seiner Frau zu verbessern.

Richter im Zwielicht

Dass Reuschle aus dem Spiel genommen wurde, liegt im Wesentlichen an einem Kollegen: Sebastian Sonn. Sonn gehörte wie Reuschle bis Ende 2019 der 3. und der 22. Zivilkammer am Landgericht Stuttgart an. Er hatte über Reuschles angebliche Befangenheit zu entscheiden. Sonn befand, sein Kollege sei im Porsche-Verfahren nicht haltbar.

Seine eigene Vita ist indes Anlass zu neuem Streit. Sonn arbeitete drei Jahre für die Kanzlei Gleiss Lutz, die Daimler in Dieselfragen vertritt. Sonn findet das unproblematisch. Nun läuft auch gegen ihn ein Befangenheitsantrag.

Der Streit um die Richter am Landgericht Stuttgart ist maßgeblich, weil dort die überwiegende Zahl aller Klagen gegen Daimler und Porsche verhandelt wird. Nach Auskunft des Gerichts sind allein von Januar 2018 bis Oktober 2019 rund 3.700 Daimler-Fälle eingegangen.

„Das Landgericht Stuttgart ist von den Klagen gegen Daimler so betroffen wie bundesweit kein anderes Gericht“, erklärte kürzlich Gerichtspräsident Andreas Singer. Zum Streit um die Richter sagte eine Sprecherin, Sonn habe die Parteien „umgehend zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ auf seine frühere Tätigkeit für Gleis Lutz hingewiesen.

Nun sind laut Grundgesetz vor dem Gesetz alle gleich. In Stuttgart macht es aber offenbar für Dieselkunden einen erheblichen Unterschied, vor welchem Richter sie ihr Recht suchen. Reuschle ist stellvertretender Vorsitzender, Sonn Beisitzer der 3. Kammer.

Aus Justizkreisen heißt es, die beiden seien sich spinnefeind. Offenkundig ist, dass sie in der Beurteilung der Dieselklagen völlig unterschiedlicher Meinung sind: Reuschle urteile tendenziell pro Autokunde, Sonn pro Autohersteller.

Reuschle hat das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) auf seiner Seite. Nach Untersuchungen der obersten Bundesbehörde für den Straßenverkehr installierte Daimler eine unzulässige Abschalteinrichtung in vielen Dieselmotoren – eine Software, um den Abgasausstoß zu manipulieren. Das KBA erließ drei Bescheide, mit denen der Rückruf von mehr als einer Million Fahrzeugen angeordnet wurde.

Daimler bestreitet ein Fehlverhalten, beugte sich aber den Anordnungen der Flensburger Behörde und akzeptierte einen Bußgeldbescheid der Staatsanwaltschaft Stuttgart in Höhe von 870 Millionen Euro. Parallel wehrte sich Daimler sowohl gegen die KBA-Bescheide als auch gegen klagende Daimler-Aktionäre und Dieselbesitzer.

Daimler möchte seine Fälle nicht unter dem Vorsitz von Reuschle verhandeln. Einerseits urteilte der in der Vergangenheit häufig für die Kunden und gegen den Konzern, andererseits kündigte er Ende 2019 an, 22 Dieselklagen zu bündeln und dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen. Mit diesem Vorgehen würde Reuschle eine höchstrichterliche Entscheidung herbeiführen – und eine solche will Daimler offenbar verhindern.

In einem ausführlichen Statement erklärte Reuschle, warum er die Klagen gegen Daimler für aussichtsreich hält und dass der Autohersteller aus seiner Sicht grundsätzlich Schadensersatz leisten muss. Seine Stellungnahme ist 74 Seiten lang und liegt dem Handelsblatt vor. Daimler hätte dafür Sorge tragen müssen, dass seine Dieselfahrzeuge nicht nur auf dem Prüfstand, sondern auch auf der Straße die Emissionsgrenzwerte einhalten, befand der Landrichter. Daimler tat genau das nicht.

Umstrittenes „Thermofenster“

Der Konzern hatte dafür verschiedene Erklärungen. Einerseits stehe in den Vorschriften nur, dass die Abgaswerte im Labor einzuhalten seien. Andererseits gelte es, Bauteile im Fahrzeug zu schützen. Um die Abgase zu reinigen, musste eine bestimmte Flüssigkeit in den Motor gespritzt werden: Adblue.

Bei bestimmten Temperaturen aber, so der Konzern, führe diese Einspritzung zu einer „Versottungsgefahr“. Daimler habe deshalb in einem sogenannten „Thermofenster“ die Abgasreinigung abgeschaltet. Das allerdings war so groß bemessen, dass die Reinigung kaum zum Einsatz kam. Im Ergebnis lag der Abgasausstoß dadurch auf der Straße weit über den Grenzwerten.

Reuschle hält nun das Thermofenster für eine Ausrede. Der Hersteller hätte „eine Versottungsgefahr durch andere Maßnahmen“ verhindern können, schreibt der Richter. Da er es nicht tat, habe er sich schadensersatzpflichtig gemacht.

Reuschle wirft eine weitere Frage auf, die für Daimler teuer werden könnte. Geht es nach ihm, müssen sich klagende Kunden die bisherige Nutzung ihres Fahrzeugs nicht auf eine Entschädigung anrechnen lassen. Diese „Risikoverteilung“ sei nur für normale Kaufverträge gedacht. In den Dieselfällen aber seien manipulierte Fahrzeuge arglistig an gutgläubige Kunden verkauft worden. „Vorsätzlich sittenwidrige Schädigung“ nennen das die Juristen. Daimler weist die Vorwürfe zurück.

Vor diesem Hintergrund steht der Befangenheitsantrag, den Daimler gegen Reuschle stellte. Darüber soll nun ausgerechnet sein Kollege Sonn mitentscheiden. Dabei arbeitete Sonn selbst drei Jahre lang für die Kanzlei, die Daimler vertritt: Gleiss Lutz. Die Großkanzlei mit Stammsitz in Stuttgart ist sowohl für den Volkswagen-Konzern als auch für Daimler tätig.

Die Beratungsaufträge sind vielfältig. Für den Volkswagen-Aufsichtsrat ist etwa der Gesellschaftsrechtler Michael Arnold tätig, er prüft die Frage, ob Ex-Vorstände wie Martin Winterkorn ihre Pflichten verletzt haben und in Haftung genommen werden. Auch mit Daimler ist Gleiss Lutz eng verbandelt. Im Dieselkomplex vertritt die Kanzlei den Konzern in einigen Kundenklagen, außerdem kümmern sich Kartellrechtler um das Verfahren der EU-Kommission wegen möglich illegaler Absprachen zwischen Volkswagen, Audi, Porsche, Daimler und BMW.

Es steht unter anderem der Verdacht im Raum, dass sich die deutschen Autobauer bei der Größe der Adblue-Tanks abgesprochen haben. Heute ist klar, dass die Tanks viel zu klein waren, um dauerhaft die nötige Menge des Harnstoffs Adblue einzuspritzen, um die Abgase zu reinigen. Sonn arbeitete während seiner Zeit bei Gleiss Lutz als Kartellrechtler.

Klägeranwälte erheben schwere Vorwürfe

Wann Sonn seine Richterkollegen darüber unterrichtete, ist nicht bekannt. Das Landgericht teilt mit, dass seine frühere Tätigkeit der Kammer „seit seinem Eintritt bekannt“ war. Die Klägeranwälte halten ihn gleichwohl für befangen und haben einen Antrag gestellt, ihn aus dem Verfahren zu nehmen. Die Kammer am Stuttgarter Landgericht hat die Personalie Sonn schon vorbehandelt.

Kurz vor Weihnachten gab es einen sogenannten Transparenzhinweis: „Richter Sonn war von April 2013 bis einschließlich September 2016 bei der Rechtsanwaltskanzlei Gleiss Lutz als Rechtsanwalt tätig. Dabei war er unter anderem mit Mandaten der Beklagten befasst, allerdings ausschließlich im Kartellrecht sowie im gewerblichen Rechtsschutz. Mit den streitgegenständlichen Sachverhalten hatte er keine Berührungspunkte“, heißt es in einer Verfügung des Landgerichts vom 10. Dezember 2019.

Eine Sprecherin des Landgerichts sagte auf Nachfrage, solch aufklärende Hinweise seien nichts Ungewöhnliches, sondern „ständige Praxis“. Aus Sicht der Klägeranwälte ist der Transparenzhinweis dagegen nichts wert. „Zivilprozessrechtlich ist ein solcher Hinweis nicht vorgesehen. Er entbehrt daher nicht nur einer rechtlichen Grundlage, sondern ist vielmehr sinnbefreit“, schreibt Anwalt Sebastian Schlote.

Dessen Kanzlei Gansel ist im Dieselskandal eine der aktivsten an der Seite von Verbrauchern und in Tausenden Dieselklagen gegen VW und Daimler tätig. In Sachen Sonn fährt sie nun schwere Geschütze auf. Sie geht gegen den Richter auch noch mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde vor und hat sich in zwei Schreiben an den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann und das Präsidium des Landgerichts Stuttgart gewandt.

Anwalt Schlote sieht in der Bestellung Sonns ein rechtswidriges Handeln zugunsten der Automobilindustrie und ein Vorgehen, das das „Potenzial für einen bundesweiten Justizskandal“ birgt. Er wirft Sonn vor, seine frühere Arbeit für Gleiss Lutz und die Verbindung zu Daimler nicht selbst angezeigt zu haben. Zudem gebe es im bisherigen Agieren Sonns Hinweise auf dessen Voreingenommenheit. So habe Sonn schon mehrere angesetzte Verhandlungstermine in Verfahren gegen Daimler wieder aufgehoben und in einer ganzen Reihe von Verfahren zugunsten des Autobauers entschieden.

Sonn wehrt sich gegen die Vorwürfe: Mandate, in denen er bei Gleiss für Daimler tätig gewesen sei, hätten keine Diesel-Abschalttechnologien zum Inhalt gehabt. Auch darüber hinaus habe es keine Überschneidungen zu Inhalten gegeben, die die aktuellen Auseinandersetzungen betreffen, teilte er in einer schriftlichen Stellungnahme mit, die das Landgericht Stuttgart den Verbraucheranwälten zukommen ließ. Gleiss wiederum verweist auf Nachfrage zu einer möglichen Befangenheit an das Landgericht Stuttgart.

Sonn will zudem an Mandaten, die Absprachen der Automobilhersteller über Abgastechnologien betrafen, nicht beteiligt gewesen sein. In allen von ihm geführten Verfahren, in denen Gleiss mandatiert ist, habe er einen Hinweis auf seine frühere Tätigkeit erteilt. In keinem Fall sei er von den Parteien abgelehnt worden.

Die Gegenseite überzeugt er damit nicht. Schlote spricht von „Nebelkerzen“. Insbesondere dem Hinweis Sonns, er habe erst im September 2019 davon erfahren, dass seine ehemalige Kanzlei Gleiss in Dieselklagen durch Daimler mandatiert sei, schenkt er keinen Glauben.

Für Schlote sprechen schon die nackten Zahlen dagegen. Allein im ersten Halbjahr 2019 seien beim Landgericht Stuttgart mehr als 1 100 Klagen gegen Daimler eingereicht worden. Dass Anwalt Sonn erst ein Quartal später von der Beteiligung von Gleiss Lutz erfahren haben will, hält Schlote schlicht für „lebensfremd“.