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Von der Schülerin, Ex-Journalistin bis hin zum Regierungsmitglied: So leben Menschen unter dem Tabliban-Regime ein Jahr nach Abzug der westlichen Truppen

US-amerikanische Soldaten bewachen eine Absperrung am internationalen Flughafen in Kabul, in Afghanistan am 16. August 2021. Dort versuchten Tausende Afghanen das Rollfeld zu stürmen, um mit den US-Maschinen aus dem Land zu gelangen. - Copyright: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Shekib Rahmani
US-amerikanische Soldaten bewachen eine Absperrung am internationalen Flughafen in Kabul, in Afghanistan am 16. August 2021. Dort versuchten Tausende Afghanen das Rollfeld zu stürmen, um mit den US-Maschinen aus dem Land zu gelangen. - Copyright: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Shekib Rahmani

Das Datum 15. August 2021 bleibt nicht nur wegen des Endes der westlichen Militärpräsenz in Afghanistan und dem Sturz der dortigen Regierung von Aschraf Ghani (Anm. d. Red.: ehemaliger Präsident von Afghanistan) in Erinnerung. Für viele Afghanen bedeutet der Tag auch das Ende einer Zeit der Hoffnung, die in Afghanistan nach 2001 aufgekeimt war – insbesondere bei der jungen Generation im Land.

Um die Realität vor Ort zurzeit zu verstehen, habe ich mit Dutzenden Menschen aus verschiedenen Teilen der Gesellschaft gesprochen. Mit Ausnahme von offiziellen Vertretern der Taliban zogen alle eine bittere Bilanz. Alle Gesprächspartner berichteten, dass sie große Verzweiflung empfänden und einer ungewissen Zukunft entgegensähen. Ich erinnere mich, dass mir ein alter Mann aus dem Norden des Landes sagte, das Leben sei nicht mehr bunt. Er zeichnete ein Bild Afghanistans in schwarz und weiß.

Ein Talibankämpfer bewacht den alten Markt im Zentrum der Stadt Kabul.
Ein Talibankämpfer bewacht den alten Markt im Zentrum der Stadt Kabul.

Als Erstes unterhielt ich mit Ajmal Aryamal, einem 25-jährigen Mann, der einst Chef der Wahlbeschwerdekommission Afghanistans war, einer Institution, die mit dem Einmarsch der Taliban aufgelöst wurde. Denn es werden keine Wahlen mehr stattfinden. Ajmal reiste am 12. Dezember 2021 mit einem Militärflugzeug nach Russland und floh dann weiter über Belarus und Polen nach Deutschland. Mittlerweile lebt er in Hessen. Ajmal sagte, die alptraumhaften Erinnerungen an den Tag, als die Regierung gestürzt wurde, verfolgten ihn noch immer. „Ich versuche mir einzureden, dass ich noch jung bin und einen Neuanfang machen sollte, aber ich kann es nicht“, erzählte er.

Ex-Beamter: „Wir leben in einem Gefängnis ohne Fenster“

Ajmals Geschichte ist kein Einzelfall. Eher ist es die Geschichte Millionen junger Afghanen, die ihre Arbeit und sogar ihre Bestimmung verloren haben. Als ich mit anderen Beamten aus der ehemaligen Ghani-Regierung sprach, die von den Taliban entlassen wurden und sich heute in Kabul aufhalten, zeichneten sie ein noch düsteres und traurigeres Bild ihres Heimatlandes. Da ist zum Beispiel Ghafar, er sagte: „Wir leben in einem Gefängnis ohne jedes Fenster.“ Als ich ihn nach seinen Hoffnungen für die Zukunft fragte, sagte er mit heiserer Stimme: „Die Gegenwart ist für mich unsicher und die Zukunft sieht noch unsicherer aus.“

Die wirtschaftliche Lage ist desolat

Um die wirtschaftliche Lage in dem Land seit Beginn der Taliban-Herrschaft zu verstehen, sprach ich mit Menschen in der Provinz Balkh. Sie galt einst als wichtiges Wirtschaftszentrum, mit dem Hafen von Hairatan, der an der Grenze zu Usbekistan liegt.

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Fawad (Name geändert), ein Textilhändler, der bis vor einem Jahr in der Stadt Mazar-e-Sharif arbeitete, hat mittlerweile sein Geschäft geschlossen. Einst ein leidenschaftlicher Händler, leidet unter der aktuellen Situation: "Nach der Herrschaft der Taliban hat alles aufgehört. Die Menschen haben heute erst im Sinn, einen Bissen Brot für sich und ihre Kinder zu erwirtschaften, als sich neue Kleidung zu kaufen", sagte er und fügte an, dass die Armut alles beherrsche und er Frustration spüre. „Die derzeitige Situation ist das Ergebnis eines ungeeinten Volkes, machtbesessener Politiker und der internationalen Gemeinschaft, die Afghanistan in die Hände einer barbarischen Gruppe übergeben hat“, sagte er weiter.

Die Armut ist überall in den Straßen offensichtlich

Aber die allgegenwärtige der Armut geht viel weiter: Das Heer der Bettler in den Städten erzählt traurige Geschichten. Niemand, nicht einmal die Taliban, kann ihre Existenz verbergen. Dazu habe ich mit einem Mann in der westlichen Provinz Ghor gesprochen, mit Akbar. Er erzählte mir, dass das Leben für ihn wegen der Armut zur Hölle geworden sei. Vor der Machtübernahme der Taliban habe er als Bauarbeiter seinen Lebensunterhalt bestritten. Heute gebe es für ihn keine Arbeit mehr auf dem Bau: "Für mich hat mit der Herrschaft der Taliban nicht nur die Arbeit, sondern auch das Leben aufgehört", sagte er.

Viel schmerzhafter sei jedoch, dass die Armut ihn gezwungen habe, seine fünfjährige Tochter Zainab zu verkaufen. Als ich ihn fragte, wie er sich mit dieser Entscheidung fühle, brach er in Tränen aus und sagte: „Jemand musste geopfert werden, um das Überleben vieler anderer zu sichern.“ Akbar und seine Familie essen nur einmal am Tag. Ihr Schicksal ist beispielhaft für das Leben vieler unter der Taliban-Herrschaft.

Mädchen wurden herausgerissen aus den Schulen

Aber die Taliban-Herrscher haben sich nicht die grassierende Armut im Land zuzuschreiben. Ein großer Teil der Gesellschaft, die afghanischen Mädchen, hat seitdem keinen Zugang mehr zu schulischer Bildung. Ich sprach etwa mit Shaima (Name geändert), einem Mädchen, das vor dem Einmarsch der Taliban die zehnte Klasse einer Schule in Kabul besuchte. Sie erzählte, dass die Schließung ihrer Schule ihr psychisch stark zusetze. Seitdem beginne jeder ihrer Tage mit Hoffnungslosigkeit, sagte Shaima.

Shaima sagte, es sei erbärmlich, dass ihnen im 21. Jahrhundert ein absolutes Grundrecht verwehrt werde, nämlich das Recht auf Bildung. Die junge Frau war nicht nur tieftraurig darüber, sondern manchmal auch wütend: "Was für einen Islam predigen die Taliban, wenn sie ihre eigenen Töchter in Katar, Pakistan und den Vereinigten Arabischen Emiraten zum Studieren schicken. Aber hier im Land verwehren sie uns den Eintritt durch die Schultore", sagte sie zornig.

Benachteiligung von Frauen ist allgegenwärtig

Doch der Kummer der Frauen in Afghanistan reicht viel weiter: Sie wurden aus ihren Anstellungen entlassen, sie haben ihre Freiheit verloren, und diejenigen, die ihre eigenen Geschäfte hatten, mussten ihre Arbeit aufgeben und bleiben nun zuhause. Das betrifft auch Journalistinnen. Sie leben heute zum Teil im Exil und Armut in Pakistan, einige leben seit des Zusammenbruchs der afghanischen Medienwelt zuhause und leiden unter Arbeitslosigkeit und damit einhergehender Armut.

Ich habe dazu mit Jamila (Name geändert) gesprochen. Sie ist eine 25-jährige Journalistin und der 15. August 2021 markiere den bittersten und schwärzesten Tag ihres Lebens, erzählte sie mir. Sie ist inzwischen arbeitslos und sagte, dass aufgrund der finanziellen Probleme seit Beginn der Taliban-Herrschaft auch das Medienunternehmen, in dem sie arbeitete, bankrott gegangen sei. Vor vier Monaten habe sie geheiratet, wolle ihrer Familie aber nicht länger auf der Tasche liegen und müsse wieder arbeiten gehen. „Die Situation ist sehr schwierig, es ist wirklich schwierig“, sagte sie.

Jamila fügte hinzu, dass sie jeden Tag entmutigt und verzweifelt beginne. Sie glaube, dass die Situation im Land zu psychischen Erkrankungen führe und jeden Einwohner von innen heraus zerstöre. „Wenn die Taliban weitermachen, wird die Welt Zeuge eines bankrotten Landes und einer psychotischen Nation. Von Tag zu Tag stirbt ein weiterer Teil von uns, obwohl wir eigentlich alle schon verloren sind“, sagte die ehemalige Journalistin.

Die politischen Machthaber umgehen die Gesetze im Land

Die Berichte meiner Gesprächspartner decken sich. Nur einer beurteilte die Situation anders, ein hochrangiger Diplomat der Taliban. Er befindet sich gerade auf einer Mission in einem der Nachbarländer Afghanistans. Er möchte namentlich nicht genannt werden, erzählte aber, dass die Besatzung beendet sei, das Gesetz der Scharia eingeführt worden und die wirtschaftliche Lage im Land günstig geworden sei.

Als ich ihn allerdings auf die aktuellen Probleme im Land ansprach, antwortete er, diese seien das Ergebnis der Korruption der Vorgängerregierung. Ich fragte diesen ranghohen Taliban: „Wo steht in der Scharia das Verbot der Bildung von Mädchen festgeschrieben?“ Die islamische Scharia verbiete nichts dergleichen, aber die Bedingungen müssten günstig sein, entgegnete er.

Seine eigene Tochter studiere hingegen in dem Land, in dem er sich aktuell auf Mission befinde. Und so erzählte er mir weiter, dass seine Tochter dort eine Mädchenschule besuche und in einem Auto mit anderen jungen Frauen dorthin gebracht werde. Als ich ihn fragte, ob auch der Fahrer des Wagens eine Frau sei, lachte er und sagte: "Er ist ein alter Mann." Als ich ihn auf die anhaltende Armut und Tyrannenherrschaft ansprach, sagte er, dieses Bild entspreche nicht der Realität. Der Taliban-Vertreter behauptete sogar: "Das ist alles nur Propaganda der westlichen Medien und der säkularen Afghanen."

In den vierzig Minuten, die ich mit einem der ranghöchsten Diplomaten der Taliban sprechen durfte, wurde deutlich, dass die Grundbedürfnisse der afghanischen Bevölkerung, die Schaffung einer Regierung, die im Land akzeptiert und gleichzeitig auf der ganzen Welt anerkannt wird, noch in sehr ferner Zukunft liegen. Zumindest, solange die Taliban an der Macht sind. Dazu passen die letzten Worte von Jamila, der Journalistin, die heute nicht mehr arbeiten darf: „Wir werden einer nach dem anderen sterben, obwohl wir innerlich schon tot sind.“